Die Rolle der Burschenschaft bei der Herausbildung des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates
Festrede anläßlich der Feier zum 190-jährigen Gedenken
der Völkerschlacht von Leipzig
Wolfgang Müller-Michaelis (Alte Rostocker Burschenschaft Obotritia)
Ich habe die ehrenvolle Aufgabe, diese Festrede zu halten, umso freudiger übernommen, als ich damit zugleich als Vertreter der Vorsitzenden Burschenschaft der DB Gelegenheit erhalte, vor Leipziger Studenten zu sprechen. Das ist nicht erst seit Goethes Faust, sondern zu allen Zeiten eine besondere Herausforderung gewesen. Vor zehn Jahren, 1993, war ich, in der unmittelbaren Nachwendezeit als Aufbauhelfer in Sachsen tätig, eingeladen, ebenfalls in urburschenschaftlichen Gefilden eine Festrede zu halten, damals anläßlich der ersten Afba-Tagung in den neuen Bundesländern nach dem Fall der Berliner Mauer. Zu meiner großen Freude fand dieses Ereignis damals in Jena statt. Das seither vergangene Jahrzehnt umspannt für die meisten der wieder nach Mitteldeutschland zurückgekehrten Bünder einen Erfahrungszeitraum, der lang genug ist, um eine Zwischenbilanz zu ziehen: zu fragen, ob sich die damalige Entscheidung als richtig erwiesen hat; und ob sich die Erwartungen erfüllt haben, die an die seinerzeitige Entscheidung geknüpft wurden.
Für die Rostocker Obotriten kann ich diese Frage mit einem vollen Ja beantworten. Für die drei Leipziger Bünder glaube ich, dies nach den erhaltenen Informationen ebenfalls sagen zu dürfen; zu meiner Freude auch über unseren Freundschaftsbund Normannia Leipzig, an dessen Wiederbegründungskommers im Jahr 1992 ich die Ehre hatte, teilnehmen zu dürfen. Im Unterschied zu den Leipziger Burschenschaften haben wir Rostocker Obotriten ein eher jugendliches Alter vorzuweisen. Es wäre aber falsch, dies auf eine weniger weit zurückreichende akademische Tradition bei uns im kalten Nordosten zurückzuführen. Die Rostocker Universität gehört mit 584 Jahren zu den ältesten Deutschlands und, wie unsere Archive belegen, war von einer Rostocker Burschenschaft schon eine Generation vor der Gründung der Jenaer Burschenschaft 1815 die Rede. Sie hatte indessen mit der Obotritia Rostock nichts gemein, die erst hundert Jahre später das Licht der akademischen Welt erblicken sollte.
Wer sich mit der Geschichte der Burschenschaft und der einzelnen Bünder näher beschäftigt, bekommt intimere Einblicke in historische Verläufe, als dies bei allgemeiner Geschichtsbetrachtung möglich ist. Nehmen wir zum Beispiel Obotritia Rostock. Unser Bund konnte in diesem Jahr das 120. Stiftungsfest begehen. Für unsere mecklenburgischen Bundesbrüder, die schließlich vom Gründungsort Rostock her den tragenden Teil unserer Mitgliedschaft ausmachten, existierte der Bund aber nicht 120 Jahre, sondern nur genau die Hälfte, nämlich 60 Jahre. Während der vier Jahre des Ersten Weltkrieges und seit der Schließung in Rostock 1935 bis zur Wiederbegründung 1991, d.h. über zwei Generationen oder 56 Jahre (!) war den mecklenburgischen Obotriten ihr eigener Bund verschlossen geblieben.
