Kommt die Energiekrise?
Wolfgang Müller-Michaelis
Krisenhafte Zuspitzungen im Wirtschafts- und Gesellschaftsleben der Völker der westlichen Welt bis "point of no return", von dem ab es zu gefährlichen Entladungen in Form von Hunger, Leid und Tod kommt, lassen sich in der neueren Geschichte an den Fingern einer Hand abzählen. Die europäische Agrarkrise in den dreißiger Jahren mit ihren massiven Auswanderungsbewegungen nach Nord- und Südamerika gehört ebenso dazu wie der Zusammenbruch des liberalen Welthandels im Ersten Weltkrieg. Das Mißlingen, diesen Zusammenbruch zu konsolidieren, hatte die Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre zur Folge. Auch der Zweite Weltkrieg mündete - unabhängig von seinen politischen und militärischen Dimensionen - in eine vorübergehende Zerstörung der Weltwirtschaft ein.Seither ist die westliche Welt über nun fast drei Jahrzehnte von krisenhaften Einbrüchen umfassender Art verschont geblieben. Sind die in jüngster Zeit auftretenden Schwierigkeiten im Weltwährungssystem und in der Energieversorgung das Wetterleuchten vor dem Zusammenbrauen eines neuen Ungewitters?
Nachdem es mit einigen Anstrengungen gelungen zu sein scheint, an der internationalen Währungsfront vorerst wieder Ruhe zu schaffen, konzentriert sich das Interesse für neuralgische Punkte auf die zukünftige Energieversorgungslage der westlichen Welt. Dabei muß die Frage nach ausreichender Ressourcen-Verfügbarkeit zur Abdeckung des mit weiterhin starkem Wirtschaftswachstum einhergehenden Energiebedarfs in einen komplexeren Zusammenhang gestellt werden, als dies in der weltweit entbrannten Diskussion bisher geschieht.
Energie im volkswirtschaftlichen Sinne ist die Zusammenfassung aller aus der Natur entnommenen energetischen Rohstoffe, die entweder in natürlicher Form oder nach Umwandlung (in Kraftwerken, Raffinerien, Kokereien, Hochöfen, Heizwerken usw.) energetischen Verwendungszwecken wie Kraft, Licht und Wärme zugeführt werden. Diese energetischen Rohstoffe finden sich in der Energiebilanz eines jeden Landes - allerdings in zum Teil unterschiedlicher Zusammensetzung - wieder. Es sind dies Kohle, Mineralöl, Naturgas, Wasserkraft und seit geraumer Zeit auch die Atomenergie. Diese Energieträger werden, da sie alle in unterschiedlichen physikalischen Dimensionen gemessen werden, zu Additions- und Vergleichszwecken üblicherweise auf den Wärmewert der Steinkohle - auf die Steinkohleneinheit SKE umgerechnet.
Der Weltenergiebedarf des letzten Jahres erreichte die Größenordnung von rd. 8 Milliarden Tonnen SKE. Davon entfielen auf: Mineralöl 46 %, Kohle 30 %, Naturgas 17 %, Wasserkraft 6 %, Atomenergie unter 1 %.
Der Energiebedarf der Bundesrepublik Deutschland beträgt mit über 350 Millionen Tonnen SKE rund 5 % des Weltenergiebedarfs. Die entsprechende Aufteilung des Bedarfs auf die einzelnen Energieträger für die BRD lautet: Mineralöl 55 %, Kohle (Stein- und Braunkohle) 33 %, Naturgas 9 %, Wasserkraft 2 %, Atomenergie knapp 1 %.
Dabei fällt der Anteil des Öls besonders ins Auge. Sein starker Anteilszuwachs am gesamten Energiebedarf - besonders ausgeprägt in den westeuropäischen Volkswirtschaften während der letzten zwei Jahrzehnte - ist seinem Kostenvorsprung gegenüber der europäischen Steinkohle zuzuschreiben, der auch in Zukunft in etwa bestehen bleiben wird. Denn preissteigernde Einflüsse auf seiten der Ölwirtschaft werden von einer, wenn auch auf andere Gründe zurückzuführende Verteuerung des Kohleangebots begleitet.
