DEUTSCHE POLITIK IM SPANNUNGSFELD VON NATION UND EUROPA

Festrede auf dem Verbändekommers am 16. November 1993 im Festsaal der Handwerkskammer in Verbindung mit der 100-Jahr-Feier der Vereinigung Alter Burschenschafter Hamburg

Wolfgang Müller-Michaelis

Vier Jahre ist es her, seit im November 1989 in Berlin die Mauer fiel und dieser welthistorische Vorgang den Weg für die unerwartete Vereinigung Deutschlands ebnete. Einander widerstrebende Emotionen innen und außen haben das Ereignis des "Deutschen Herbstes" von 1989 von Anbeginn begleitet, und dies ist bis heute so geblieben.

In Kreisen des linken Parteienspektrums, der evangelischen Kirche und mancher jener Literaten, die im zeitgenössischen Kulturgewerbe tonangebend sind, wurde weniger Glücksgefühlen Ausdruck verliehen als vielmehr Betroffenheit artikuliert. Eine poetische Zeile aus der Feder jener Dichterfürsten, die für die deutsche Gegenwartsliteratur in der Welt stehen, die Dankbarkeit für die glückliche Fügung des Schicksals zum Ausdruck gebracht hätte, wurde nirgends vernommen. Bezeichnend für die nationale Innenbefindlichkeit jener Tage war, daß die treffendste Devise von einem "elder statesman" des Mitte-Links-Spektrums kam, aus der weniger Begeisterung als vielmehr Aufmunterung an die Widerstrebenden im eigenen Lager sprach: Willy Brandts berühmter Satz, jetzt müsse "zusammenwachsen was zusammengehört".

Was ist dieser wohlmeinenden Aufforderung nach exakt vier Jahren gegenüberzustellen?

Ich meine, es ist, wie wohl auch nicht anders zu erwarten war, ein eher widersprüchliches Resultat. Die Deutschen sind zu weiten Teilen nach der Vereinigung genauso wenig mit sich im reinen, wie sie es vorher waren. Die Nation ist auch nach dem Jahrhundertereignis der unverhofften Vereinigung ein umstrittener Wert geblieben. Es ist, als ob die plötzlich über uns hereingebrochene Einheit das Maß unserer Verstörtheit noch erhöht hätte. Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg faßte diese Beobachtung in den Satz: "Die Einheit ist den Deutschen nicht bloß in den Schoß, sie ist ihnen vor allem auf den Kopf gefallen".

Das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das kurzzeitig hüben wie drüben in emotionalen Aufwallungen und bewegenden Demonstrationen Ausdruck fand, wich schnell kleinlichem Streit um Zumutbarkeiten

Dazu EG-Kommissionspräsident Jaques Delors, ein Sympathisant der deutschen Vereinigung: "Wenn in Deutschland die Einheit im Herzen der Menschen bezweifelt und nur nach dem Preis der Einheit gefragt wird, können sich die Nachbarn in Europa über so viel Kleinmut nur wundern".

Das Fazit aus diesem Befund: Die deutschen Schlagzeilen werden eher vom Lamentieren über die Kosten des Vereinigungsprozesses als von der Freude über den Gewinn der geschenkten Einheit bestimmt

Symbolhaft für die hier zum Zuge kommende modische Versorgungsmentalität, die Gemeinschaftsverpflichtungen im Ideellen wie Materiellen abhold ist, ist die skandalöse Verzögerungstaktik, mit der das Bonner Polit-Establishment den Umzug der Bundesregierung in die Hauptstadt Berlin zu behindern trachtet.

Die Frage drängt sich auf: Verkörpert die Nation für die Deutschen noch jenen Wert, den er ganz offensichtlich für alle unsere europäischen Nachbarn, aber auch in Süd- und Nordamerika, in Asien und in der Dritten Welt ungebrochen darstellt?

Ist die Nation für uns noch Inbegriff politischer und kultureller Wertigkeit, die es lohnte, auch heute in Zeiten des Zusammenwachsens zu überstaatlichen Gemeinschaften bewahrt zu werden?

Offensichtlich gibt es zwei unterschiedliche Komplexe, die erklären, warum wir weder unser Problem mit der Nation noch mit Europa in einem gemeinsamen Ansatz zu lösen vermögen, der tragfähig genug wäre, um zukunftsweisend zu sein.