Auf die 300 Jahre Nationalgeschichte vom Dreißigjährigen Krieg bis Zweiten Weltkrieg übertragen, ergibt sich für die Deutschen insgesamt zwar keine prozentual gleich große "nationale" Auszeit. Aber wir kommen doch auf Ausfallzeiten durch Kriege, Revolutionen und Besatzungszeiten von insgesamt 100 Jahren, was einem Drittel unserer neueren Geschichte entspricht: Dreißigjähriger Krieg, Siebenjähriger Krieg, Napoleonischer Krieg und Befreiungskriege, Revolution 1848/49, Preußisch-Österreichischer Krieg 1866, Deutsch-Französischer Krieg 1870/71, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg. Fazit: Die Deutschen sind, auch durch unsere Mittellage bedingt, durch die Zeiten hindurch ein mit Krieg und Besatzung immer wieder gepeinigtes Volk gewesen. Bis zum Zweiten Weltkrieg sind diese Kriege Auseinandersetzungen der Europäer untereinander gewesen, die von den jeweils herrschenden Mächten immer wieder genutzt wurden, das "Land der Mitte" zum Spielball ihrer Interessen zu machen. Im Dreißigjährigen Krieg des siebzehnten Jahrhunderts findet dieser Aspekt in besonderer Weise Ausdruck. "Das ist nicht des Deutschen Größe, obzusiegen mit dem Schwert" hat daher unser großer Dichter Friedrich von Schiller dieses Lebensgefühl der Deutschen ein Jahrhundert später auf den Punkt gebracht. Statt dessen macht er in urburschenschaftlicher Gesinnungsethik Luthers Reformation zum Fixpunkt der wahren Bestimmung Deutschlands: "Freiheit der Vernunft erfechten, heißt für alle Völker rechten, gilt für alle ewge Zeit."
Infolge dessen sind die Deutschen über weite Strecken ihrer Geschichte kein Tätervolk gewesen, das über andere Völker herfällt, um sie zu beherrschen. Die Eroberer der Welt, die auszogen, andere Völker zu unterwerfen und Kolonialreiche zu errichten, sind andere Nationen gewesen. Im Nationalcharakter der deutschen Stämme ist über die Jahrhunderte hinweg mehr der Streit untereinander als der geschlossene Feldzug gegen die Nachbarn verankert gewesen. Ihr Interesse galt eher der Entwicklung handwerklicher Fertigkeiten, der Wissenschaft, der Kunst und Kultur und der Philosophie, weniger der Kriegskunst. Dieses Nationalverständnis, das uns ziemt, es aus den Trümmern der Geschichte wieder ans Licht unseres Bewußtseins zu heben, wird von Heroen des Geistes repräsentiert, die die Welt nicht mit Feuer und Schwert überzogen, sondern mit unvergänglichen Werten und geistigen Werken bedacht haben: Luther und Gutenberg, Schiller und Goethe, Bach, Beethoven und Wagner, Kant und Heidegger, Heisenberg und Einstein. Sie alle sind es, die in der Tradition der einen großen Kulturnation Deutschland stehen. Sie und nicht Hitler, Himmler oder Goebbels, wie dies eine durchsichtige Reduktionspädagogik nach dem Zusammenbruch im Zweiten Weltkrieg wahrhaben wollte, um auf diese Weise die Verbrechen des Nazi-Regimes dem Deutschen Volk als Kollektivschuld anzulasten.
So sehr die Deutschen Verantwortung zu tragen haben für die Verbrechen, die in ihrem Namen über andere Völker gebracht wurden, so wenig sind ihnen die schuldhaften Taten des diktatorischen Regimes zuzuschreiben, das sie beherrschte. Mit dem "Heiligen Deutschland", das Claus v. Stauffenberg in seiner Todessekunde beschwor, war sicher nicht das Hitler-Regime gemeint, dessen Schergen ihn erschossen, sondern jene deutsche Kulturnation, die diesem genauso wie alle anderen, deren Vernichtung es betrieb, zum Opfer fiel.
Ich habe diesen zugegeben etwas längeren Anlauf zu meinem eigentlichen Thema genommen, um Sie und mich besser in die Bewußtseinslage unserer jugendlichen burschenschaftlichen Ahnen hineinversetzen zu können. Was hat sie dazu gebracht, für von uns Heutige als selbstverständlich erachtete Werte wie Recht und Freiheit einzutreten, dabei aber etwas zu tun, was für unsere heutige Zeit kaum mehr vorstellbar ist, nämlich dafür Leib und Leben zu riskieren.
Welch gewaltiger moralischer Impuls muß unsere Kommilitonen vor 200 Jahren beflügelt haben, in ihren Semesterferien zu Fuß von Leipzig und Jena zur pommerschen Insel Rügen und von dort aus wieder zurückzuwandern, um sich von Ernst Moritz Arndt geistigen Zuspruch für ihren Freiheitskampf zu holen! Nicht nur Zeiten, auch Welten liegen zwischen dieser inneren Zuwendung zur res publica einerseits und der indolenten Haltung andererseits, die ein Großteil der deutschen Jugend heute zu den Problemen des eigenen Landes einnimmt.
