Der vierte Faktor
Wolfgang Müller-Michaelis
Die klassische Einteilung der Produktionsfaktoren in Arbeit, Boden und Kapital berücksichtigt die Energie nur als Bestandteil des Kapitals. Wie einige in jüngster Zeit veröffentlichte Arbeiten zeigen, ist die längst fällige Revision dieses Schemas keineswegs nur von theoretischer Bedeutung. Umfassende Analysen des Produktionsfaktors Energie vermögen auch neue Ansatzpunkte für eine rationale Energiepolitik zu liefern.Ein Überblick über die weltwirtschaftliche Entwicklung der letzten 150 Jahre zeigt, daß sich die Bildung der großen ökonomischen Kraftfelder in den einzelnen Wirtschaftsräumen nach genau dem gleichen Modell vollzogen hat, das dem einleitenden Industrialisierungsprozeß Westeuropas an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zugrunde lag: Die industriellen Kerngebiete entstanden stets durch den Aufbau einer Eisen- und Stahlindustrie, die fortan zur entscheidenden Komponente der industriellen Produktion wurde.
Der Aufbau einer Eisen- und Stahlindustrie setzte die Verfügbarkeit sowohl von Erz- als auch von Kohlevorkommen voraus, so daß mit dieser Bedingung die Chance der einzelnen Wirtschaftsräume, in die industrielle Entwicklung einzutreten, determiniert war. Die Eisen- und Stahlindustrie lag ursprünglich sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland auf kleinen örtlichen Erzlagern mit Holzkohlebetrieb, hat sich dann aber mit dem Übergang zum Koksbetrieb auf den großen Lagern gut verkokbarer Kohle konzentriert und erst auf dieser Grundlage den eigentlichen Industrialisierungsprozeß in Gang gesetzt, so daß die industrielle Revolution ihren ersten Impuls gerade durch den Einsatz neuer Energieträger erhalten hat.
Die geographische Ausbreitung des Industrialisierungsprozesses erfolgte von den zuerst nutzbar gemachten Kohlenlagerstätten Mittelenglands über diejenigen Nordfrankreichs, Südbelgiens, Lothringens, des Saar- und des Ruhrgebiets bis zu jenen Oberschlesiens, auf denen sehr schnell industrielle Ballungszentren entstanden, die in Verbindung mit der - durch den ebenfalls energiewirtschaftlichen Fortschritt der Dampferzeugung ermöglichten - Entwicklung des Verkehrswesens (Eisenbahn, Schiffahrt) den alten Industrieländern bis zum ersten Weltkrieg eine wirtschaftliche und politische Vormachtstellung in der Welt sichern halfen. Als zuvor wichtigster Energieträger wurde das Holz durch die Kohle nahezu völlig verdrängt. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wiederholte sich dieser Prozeß in den USA und in Japan, nach dem ersten Weltkrieg in der Sowjetunion und nach dem zweiten Weltkrieg in der Volksrepublik China.
Von dieser ursprünglichen Verzahnung des beginnenden Industrialisierungsprozesses mit dem erstmals umfassenden Einsatz des Energieträgers Kohle ausgehend, ist der weitere Prozeß der industriellen Entwicklung stets eine Funktion der Verwendung neuer primärer und sekundärer Energieträger geblieben. War die einseitige Ausrichtung des Energiebedarfs auf die Kohle während des Hochkapitalismus mit starken Agglomerationen in den Gebieten der Kohlelagerstätten verbunden, die zu sehr ungleichgewichtiger Verteilung der Produktion im Wirtschaftsraum führten, hat der Obergang zum Einsatz neuer primärer und sekundärer Energieträger eine stetige Entballung der räumlichen Wirtschaftsstruktur herbeigeführt. Sowohl der Einsatz neuer Primärenergieträger als auch der technische Fortschritt in der Umwandlung von Primär- in Sekundärenergie hatten zur Folge, daß der Produktionsfaktor Energie in zunehmendem Maße ubiquitär wurde. Durch diese räumlich gleichmäßige Verfügbarkeit der Energie wurde - worauf EDGAR SALIN schon 1928 hingewiesen hat - in steigendem Maße die Industrialisierung auch jener Randregionen möglich, die in großer Entfernung von den ursprünglich kohleorientierten Standorten der Kernregion lagen. Das kommt neben den Verbundsystemen der Elektrizitäts- und Gaswirtschaft in neuerer Zeit besonders im umfassenden Ausbau einer flexiblen Versorgungsstruktur im Mineralölsektor zum Ausdruck.