Der erste Komplex ist die ausgesprochene Ökonomie-Lastigkeit der bisherigen Europapolitik. Sie hat sich als nicht besonders geeignet erwiesen, die Begeisterungsfähigkeit der Jugend zu wecken. Das konnte man von Agrarpreis-Verordnungen und technischen Normungs-Richtlinien billigerweise auch kaum erwarten, so notwendig sie im engeren Sinne sein mögen.

Diese Ökonomie-Lastigkeit hat insbesondere die westdeutsche Innenpolitik in der gesamten Nachkriegsepoche so stark bestimmt, daß nach einem Wort von Kurt Biedenkopf in dieser Hinsicht auch der Westen Deutschlands teilungsgeschädigt sei: Denn die Reduktion der Politik auf die ökonomische Dimension, die sich in den letzten Jahrzehnten vollzog, habe - so Biedenkopf - "die Seele der Einheit" verfehlt.

Nationale Identität bedeutet daher in Deutschland in erster Linie Stolz auf die harte D-Mark, während das Nationalgefühl in Frankreich völlig losgelöst von Erwägungen wirtschaftlicher Art durch die "Gloire" der eigenen Geschichte bestimmt wird. Nicht anders ist es bei den meisten unserer anderen Nachbarn.

Der zweite, noch gewichtigere Komplex an Fehlsteuerung in der deutschen Europapolitik dürfte sein, die Europa-Idee zu stark substitutiv statt komplementär zur Idee der Nation gesehen zu haben.

Denn wenn der Verdacht zuträfe, daß die deutsche Politik Europa nur als neues Vehikel betrachtete, in dem nach Ausstieg aus der eigenen belasteten Nation bequeme Zuflucht zu finden wäre, hätte das harte Urteil durchaus seine Berechtigung. Der bayerische Ministerpräsident Stoiber hat jüngst daran erinnert, daß der junge Helmut Kohl zu einer Zeit aufgewachsen sei, wo es insgesamt oft als belastend empfunden wurde, Deutscher zu sein und viele Deutsche deshalb eine neue Identität gesucht hätten. Stoiber sagte in diesem Zusammenhang:

"Wir hofften, die damals geteilte deutsche Nation würde aufgehen in einer europäischen Nation, und wir würden uns damit auch entlasten von den geschichtlichen Verantwortlichkeiten".

Dieser Hinweis offenbart auch die psychologische Achillesferse der deutschen Nachkriegspolitik: Den totalen Schuldspruch der Sieger über den Besiegten zu unbesehen als sakrosankt angenommen und in der Konsequenz die Politik über Gebühr an den Kriterien von Gefälligkeit und Beliebigkeit, statt auch an denen eigener Interessen orientiert zu haben.

Das kardinale Versäumnis der deutschen Nachkriegspolitik war, die Selbstachtung nicht aufgebracht zu haben, zusammen mit der Verurteilung der tatsächlich Schuldigen die Kollektivschuld-These abzuweisen und die anteilige Mithaftung auch nicht-deutscher Verantwortlicher für die Europäische Tragödie einzufordern; eine Tragödie, die im übrigen, ohne dabei den übergroßen Anteil deutscher Schuld leugnen zu wollen, zu weniger einseitig-verzerrten Verurteilungen führen würde, wenn man sie mit Ernst Nolte in den Kontext des Dreißigjährigen Bürgerkrieges moderner Zeitrechnung von 1914 - 1945 stellen würde.

Eine schicksalsträchtige Fehlentwicklung ist mit dem Namen des Preußen-Königs Friedrich Wilhelm IV. verbunden, mit dessen Thronbesteigung 1840 sich viele Hoffnungen verbanden. Er ist am Ende nicht der geworden, als der er sich in ersten zaghaften Schritten zu geben versuchte: Ein auf Aussöhnung mit dem Volkswillen bedachter Monarch, der bei seinem Amtsantritt die politischen Häftlinge amnestierte, darunter Ernst Moritz Arndt und Turnvater Jahn, der die Demagogen von 1819 rehabilitierte und drei der Göttinger Sieben nach Preußen berief.

Hätte er diese Linie konsequent weiterverfolgt, die er mit dem zu vaterländischer Symbolik gestalteten Fest des katholischen Kölner Dombaus markierte, wo es ihm, dem protestantischen König Preußens darum ging, Fürsten und Stämme im "Brudersinn aller Deutschen" zu vereinen - dann wären der deutschen und der europäischen Geschichte möglicherweise anschließende, mit fortdauerndem Zeitablauf immer stärker eskalierende und schließlich ins totale Chaos mündende Entwicklungen erspart geblieben.