Der Grund dafür liegt auf der Hand. Der militärische, wirtschaftliche und geistige Zusammenbruch Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg war so tiefgreifend, daß die Besatzungsmächte keine Mühe hatten, mit der politischen Hoheit auch die Beherrschung des geistigen Lebens im geschlagenen Land für sich zu beanspruchen. Dieser Herrschaftswille fand auch Ausdruck in geistiger Umerziehung. Ihr lag die Vorstellung zugrunde, die deutsche Geschichte sei schon immer auf unheilvolle Entwicklungen angelegt gewesen. Um diesen Auswüchsen ein für allemal einen Riegel vorzuschieben, sollten die geistigen Wurzeln dieser Irrwege zerstört und durch andere Leitbilder ersetzt werden. So wie es der französische Polititologe Alfred Grosser dieser Tage am Beispiel des Völkerschlachtdenkmals 60 Jahre nach dem Krieg noch immer zu tun versucht. Grosser ist der Auffassung, daß es gar keine Völkerschlacht gegeben habe; auch seien keine Deutschen beteiligt gewesen, sondern nur Preußen und einige Sachsen, und die seien Verräter gewesen.
Diesem geistigen Desinformationskonzept ist auch die Behauptung zuzuschreiben, die Besatzungsmächte hätten 1945 erstmalig die Demokratie nach Deutschland gebracht. Diese These möchte ich vor dem Hintergrund einiger Eckdaten der burschenschaftlichen Geschichte, zu denen die Völkerschlacht von Leipzig gehört, kritisch beleuchten. Zwar hat mit der Deutschen Revolution von 1848 die Demokratie im heute verstandenen Sinne hierzulande keinen Einzug gehalten, zumal die Revolution selbst in ihren unmittelbaren Wirkungen eher begrenzt war und im Sinne der hehren Ideen ihrer Verfechter bald wieder von der Tagesordnung der Geschichte verschwinden sollte. Dennoch gilt 1848 als Meilenstein der deutschen und europäischen Demokratiegeschichte. Warum? Die Ereignisse von 1848/49 sind ein Glied in der Entwicklungskette historischer Verläufe, die auf schrittweise Lösung der Menschen aus fürstlichen, standesherrlichen und religiösen Vormundschaften und Beherrschungen gerichtet waren. Dazu gehören die mittelalterlichen Bauernkriege genauso wie die Reformation Martin Luthers am Beginn des 16. Jahrhunderts.
Das Wartburgfest der Burschenschaften ist nicht zufällig 1817 begangen worden. Als historisches Bezugsdatum wurde bewußt das 300jährige Jubiläum der Lutherschen Reformation von 1517 gewählt. Die Festlegung des Datums war daneben dem zweiten großen Befreiungsereignis, dem 4. Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig am 17./18. Oktober 1813 mit dem Sieg über Napoleon und damit dem Ende der französischen Besatzungszeit gewidmet.
Weder die 48er Revolution noch das anschließend einberufene Paulskirchenparlament in Frankfurt/Main sind ohne den nationalen Aufschwung nach der siegreichen Völkerschlacht und ohne das geistige Fanal der Wartburgfeier denkbar. Die Leipziger Völkerschlacht von 1813, die Gründung der Jenaer Burschenschaft 1815, die Wartburgfeier von 1817, das Hambacher Fest von 1832 und das Paulskirchenparlament von 1848 stehen in einer gemeinsamen Tradition und in einem engen historischen Zusammenhang. Sie sind Eckpfeiler burschenschaftlicher Geschichte.