Für die Ölwirtschaft gilt in noch stärkerem Maße als die gesamte Energiewirtschaft, daß sich in diesem Bereich Ökonomie, Naturwissenschaft und technischer Fortschritt, Politik und hochgradige Internationalität zu einem einzigartigen Wirkungszusammenhang verbinden, der es nicht zuläßt, nur einen Aspekt isoliert zu betrachten, wenn man die Frage nach langfristig ausreichender Energieverfügbarkeit hinreichend exakt beantworten will. Zu berücksichtigen gilt es insbesondere, daß die Gewichte von Energiebedarf und Energieverfügbarkeit weltweit sehr unterschiedlich verteilt sind - und daß sich an dieser Gewichtsverteilung in der gegenwärtig und absehbar anhaltenden Phase der Bedarfsdeckung auf Basis fossiler Brennstoffe keine grundlegenden Veränderungen ergeben werden.
Der Weltenergiebedarf konzentriert sich zu 80 % auf jene vier weltwirtschaftlichen Kernregionen (USA, Westeuropa., UdSSR mit Osteuropa und Japan), in denen insgesamt nur 30 % der Weltbevölkerung leben. Von der energiewirtschaftlichen Ressourcenausstattung her waren bisher nur Osteuropa und die USA in der Lage, ihren Bedarf selbst zu decken. Die Sowjetunion wird wie bisher auch in Zukunft Überschußgebiet bleiben, während die USA mehr und mehr in eine Importabhängigkeit (im Bereich von Mineralöl und Naturgas) hineingeraten. Den traditionellen Defizitregionen Westeuropa und Japan sowie den neuerdings in diese Lage hineinwachsenden USA stehen die traditionellen Überschußgebiete des Nahen Ostens, Afrikas und in begrenztem Umfang auch Südamerikas gegenüber.
Eine Umverteilung dieser regionalen Überschuß- und Defizitregionen wird erst dann eintreten, wenn etwa ab Mitte der 80er Jahre dieses Jahrhunderts die technologische Entwicklung der Atomenergie jenen Reifegrad erlangt haben wird, der es diesem Energieträger dann gestattet, mit starken Anteilszuwächsen die Last der Energieversorgung mehr und mehr auf sich auszurichten. So gesehen stellt sich die Frage nach der weltweiten Verfügbarkeit fossiler Energierohstoffe für eine zeitlich limitierte Phase. Und insoweit hat auch die M.I.T -Studie "Grenzen des Wachstums" nicht berücksichtigt, daß bei aller Notwendigkeit des Aufzeigens der Begrenztheit natürlicher Ressourcen der technische Fortschritt gerade in der Energiewirtschaft die Chance einer Umkehrung der pessimistischen Vision weg von den Grenzen des Wachstums und hin zum Wachstum der Grenzen in sich birgt.
Immerhin bleibt es von Interesse, diese Zwischenphase bis hin zu den aufbrechenden "New Frontiers" zu untersuchen. Denn der Weltenergieverbrauch wird sich, ausgehend von der Basis des gegenwärtigen Bedarfs von jährlich rund 8 Milliarden Tonnen SKE bis zum Jahre 2000 auf mindestens 24 Milliarden Tonnen SKE verdreifachen.
Stehen für diese Deckung dieses Bedarfsanstiegs ausreichende Energiereserven zur Verfügung?
Die negative Antwort der M.I.T.-Studie fällt zeitlich mit spektakulären Vorgängen in der Welt-Energiewirtschaft zusammen, die insbesondere durch ihre untereinander wirkenden Kumulierungseffekte zum Auslösen der Krisendiskussion beigetragen haben:
So einschneidend diese weltweit wirkenden Vorgänge für die zukünftige Energieversorgung der Industrieländer der westlichen Welt sein mögen, sie sind dennoch nur ein Teil der "story", die hier zu erzählen ist. Denn unabhängig von diesen eine Tendenzverlagerung des Weltenergiemarktes anzeigenden Ereignissen wird die langfristig ausreichende Energieverfügbarkeit sowohl weltweit als auch auf Westeuropa und die Bundesrepublik Deutschland bezogen durch ein Bündel von sechs Einflußfaktoren bestimmt, von denen die Faktoren 1 bis 3 von grundlegender Bedeutung sind, weil sie die Daten für die physischen und technologischen Verfügbarkeitsrahmen setzen:
Zeigt diese Aufzählung einerseits die Komplexität der Abhängigkeiten, an die eine ausreichende Energieverfügbarkeit gebunden ist, kommt doch andererseits zum Ausdruck, daß es nicht allein auf die Rohstoff-Ressourcen, sondern auch auf von den Verbraucherländern beeinflußbare Aktionsbereiche, wie Kapitalbeschaffung und Investitionen, nicht unwesentlich ankommt.