Friedrich Wilhelm IV. erwies sich jedoch in letzter Konsequenz als unfähig zum Identitätswandel vom monarchischen "Gottesgnadentum" zur konstitutionellen Monarchie, die ihre zeitgenössische Berufung darin hätte sehen können, einem demokratischen Verfassungsstaat urburschenschaftlicher Vorstellung zu präsidieren. Der weichenstellende historische Fehler des Königs war, was Thomas Nipperdey "das nicht erfüllte Verfassungsversprechen" nannte. Die Antwort des Königs auf vielfältiges öffentliches Einklagen des Versprechens der Obrigkeit von 1815 - dem Gründungsjahr der Urburschenschaft - zur Vollendung einer liberalen Verfassung war bezeichnend für seine schicksalhaft restaurative Einstellung, mit der er "auf Pergament geschriebene Staatsgrundsätze ablehnte, die sich zwischen Gott, König und Volk drängten."

Eine solche archaische Einstellung wäre schon eine Generation später dem Kaiser Friedrich III. nicht mehr eigen gewesen, hätte ihm das Schicksal denn gestattet, seine moderne Liberalität in Politik umzusetzen. Auch hier eine schicksalsträchtige Weichenstellung unserer Geschichte, da Friedrich seinen Vater Wilhelm I. nur um wenige Monate überlebte, bis ihn ein tückischer Kehlkopfkrebs hinweg raffte und seinen Sohn Wilhelm im berühmten Drei-Kaiser-Jahr 1888 zum nächsten und letzten deutschen Kaiser machen sollte.

Auch wenn Spekulation, befreiend ist die Vorstellung schon, welchen Weg die deutsche Geschichte ins 20. Jahrhundert unter einem weltoffenen, liberal gesinnten, konstitutionellen Monarchen Friedrich hätte nehmen können, der mit der Lieblingstochter Queen Victorias von England verheiratet war und unter dessen Regentschaft ein Eintritt Deutschlands in den Krieg kaum vorstellbar gewesen und der dann wohl auch kein Weltkrieg geworden wäre, wodurch uns wiederum der nächste deutsche Geschichts-GAU in Form des Versailler Vertrages sowie dessen historische Ausgeburt erspart geblieben wäre.

Die Rückbesinnung auf unsere Gesamt-Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen, mit ihren großen und weniger großen Königen und Kaisern, mit ihren Forschern und Ärzten, ihren Dichtern, Komponisten, Malern und Künstlern, mit ihren Heerführern, Unternehmern und Kaufleuten, mit ihren Philosophen, Lehrern und Geistlichen, mit ihren großen Frauengestalten, mit ihren Rittern, Handwerkern und Bauern, mit den faszinierenden Lebensleistungen einfacher Bürgerrinnen und Bürger zu allen Zeiten und in allen deutschen Landschaften, in Krieg und Frieden mag uns helfen.

Sie alle gemeinsam bilden das deutsche Kulturerbe, das diejenigen, die sich zur deutschen Nation bekennen, bereit sein sollten, mit Stolz in das gemeinsame Europäische Haus einzubringen.

Dabei ist der Streit um die Frage, ob ein zeitgemäßes Nationalbewußtsein mit dem Anstreben einer politischen europäischen Union vereinbar sei, doch eher künstlich. Das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zur Maastricht-Klage hat in dankenswerter Klarheit die Bedingtheit und Offenheit des weiteren europäischen Einigungsprozesses betont. So unabweisbar die im Verlauf des bisherigen europäischen Einigungswerkes erzielten Zwischenerfolge sind, so selbstverständlich wird es aus der Eigendynamik dieses Prozesses weitere Fortschritte beim Bau des Europäischen Hauses in der Zukunft geben.

Ausgehend davon, daß der Grundrechtskatalog unseres Grundgesetzes zu weiten Teilen der Wartburg-Proklamation der Urburschenschaft entlehnt ist (selbst Ehre, Freiheit, Vaterland haben hier ihren Niederschlag gefunden, wenn man Würde als eine moderne Übersetzung von Ehre versteht) und dieser Kernteil unserer Verfassung mit seinem Anspruch auf Allgemeingültigkeit als tragendes Element auch einer europäischen Verfassung gedacht werden könnte, ist auch der Nationen-Begriff der Urburschenschaft eher auf Öffnung gegenüber gleichgesinnten Nachbarn als auf Ausschließung und Abgrenzung gerichtet.