Es muß als Armutszeugnis der geistigen Verfassung des zeitgenössischen Deutschland betrachtet werden, daß bei der 150-Jahr-Feier des politischen Liberalismus zu Ehren des Paulskirchenparlaments das eigentliche Geburtstagskind, die liberale deutsche Studentenbewegung, nicht eingeladen war - die sich auf Luther berufende, aktiv an den Befreiungskriegen gegen Napoleon teilnehmende und die Grundrechte des deutschen liberalen Verfassungsstaates erstmalig 1817 auf der Wartburg proklamierende Deutsche Burschenschaft! Dieser beschämende Zustand ist sicher auf verbreitete Unwissenheit über die geschichtlichen Zusammenhänge, aber wohl auch auf bewußte Verdrängung dieser historischen Wurzeln zurückzuführen. Wo ist heute noch bekannt, daß der Sieg über das französische Besatzungsregime auch ein Gemeinschaftswerk demokratisch gesinnter Reformer wie Stein und Hardenberg, moderner Militärführer wie Scharnhorst, Yorck und Gneisenau sowie einer begeisterten studentischen Jugend war, die im Geiste ihrer Lehrer Herder, Fichte, Ernst Moritz Arndt und Jahn ihr Leben für die Befreiung ihres Vaterlandes einzusetzen bereit war. Die Volkserhebung wurde gemeinsam von Hochschullehrern, hohen preußischen Beamten, Militärs und Studenten organisiert. Es sei daran erinnert, daß von Stein und von Yorck die Volksbewaffnung in Ostpreußen 1812, also ein Jahr vor der Völkerschlacht, durchführten. Aus allen deutschen Landen, auch aus Mecklenburg und Pommern, strömten Kriegsfreiwillige, allen voran die studentische Jugend, nach Breslau, um im Lützowschen Freikorps dabei zu sein. Die Farben der Militärkleidung dieses Freikorps mit einem einfachen schwarzen Rock, roten Aufschlägen und goldenen Knöpfen sollten später zu den Nationalfarben des liberalen und demokratisch verfaßten Deutschland werden.
Selbst der wankelmütige preußische König Friedrich Wilhelm III. hatte einen lichten Moment, als er sich mit dem Landwehrgesetz vom 17. März 1813 gegen Napoleon erklärte und damit die Volkserhebung quasi von oben legitimierte. Alle, die 1813 nach Breslau zusammenströmten und damit den Grund nicht nur für den Sieg über Napoleon sondern auch für das eine Generation spätere Geschehen von 1848 legten, sind von der Idee der Befreiung von Fremdherrschaft, der Einheit der Deutschen und der Durchsetzung demokratischer Grundrechte getragen gewesen.
Wer die Berichte aus jener Epoche nachliest, kann die Begeisterung nachempfinden, mit der sich vor allem junge Leute der Idee eines geeinten und freien Deutschland verschrieben hatten. Eine besondere Tragik dieser Aufbruchzeit war, daß der Dichter, der die damaligen Geschehnisse in seiner Ballade "Von Leier und Schwert" am eindrucksvollsten in Worte faßte, der Dresdner Theodor Körner, noch im selben Jahr 1813 im Nahkampf mit Franzosen im vorpommerschen Gadebusch, also in unmittelbarer geographischer Nachbarschaft von Rostock, fiel. Nur in Paranthese sei angemerkt, daß Friedrich von Schiller im Dresdner Vaterhaus Theodor Körners das wohl schönste Gedicht deutscher Sprache, die Ode an die Freude, schrieb, die später von Ludwig van Beethoven in dessen Neunter Sinfonie vertont wurde, die sich bis heute globaler Anerkennung als Symbol und Ausdruck höchster Menschheitsideale erfreut. Neben der Idee der äußeren Freiheit, der Befreiung von Fremdherrschaft, war der Geist der inneren Bürgerfreiheit, das Eintreten für den Schutz des Einzelnen vor fürstlicher Willkür durch aufgeklärte Staatsmänner, wie die im Dienste des preußischen Königs stehenden Freiherren von Stein und von Hardenberg schon früh zu politischer Wirkung gelangt. Ihre Ideen gründeten in der Vorstellung von einer modernen Staatsverfassung, in der vom Bürger Selbständigkeit, Verantwortungsbereitschaft und Vaterlandsliebe gefordert wird. Damit der Bürger diese Tugenden dienend üben konnte, mußten ihm nach Steins Überzeugung die bürgerlichen Grundfreiheiten gewährt werden: Die Lösung der Berufswahl von den Standesschranken, so daß auch Bürger adligen oder bäuerlichen Grundbesitz erwerben und umgekehrt Adlige und Bauern städtische Berufe ergreifen konnten; die Beendigung der Leibeigenschaft der Bauern, auch wenn materielle Verpflichtungen gegen den Grundherrn als dingliche Lasten bestehen blieben; Einführung der Städteordnung mit Schaffung der Grundlagen einer modernen Kommunalverwaltung; die Bürger wählten Stadtverordnete, diese den Magistrat (zu ähnlichen Verfassungsreformen kommt es in England, dem Mutterland der Demokratie, erst im Laufe des 20. Jahrhunderts); Einführung der Gewerbefreiheit, Ablösung der Zünfte und 1812 am Vorabend der Völkerschlacht die Judenemanzipation - ein Füllhorn demokratischer Reformen, die Alfred Grosser mit einer historisch weichenstellenden Einordnung des Völkerschlachtdenkmals in Verbindung bringen könnte, wenn ihm wirklich daran gelegen wäre.