Im Zuge dieser Entwicklung wurde aber nicht nur die vormals bestehende räumliche Bindung der Energieversorgung zusehends aufgelöst, es wurden gleichzeitig neue Verwendungszwecke erschlossen und neue Bedürfnisse geweckt und auf diese Weise vielfältige Impulse für industrielle Wachstumsprozesse ausgelöst. Bei diesem Übergang von der überkommenen starren in eine flexible und effizientere Energieversorgungsstruktur hat im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte das Mineralöl eine besondere Stellung erlangt. Denn während der Ausbau der Verbundwirtschaft im Elektrizitäts- und Gassektor vornehmlich auf Kern- und kernnahe Regionen begrenzt blieb, war es dem Mineralöl vorbehalten, über seine schnell wachsende Bedeutung für die Energieversorgung der hochindustrialisierten Volkswirtschaften hinaus die Funktion eines natürlichen Entwicklungshelfers in den Randregionen der Weltwirtschaft, den Entwicklungsländern, zu übernehmen.
Das zeigt sich deutlich, wenn man den regionalen Zuwachs des Weltenergieverbrauchs in den eineinhalb Jahrzehnten von 1950-1965 betrachtet. Obgleich die drei weltwirtschaftlichen Kraftfelder Nordamerika, Westeuropa und die Sowjetunion - deren industrieller Entwicklungsprozeß auf der Kohle begann und die nun zunehmend auf die Kohlenwasserstoffenergien Mineralöl und Naturgas übergehen - ihren Energieverbrauch in diesem Zeitraum um 70 v.H. ausdehnten, ist ihr Anteil am Weltenergieverbrauch von 88 v. H. (1950) auf 72 v.H. (1965) zurückgegangen.
Demgegenüber haben die weniger entwickelten Regionen, deren Industrialisierungsansätze maßgeblich dem Mineralöl zu verdanken sind, ihren Anteil im selben Zeitraum erheblich von 12 auf 28 v.H. ausweiten können. Dieser Anteilzuwachs ist jedoch nicht nur ein interessanter Indikator des industriellen "Nachholbedarfs" der Entwicklungsländer Er ist gleichzeitig ein Ausdruck dafür, daß der Energiebedarf in den industrialisierten Volkswirtschaften im Zuge sowohl des Einsatzes effizienterer Energieträger als auch des durch technischen Fortschritt bedingten rückläufigen spezifischen Energieverbrauchs geringere Zuwachsraten aufweist.
So spiegelt sich im energiewirtschaftlichen Substitutionsprozeß und im differenzierten Energieverbrauchswachstum auf weltweiter Ebene die unauflösbare Interdependenz zwischen Energie und Wachstum, zwischen gesamtwirtschaftlicher und energiewirtschaftlicher Entwicklung wider. Sie ist letzten Endes darauf zurückzuführen, daß jeder Produktionsakt unmittelbar auf die Bereitstellung von Energie angewiesen ist.
Wenn man danach fragt, inwieweit diese wechselseitige Abhängigkeit zwischen Energieeinsatz und industriellem Wachstum durch die wirtschaftswissenschaftliche Forschung reflektiert wurde, kommt man zu einer erstaunlichen Feststellung: In den einschlägigen Theorien zur wirtschaftlichen Entwicklung wird dieser aufgezeigte Zusammenhang kaum behandelt, obgleich die relative Bedeutung des Produktionsfaktors Energie für das wirtschaftliche Wachstum ständig zugenommen hat. Diese Nichtbeachtung des Produktionsfaktors Energie dürfte im wesentlichen darauf zurückzuführen sein, daß die modernen Entwicklungs- und Wachstumstheorien mit makroökonomischen Größen arbeiten, die sich an die klassische Einteilung der Produktionsfaktoren in Arbeit, Boden und Kapital anlehnen. Der Produktionsfaktor Energie gilt hier als Bestandteil des Produktionsfaktors Kapital. Von dieser begrifflichen Einschließung ausgehend ist der Industrialisierungsprozeß durch einen im Verhältnis zum Arbeitskräfte- und Bodeneinsatz zusätzlichen und zunehmend überwiegenden Sachkapitaleinsatz, insbesondere in Form von Maschinen, Motoren, Retorten zuzüglich der komplementären thermischen und mechanischen Energien gekennzeichnet (s. Klatt: "zur Theorie der Industrialisierung", Köln u. Opladen 1959).
Daß diese Komplexität den volkswirtschaftlichen Kapitalbegriff in seiner Funktion als Erklärungsvariable des Industrialisierungs- und Wachstumsprozesses stark schwächt, ist offenbar; denn zumindest wird durch sie verdeckt, daß die Auslösung des Industrialisierungsprozesses primär durch die Substitution der natürlichen (menschlichen wie tierischen) Arbeitsenergie durch produzierte Energieträger erfolgte und der "zusätzliche und zunehmend überwiegende" Einsatz produzierter Produktionsmittel in Form von Maschinen eine Auswirkung dieses originären Substitutionsprozesses ist.