In der burschenschaftlichen Idee finden sich die Ideen der Französischen Revolution und der Widerstandswille gegen die napoleonische Fremdherrschaft genauso wieder wie der Schutzgedanke zur Abwehr absolutistischer Fürstenwillkür. Von dieser ideengeschichtlichen Herkunft her ist der burschenschaftliche Nationen-Begriff nie auf chauvinistisches Großmachtstreben gerichtet gewesen, statt dessen wurde die angestrebte Einheit instrumental als Schutzschild zur Garantie liberaler Bürgerrechte gesehen, die unter den 35 absolutistischen Fürstenherrschaften nie wirksam hätten durchgesetzt werden können. Der Nationen-Begriff der Urburschenschaft ist daher bestimmt von der Idee des Schutzes, nicht von der der Beherrschung.

Das gleiche gilt seit Anbeginn von der Idee eines Vereinten Europa. Der Zusammenschluß der Europäer war neben dem Ziel der Überwindung innerer Antagonismen immer auch von der Vorstellung getragen, daß die einzelnen europäischen Staaten für sich allein politisch und wirtschaftlich zu schwach sein würden, um sich in einer zunehmend von Risiken und Unsicherheiten bestimmten Welt behaupten zu können.

Würden die Europäer diesen Dimensions-Sprung zur Einheit nicht schaffen - so die diesem Schutzgedanken zugrunde liegende Befürchtung -, würden sie angesichts der globalen Mächtekonstellation zum Spielball außereuropäischer Mächte werden, statt die Chance zu nutzen, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und Subjekt der Weltpolitik zu bleiben.

Dabei gilt der Schutzgedanke gleichermaßen sowohl nach innen als auch nach außen. Auf eine Kurzformel gebracht, geht es um ein Europa, das, nach einem Wort von Alfred Dregger, die Vielfalt seiner Nationen und Volksgruppen schützt und ihre Zusammenarbeit organisiert.

Stimmen daher die ideellen Wurzeln von Nation im burschenschaftlichen Sinne und europäischer Union weitgehend überein, muß es auch keinen Konflikt zwischen nationaler und europäischer Identität geben. In Wahrheit besitzen wir immer mehrere Identitäten gleichzeitig: eine nationale, eine landsmannschaftliche, eine familiäre, eine religiöse etc. Eine zusätzliche europäische stellt keine Belastung oder gar Gefährdung, sondern eine Bereicherung unserer geistigen Existenz dar.

Fassen wir zusammen:

Weder als Burschenschaftler noch als Staatsbürger haben wir Grund, einem Europa mit Argwohn zu begegnen, das sich in seinem Aufbau derselben geistigen Moleküle bedient, denen wir unsere nationale Existenz verdanken: Demokratieprinzip, Wahrung der Menschenrechte, die Wahrung der Einheit in Vielfalt, Subsidiaritätsprinzip, nach der die kleinere Einheit Vorfahrt vor der größeren hat. Es gibt auch keinen rationalen Grund, ein Europa abzulehnen, in dem Einvernehmen über die Verbindlichkeit der Konvergenz-Kriterien beim Übergang in die nächst höhere Integrationsstufe unabdingbar bleibt.

Nichts gegen ein Europa, das jenen Grad an Offenheit und Unbestimmtheit der weiteren Entwicklung besitzt, dessen die nationalen Mitglieder zur Entfaltung vor allem ihrer kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Leistungen bedürfen; denn wenn wir ein Europa wollen, dann soll es ein starkes und tonangebendes Europa sein!

Darum JA zu einem Europa, das sich zu einem Staatenverbund entwickelt, der die Freiheit der Europäer im Innern verbürgt und der ihre Sicherheit nach außen bewahrt - in dem die Europäer ob im Rahmen ihrer nationalen Zugehörigkeiten oder untereinander nach ihrer Facon selig werden können; ein Europa, das auch der Deutschen Burschenschaft unter ihrem Wahlspruch

EHRE - FREIHEIT - VATERLAND

einen Platz und eine Aufgabe bereithält.

erschienen in: H. Ziegler, "100 Jahre Vereinigung Hamburger Akademikerverbände - Akademischer Bismarckausschuss", Hamburg 2003, S. 127-131.