Als der aus Mecklenburg stammende Student Heinrich Arminius Riemann die Zielsetzung der Burschenschaft in den 35 "Grundsätzen zur Wartburgfeier" zusammenfaßte: Nationale Einheit und konstitutionelle Freiheit, Verfassung und nationale Repräsentation gegen Partikular- und Polizeitstaat und gegen die feudale Herrschaft, für Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und Religionsfreiheit, war ihm sicher nicht bewußt, daß er damit einen frühen Beitrag zur deutschen und europäischen Verfassungsgeschiche leistete. Diese Grundsätze der Wartburgfeier gehörten praktisch zum Roh- und Quellenmaterial, das in die Verhandlungen des Paulskirchenparlaments 1848 zur Ausarbeitung einer modernen Verfassung des Deutschen Bundes einging. Zwar hat der Historiker Lothar Gall in einem Gedenkartikel in der FAZ vom 18. Mai 1998 darauf hingewiesen, daß mit den Verfassungsgrundsätzen von 1848 die Grundlage für ein modernes liberales Gemeinwesen gelegt wurde. Er führte aus, daß das meiste dessen, was die Nationalversammlung im Dezember 1848 unter dem Titel "Die Grundrechte des deutschen Volkes" endgültig verabschiedete und was dann Teil der Reichsverfassung vom März 1849 wurde, oft wörtlich Eingang in die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland von 1949 fand. Allerdings unterließ es der Historiker in politischer Korrektheit, auf die Quellen des 1848er Materials, die auf 1817 und damit auf die Burschenschaft zurückgehen, zu verweisen.
Die Einberufung des Paulskirchenparlaments war das wichtigste Zugeständnis, das die Fürsten des Deutschen Bundes nach den Märzunruhen in Berlin und in vielen anderen deutschen Residenzstädten machen mußten, um dem Bürgerwillen nach Gewährung freiheitlicher Grundrechte und Verbesserung der sozialen Verhältnisse Genüge zu tun. In Dresden zum Beispiel gab es ähnlich wie in Berlin Barrikadenkämpfe. Selbst Richard Wagner griff in der Wilsdruffer Straße als Zugehöriger der Aufständischen gegen die königlichen Regimenter zur Waffe. In Berlin ging es so hoch her, daß der wegen seines schneidigen Vorgehens als "Kartätschenprinz" benannte Kronprinz, der spätere Kaiser Wilhelm I., zeitweilig nach London flüchten mußte, wo auch ein politischer Antipode, Karl Marx, Zuflucht genommen hatte. Karl Marx hatte von London aus ein Jahr zuvor, 1847, mit seinem Kommunistischen Manifest für geistiges Futter zunächst im deutschen Revolutionsjahr 1848 später mit tragischer weltrevolutionärer Wirkung gesorgt.