Die Blendwirkung, die die aus der älteren Nationalökonomie übernommene Einteilung der Produktionsfaktoren in Arbeit, Boden und Kapital für die moderne Wirtschaftswissenschaft behalten hat, stellt aus dieser Sicht eine methodologische Einengung dar, die zunehmend dazu beitragen dürfte, die vollständige Erfassung des volkswirtschaftlichen Erkenntnisobjektes zu behindern.
Geht man davon aus, daß als volkswirtschaftliche Produktionsfaktoren alle diejenigen Kräfte bezeichnet werden, ohne deren Einsatz keine ökonomische Leistung erbracht werden könnte, erscheint es angemessen, die produzierten Energieträger als eigenständigen Produktionsfaktor zu betrachten. Eine derartige Ausgliederung der Energie aus dem volkswirtschaftlichen Kapitalbegriff ergäbe eine Aufteilung der den volkswirtschaftlichen Entwicklungsprozeß tragenden Faktoren, die der theoretischen Analyse neue "Angriffsflächen" erschließen dürfte.
Daß bisher in nur ungenügendem Maße Art und Intensität der wechselseitigen Beziehungen zwischen Energie- und Gesamtwirtschaft untersucht wurde, schlägt sich heute sehr deutlich im Mangel an rationalen energiepolitischen Zielsetzungen in den meisten der westeuropäischen Volkswirtschaften nieder. Damit stellt sich der Wirtschaftswissenschaft in diesem Bereich eine wichtige Aufgabe. Denn im Hinblick auf die sowohl sektorale als auch faktorale Bedeutung der Energiewirtschaft kann ein bestimmter Kurs der Energiepolitik sinnvollerweise erst dann festgelegt werden, wenn die Bedeutung des Produktionsfaktors Energie für die volkswirtschaftliche Leistung genügend geklärt ist.
Insbesondere ein Aspekt ist in diesem Zusammenhang zu wenig beachtet worden: Über die in quantitativer Hinsicht ausreichende und gleichmäßige Verfügbarkeit der Energie hinaus hat für die ökonomischen Wachstumsprozesse in den einzelnen Wirtschaftsräumen auch die qualitative Seite - der Kostenfaktor - eine wesentliche Rolle gespielt. Für die wirtschaftliche Entwicklung beispielsweise der USA hat u. a. MASON diesen bedeutsamen Zusammenhang hervorgehoben: "Undoubtedly the rapid expansion of energy supplies at low costs has much to do with explaining the economic growth of the United States during this period (1900 bis 1950)" (E. S Mason: "Economic growth and energy consumption", .in: The Economics of Nuclear Power Vol. 1, London 1956, S. 70).
Demgegenüber wurde in Westeuropa noch bis vor wenigen Jahren dieser qualitative Aspekt der Energieverfügbarkeit für die industrielle Entwicklung einer Volkswirtschaft oder eines Wirtschaftsraumes gering eingeschätzt - ein entscheidender Grund dafür, daß der längst überfällige Anpassungsprozeß an die energiewirtschaftliche Bedarfsstruktur hochindustrialisierter Volkswirtschaften im westeuropäischen Kerngebiet noch heute in so starkem Maße im Mittelpunkt der strukturpolitischen Bemühungen steht.
Erst in jüngster Zeit ist der Weg für eine rationale Energiepolitik auch in Europa durch Untersuchungen über die Bedeutung der Energiekosten für die Wettbewerbsfähigkeit der westeuropäischen Industrien und damit für die Gewährleistung deren langfristiger Wachstumsentwicklung geebnet worden.
Nachdem die deutsche BP 1963 mit einer Untersuchung über "Energiepreise und Energiekosten in der Bundesrepublik" an die Öffentlichkeit getreten war, sind im vergangenen Jahr zwei weitere Arbeiten zu diesem Thema vorgelegt worden, deren eine von der EWG-Kommission ("Der wirtschaftliche Einfluß des Energiepreises"), deren andere von der deutschen Bundesregierung (TH. WESSELS : "Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Energiekosten") in Auftrag gegeben wurden.
Diese Untersuchungen bestätigen durch exakte Analysen, was zuvor nur auf Grund allgemeiner Erkenntnisse zugänglich war und was sich als Ergebnis auch in der jüngsten, Anfang 1967 erschienenen Studie der deutschen BP zu diesem Thema ("Industrielle Energiekosten, Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum") niederschlägt: Mit dem Einsatz billiger Energie ist die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften und damit das stetige Wachstum ihrer industriellen Produktionen eng verknüpft.
Wenn die Energiesachverständigen der Europäischen Gemeinschaften, die sich seit nunmehr zehn Jahren darum bemühen, die Grundzüge für eine zukünftige europäische Energiepolitik zu erarbeiten, bisher nur begrenzt auf Vorarbeiten der Wirtschaftswissenschaften zurückgreifen konnten, dürften mit diesen Untersuchungen neue Ansatzpunkte geschaffen worden sein.
erschienen in: BP Kurier, XIX. Jg., 1967, H. II, S. 4 ff.