Engt man die Fragestellung nach einer ausreichenden Energieverfügbarkeit auf Geologie und technischen Fortschritt ein, kann von krisenhafter Zuspitzung der Versorgungslage nicht gesprochen werden. Einem Reservepotential fossiler Energierohstoffe (Kohle, Öl, Gas) in Höhe von etwa 9000 Milliarden Tonnen SKE steht ein hochgerechneter Welt-Energiebedarf für den Zeitraum 1971 bis 2000 von rund 430 Milliarden Tonnen SKE gegenüber. Wir verbrauchen demnach auf der Welt bis zum Jahre 2000 etwa 5 % des geologischen Energieressourcen-Potentials. Bei der Berechnung dieses Reservepotentials blieben Braunkohle, Wasserkraft und Atomenergie unberücksichtigt. Rechnet man allein den Welt-Vorrat an sicheren und wahrscheinlichen Uran- und Thorium-Konzentraten hinzu, ergibt sich ein zusätzliches Reservepolster von umgerechnet 17 000 Milliarden Tonnen SKE.
Allein auf das Öl bezogen ergibt sich folgende Gegenüberstellung: Sicheren und wahrscheinlichen Ölreserven sowie Vorräten an Ölsanden und -schiefern in Höhe von rund 850 Milliarden Öltonnen (untere Schätzung) steht ein hochgerechneter Welt-Verbrauch für den Zeitraum 1971 bis 2000 in Höhe von 160 Milliarden Tonnen gegenüber. Dies ist eine gewaltige Größenordnung, wenn man sie mit der Menge des in der bisherigen Wirtschaftsgeschichte insgesamt verbrauchten Mineralöls vergleicht, die nur einem Viertel dieses zuwachsenden Bedarfs - rund 40 Milliarden Tonnen - entspricht.
Zur Erschließung der den Zuwachsbedarf abdeckenden Reserven werden immer intensivere Anstrengungen notwendig. Zu den bisher gesicherten Reserven müssen dem Schoß der Erde in On- und Offshore-Gebieten bis zur Jahrtausendwende 50 "neue Alaska" abgerungen werden. Auch wenn diese Ressourcen "geologisch vorhanden" sind, heißt der Schlüssel für ihre wirtschaftliche Nutzbarmachung "Kapitalinvestitionen" mit schnell und stark steigenden Zuwachsraten. Bei diesen Bedarfs-Reserve-Vergleichen gilt es zu berücksichtigen, daß sich über das Jahr 2000 hinaus im Zuge des technischen Fortschritts bereits heute neue Formen der Energiegewinnung, wie beispielsweise Wasserstoff-Energie (Kernfusion), Solarenergie und Erdwärme, abzeichnen, deren Energiepotential bisher nicht zu quantifizieren ist. Ergänzend zeichnen sich auch auf der Energienachfrageseite in Industrie, Verkehr und Haushalt neue Technologien für Energie-Einsparungen ab, die es um einer langfristig ausgeglichenen Versorgungslage willen stärker als bisher gilt, in den Mittelpunkt anwendungstechnischer Überlegungen zu rücken.
Wie die Energiewirtschaft allgemein einem durch Veränderung der Preisrelationen und des technischen Fortschritts bestimmten Strukturwandel unterworfen ist, gilt dies in verschärftem Maße und in gedrängterer Zeitfolge für den darin einbeschlossenen Bereich der Atomenergiewirtschaft. Dieser Strukturwandel hat bereits bis heute, wo der Beitrag der Atomenergie zur Energiebedarfsdeckung erst bei unter einem Prozent liegt, zur Erprobung zweier Generationen von Reaktortypen geführt. Den Schwerwasser-, Leichtwasser- und Gasgraphit-Reaktoren werden Hochtemperaturreaktoren und ihnen wieder die Schnellen Brüter, die Reaktoren der 3. Generation, folgen. Sie alle, die auf dem gemeinsamen Prinzip der Kernspaltung beruhen, werden schließlich von einer noch höheren Entwicklungsstufe, der kontrollierten Kernfusion, abgelöst werden. Der Einsatz der kontrollierten Kernfusion würde theoretisch die Beseitigung jeglicher Grenzen der Energieverfügbarkeit sprengen.