In dem Umstand, daß von den 568 Abgeordneten des Paulskirchenparlaments 160 Burschenschafter waren, ist die geistige Verbindungslinie zwischen dieser Manifestation des deutschen Liberalismus und der Wartburgproklamation von 1817 dokumentiert. Für die burschenschaftliche Bewegung aber war die Rückkehr zur Fürstenherrschaft nach dem Wiener Kongreß ein herber Rückschlag. Bedenkt man aus heutiger Sicht die Härte der Fürstengewalt, mit der die freiheitlichen Bestrebungen zunichte gemacht wurden, erscheint es fast wie ein Wunder, daß es die Deutsche Burschenschaft heute noch gibt und sie auf eine stolze 190jährige Geschichte zurückblicken kann. Das Verbot der Burschenschaft und die sog. "Demagogenverfolgung", die mit den Karlsbader Beschlüssen nach der Ermordung August von Kotzebues durch den Burschenschafter Karl Ludwig Sand einsetzte, war ein tragischer Triumph von Fürstenmacht über Bürgerfreiheit. Kotzebue hatte praktisch als "Stasi-Spitzel" der Frühzeit den russischen Hof mit Berichten über die aufmüpfigen Studenten an den deutschen Universitäten versorgt und in der damaligen Presse die Ideale der Burschenschaft mit Hohn und Spott überzogen. Erstmalig in der neueren Geschichte wurden Geheimdienste der europäischen Obrigkeiten koordinierend zur Bekämpfung innenpolitischer Opponenten eingesetzt, unter dem zielstrebigen Regiment des Fürsten Metternich. Der enge zeitgeschichtliche Zusammenhang zwischen 1817/ 1819 und 1848 kommt auch darin zum Ausdruck, daß die Karlsbader Beschlüsse bis 1848 immer wieder erneuert wurden. So nimmt es nicht wunder, daß bei den studentischen Demonstrationen, die 1848 auch in Wien stattfanden, eine der Hauptforderungen der Studenten an Kaiser Franz Joseph die Abberufung Metternichs war, der auch tatsächlich entlassen wurde, nachdem die liberale deutsche Opposition unter seiner Regie drei Jahrzehnte unterdrückt worden war. Immerhin ist die Entlassung Metternichs, ein, wenn auch magerer, so doch greifbarer Erfolg der 1848er Ereignisse. Burschenschafter in dieser Frühzeit zu sein hieß nicht wie heute, fröhliche Kommerse zu feiern. Das Bekenntnis zur Burschenschaft war eine Sache des konsequenten Eintretens für Freiheit, Demokratie und nationale Einheit. Für Freiheit von Fremdherrschaft und partikularer Fürsten-Obrigkeit. Dies zu tun erforderte persönlichen Mut und die Bereitschaft, ein Risiko für Leib und Leben einzugehen. Die Zugehörigkeit zur Burschenschaft wurde als Hochverrat verfolgt. Mehrfach wurde die Todesstrafe verhängt, 150mal lebenslange Haftstrafen, mehrhundertfach langjährige Freiheitsstrafen.
Unser mecklenburgischer Verbandsbruder Fritz Reuter hat in seiner Schrift "Ut mine Festungstid" aus dieser Zeit berichtet. Mit einem Anflug von Sarkasmus könnte man meinen, daß offenbar Unterdrückung und Verfolgung zur wichtigsten Konstante der burschenschaftlichen Geschichte gehören. Ob unter der restaurierten europäischen Fürstenherrschaft nach dem Wiener Kongreß im frühen 19. Jahrhundert oder unter den Besatzungsmächten nach dem Zweiten Weltkrieg Mitte des 20. Jahrhunderts oder unter dem Regiment des Zeitgeistes im modernen Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts - der beargwöhnte Feind der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnungen ist durchgehend die Burschenschaft geblieben, auch wenn sie es war, die mit dem Verfechten ihrer frühen Ideale die geistigen Fundamente für die heute von allen als selbstverständlich in Anspruch genommenen bürgerlichen Freiheitsrechte legte! Während in Wien im vollen Selbstverständnis der Geschichte die österreichischen Mitgliedsbünder der Deutschen Burschenschaft vor fünf Jahren zur 1848er Gedenkveranstaltung in die Hofburg geladen wurden, hat es der deutsche Bundespräsident in der Frankfurter Paulskirche in seiner Festrede für richtig befunden, die Burschenschaft nicht mit einem Wort zu erwähnen, geschweige denn, sie zum Festakt einzuladen. Für die "zeitgeistige" Verfassung im heutigen Deutschland dürfte bezeichnend sein, daß das vom Wiener Historiker Lothar Höbelt in seiner Festrede in der Hofburg im Angesicht von Politprominenz und sämtlicher chargierender österreichischer Burschenschaften gezogene Resumee von offizieller deutscher Seite wohl kaum in dieser Freimütigkeit formuliert werden würde. Professor Höbelt sagte, der Erfolg der Revolution, an dem Studenten, Bürger und Arbeiter beteiligt gewesen seien, bestand zwar nicht in der Machtübernahme durch die Aufständischen, aber immerhin im Sieg dreier Werte, die die Zeiten überdauert hätten: im Triumph ihrer Ideale, in der Ausformung liberaler Grundrechte sowie im Zusammengehörigkeitsgefühl aller Deutschen.
