Buchbesprechung
Günther de Bruyns >Unter den Linden<
ein packendes Kaleidoskop deutscher Geschichte
Der Almanach lebt vom gemeinsamen Gedanken und Gespräch. Nach unserer Aufforderung zu Gedankenaustausch im Almanach I hat Dr. Wolfgang Müller-Michaelis die folgende Besprechung eines 2002 bei Siedler erschienenen Buches beigesteuert. Dessen Autor, Günter de Bruyn, bis 2000 Mitglied des Senats der Stiftung, erhielt zusammen mit Wolf Jobst Siedler den Nationalpreis 2002.
Wer das Buch in der Erwartung zur Hand nimmt, interessante Einblicke in die Berliner Stadtgeschichte zu erhalten, beendet die Lektüre um die Erfahrung eines originell aufbereiteten Schnellkurses in deutscher Nationalgeschichte bereichert.
So wenig spektakulär dem Geschichtskundigen das Nacherzählen der Fülle historischen Geschehens im Zentrum der deutschen Hauptstadt erscheinen mag, so verblüffend mutet das Ergebnis von de Bruyns literarischem Projekt an, in den anderthalb Kilometer langen >Linden<, wie die Berliner ihre Prachtstraße liebevoll nennen, eine der Hauptschlagadern der letzten dreihundert Jahre deutscher Geschichte entdeckt zu haben.
Würde man alle die Impulse in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst und Kultur ausblenden, die im Laufe der Zeiten von dem Quadratkilometer Berlins ausgingen, welcher die >Linden< mit ihren beidseitig gelegenen Gebäudekomplexen und Plätzen umschließt - die Neuzeit wäre nicht das, als was sie uns heute erscheint, im Guten wie im Bösen.
Der Autor artikuliert ein den kulturhistorisch interessierten Zeitgenossen bewegendes Phänomen: dass die Verwüstungen des letzten Krieges die >geistige Örtlichkeit< der Berliner Mitte genauso wenig zu zerstören vermochten, wie dies etwa für die Dresdner Altstadt oder die Hamburger Innenstadt gilt. Hierin ist auch sein Plädoyer für die Wiedererrichmng des Berliner Stadtschlosses begründet, das schon 250 Jahre vor Beginn der Preußenzeit dem Kurfürsten von Brandenburg als Residenz diente.
Die Entstehungsgeschichte der >Linden< führt indessen in eine jüngere Vergangenheit zurück.
Denn das Stadtschloss war schon einmal nach einem großen Krieg wiederaufzubauen. Das war Mitte des 17. Jahrhunderts nach dem Dreißigjährigen Krieg, als der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm vom brandenburgischen Kleve am Niederrhein aus den Wiederaufbau leitete. Seiner Frau zuliebe plante er einen Jagd- und Reitweg beginnend östlich am Schloss zum westlich gelegenen Tiergarten ein, dort, wo 140 Jahre später das Brandenburger Tor errichtet werden sollte.
Was im Laufe der Jahrhunderte auf der Nord- und Südseite dieser ursprünglich auf sechs, später auf vier Baumreihen reduzierten Lindenallee an Bauwerken entstehen sollte, von denen etliche ihren ursprünglichen Standort in ihren Grundfesten bis heute bewahrt haben, wer sie schuf und wer sie besaß, wer in ihnen wirkte und wer in ihnen lebte - das ist der faszinierende Inhalt dieses im Herbst 2 002 von Siedler in Berlin aufgelegten Buches.
Dem Rezensenten will es wie ein schöner symbolischer Dank für den Nationalpreis erscheinen, der dem Autor und seinem Verleger im Juni desselben Jahres in dem den >Linden< benachbarten Französischen Dom am Gendarmenmarkt verliehen worden war.
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erschienen in: Almanach des 'Verein zur Förderung der Deutschen Nationalstiftung' Ausgabe 3, April 2004