Es gibt gegenwärtig rund 100 Atomkraftwerke auf der Welt, deren Beitrag zur gesamten Elektrizitätserzeugung allerdings erst 2,8 % erreicht. Ohne auf die technischen Details der Entwicklungen und Probleme bei den einzelnen Reaktortypen und den Stand der Forschung der kontrollierten Kernfusion einzugehen, sollen abschließend einige Prognosedaten über die langfristigen Tendenzen des Beitrages der Atomenergie zur Weltenergiewirtschaft dargestellt werden. Ausgehend vom Basisjahr 1972, in dem weltweit eine Kraftwerkskapazität im Bereich der Nuklearenergie von 35 500 MW bestand, könnte sich bis 1980 eine Ausweitung dieser Kapazität auf fast das Neunfache (über 300 000 MW) ergeben. Bis zum Jahre 2000 wird aus heutiger Sicht eine Kraftwerkskapazität auf Atomenergiebasis von rund 1 700 000 MW erreichbar sein. Gemessen an den Prognosen des langfristigen Weltenergiebedarfs würde dies bedeuten, daß die Atomenergie ihren Anteil am Weltenergieverbrauch von unter 1 % im Jahr 1972 auf etwa 8 % im Jahr 1980 und annähernd 30 % im Jahr 2000 erhöhen könnte. Der Beitrag der Atomenergie zur Elektrizitätserzeugung würde von 2,8 % im Jahre 1972 über 16 % im Jahre 1980 auf rund 50 % im Jahre 2000 ansteigen können.
Das Fazit dieser rein geologischen und technologischen Verfügbarkeitsbetrachtung lautet, daß zwar die Energievorkommen dieser Welt begrenzt sind, jedoch die Endlichkeit sowohl der geologischen Ressourcen als auch des technischen Fortschritts in der Gewinnung neuer Energievorkommen Dimensionen erreicht, die gemessen an den Bedarfsprognosen für die überschaubare Zukunft keine physische Erschöpfung erwarten lassen. Die zu bewältigenden Probleme liegen demnach einerseits darin, das "politische Klima" im Verhältnis zwischen den verbrauchsarmen und reservestarken Regionen des Nahen Ostens und Nordafrikas und den verbrauchsstarken und bisher noch reservearmen industriellen Kernregionen soweit zu stabilisieren, daß ernsthafte Störungen des Welthandels im Energiebereich ausgeschlossen bleiben. Andererseits kommt es im Interesse einer langfristig ausreichenden Energiebedarfsdeckung aber vor allem darauf an, daß in den großen Industrieländern der stark wachsende Kapitalbedarf für die erforderlichen Investitionen aufgebracht wird, was letztlich nur über ausreichende und stabile Erlöse der energiewirtschaftlichen Unternehmen möglich ist. Ausreichend hohe und stabile Energiepreise sind daher bei allen Unsicherheiten und Abhängigkeiten, die für die Energieversorgung charakteristisch sind, die sicherste Gewähr für eine Verhinderung krisenhafter Versorgungslagen. Dazu gehört auch, daß der bedarfsgerechte Ausbau der energiewirtschaftlichen Infrastruktur in den Verbraucherländern keinen Behinderungen durch überzogene Umweltschutzanforderungen ausgesetzt wird. Ob in Europa eines Tages die Lichter ausgehen werden, ob wir die Autos in Garagen stehen lassen müssen und ob wir kalten und ungemütlichen Zeiten entgegengehen oder nicht, das ist in sehr viel stärkerem Maße von unseren eigenen Entscheidungen abhängig, als uns dies bisher bewußt ist.
erschienen in: BP Kurier, XXV. Jg., H. II/III, 1973, S. 34 f.