Als der amerikanische Präsident Bill Clinton anläßlich seines Staatsbesuchs in Deutschland im zeitlichen Umfeld des 1848er Jubiläums sinnigerweise der Wartburg einen Besuch abstattete, sah das deutsche Staatsprotokoll keinen Anlaß, auf die hochaktuellen Bezüge zwischen dem Freiheitskampf der Studenten im frühen 19. Jahrhundert und dem späten Erfolg dieser Bemühungen im Lande der Wartburg nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 hinzuweisen.
Bei entsprechend fachkundiger Vorbereitung durch das Weiße Haus hat der Präsident diese Unterlassung aber möglicherweise durchaus richtig einzuordnen gewußt, haben doch viele 48er, nachdem sie für die Verwirklichung ihrer Freiheitsideale in Deutschland keine Chance mehr sahen, ihr Lebenswerk in den Unabhängigkeitskriegen der Vereinigten Staaten mit Erfolg fortgesetzt. Dabei mag Bill Clinton der Unterschied zu den Verhältnissen in Old Germany auch heutzutage bewußt geworden sein. Denn die damals aus Deutschland geflüchteten Freiheitskämpfer werden jenseits des Atlantik bei den nationalen Gedenkfeiern dort bis auf den heutigen Tag nicht ausgeblendet. Man gedenkt ihrer mit Stolz und Anerkennung nach dem Motto: Ehre wem Ehre gebührt. Deutsche Burschenschaft im Spiegel von Zeitgeist und Geschichte:
"O alte Burschenherrlichkeit, wohin bist du entschwunden? Ich bin getürmt nach USA, hab' dort mein Glück gefunden!"
Meine Herren Burschenschafter, ich komme zum Schluß. Die Deutsche Burschenschaft sollte das Netzwerk ihrer Bünder an allen deutschen Universitäten stärker als bisher nutzen, diese Wahrheiten und Fakten über ihre eigene Geschichte unters Volk zu bringen. Darum bedauere ich es, daß heute abend keine Keilgäste an diesem Kommers teilnehmen. Wenn es schon andere nicht tun, so müssen wir selbst dafür sorgen, daß der Beitrag der Burschenschaft zur Herausbildung unserer modernen Rechtsgemeinschaft im Wissen unseres Volkes nicht länger ausgeblendet wird, sondern erhalten bleibt. Es darf auch nicht länger mit Verdächtigungen belegt sein, wenn wir mit dem Singen des Liedes der Deutschen und mit dem Gedenken des Opfertodes unserer Soldaten, der im Bombenterror getöteten Frauen und Kinder und der während der Vertreibung erschlagenen Landsleute unserer Nation die Ehre erweisen wollen. Das Denkmal gegen Vertreibungen gehört selbstverständlich nach Berlin, um in unserer Hauptstadt des Heimatverlustes von fünfzehn Millionen Deutschen, von denen 2,5 Millionen zu Tode kamen, auf angemessene Weise zu gedenken.
Als die Leipziger und Dresdner Bürger im Herbst 1989 bei ihren friedlichen Demonstrationen die schwarz-rot-goldenen Fahnen schwenkten und "Wir sind ein Volk" riefen, da war nicht die Errichtung eines neuen Reiches ihr Motiv, sondern ihnen ging es schlicht darum, des Schutzschildes der bürgerlichen Freiheitsrechte des Grundgesetzes teilhaftig zu werden. In diesem Sinne war der Deutsche Herbst von 1989 keine Wiedergeburt deutschen Großmachtstrebens, sondern ein später Triumph der Ideen der Urburschenschaft. Für uns sind es nicht die Feldherren, denen das Leipziger Völkerschlachtdenkmal gewidmet ist, sondern unsere Helden, die wir heute feiern, sind die mutigen Studenten, die vor 190 Jahren für die Durchsetzung der bürgerlichen Freiheitsrechte in den Kampf gezogen sind. Ihnen schulden wir einen späten Dank dafür, daß wir heute in Recht und Frieden und Freiheit leben dürfen.
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erschienen in: Burschenschaftliche Blätter, Internet-Addendum 2/2003
www.burschenschaftliche-blaetter.de