Unter den rund zehntausend deutschen Stiftungen rangiert die Deutsche Nationalstiftung von ihrer finanziellen Ausstattung her eher in den unteren Rängen. Ihre Ziele indessen, aktiv an der Überwindung der Teilungsfolgen mitzuwirken, zugleich den Aufbau der europäischen Union und hier vor allem die Beziehungen zu unseren unmittelbaren Nachbarn Frankreich und Polen zu fördern, stehen ganz oben auf der Agenda. So könnte der Spruch über dem Lübecker Holstentor CONCORDIA DOMI FORIS PAX (Eintracht im Innern, Friede nach außen), der einen zeitlosen Auftrag an die Politik beschreibt, als sinnfälliger Ausdruck der Stiftungsidee gelten.

Die Deutsche Nationalstiftung entstand zu einer Zeit, als sich die Überraschung und die erste Begeisterung über den Fall der Berliner Mauer schon ein wenig gelegt hatten und sich abzeichnete, dass unser Land und der europäische Kontinent im gemeinsamen Zugewinn an Freizügigkeit und Selbstbestimmung einer mit großen Chancen verbundenen Entwicklung entgegensehen konnten, die gleichwohl von manchen komplizierten Unwägbarkeiten begleitet sein würde.

EUROPAS TEILUNG ÜBERWINDEN
Es war der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, der aus dieser Situation heraus einige Freunde um sich scharte, um mit ihnen im Jahr 1993 die Stiftung zu gründen. Dass Helmut Schmidt der Initiator war, kam nicht von ungefähr. War er es doch gewesen, der maßgeblich an der Architektur jenes Nato-Doppelbeschlusses mitgewirkt hatte, der die Erosion des sowjetischen Herrschaftssystems in Osteuropa so stark vorantrieb, dass damit den Freiheitsbewegungen in Warschau, Leipzig, Prag und Budapest der Boden bereitet wurde. Es war daher nicht nur symbolhafter, sondern zugleich praktisch-politischer Ausdruck dieser Gründungsidee, dass zu nur Trägern des Nationalpreises, den die Stiftung alljährlich verleiht und der heute mit 100.000 Euro ausgestattet ist, die Erstunterzeichner des Neuen Forums als Träger des demokratischen Aufbruchs im deutschen Herbst 1989 genauso gehörten wie der ehemalige polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki und der im letzten Jahr ausgezeichnete Staatspräsident der Republik Tschechien Vaclav Havel. Was sie von vergleichbaren Non-Governmental Organisations unterscheidet - und dieses ist zugleich die ideelle Klammer, die sie mit Rotary International verbindet -, ist die von staatlichen Förderprogrammen völlig unabhängige Finanzierung ihrer Aufgaben. Es waren außer Helmut Schmidt der Bankier Hermann Josef Abs, der Fabrikant Kurt Körber, der Unternehmer Michael Otto und der Verleger Gerd Bucerius, die das Stiftungskapital aus ihrem Privatvermögen aufbrachten. Diesen Stiftern gesellten sich in der Gründungsphase der Wissenschaftler Reimar Lüst (R.C. Hamburg), der damalige Ministerpräsident des Freistaates Sachsen Kurt Biedenkopf und der Dirigent Kurt Masur hinzu.

Aus dieser Kernzelle ist nach gut zehnjähriger Aufbauarbeit eine Organisation von beachtlichem Zuschnitt und internationalem Ruf entstanden, in der Persönlichkeiten aus allen politischen Lagern, aus Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur sowie aus dem Bereich der Medien mitarbeiten. Der amtierende Bundespräsident ist der Schirmherr der Deutschen Nationalstiftung, Helmut Schmidt ihr Ehrenvorsitzender und Klaus Asche (R.C. Hamburg-Steintor) ihr geschäftsführender Vorstand.

In ihren Studien, die die Themen der Jahrestagungen aufbereiten, nimmt sich die Stiftung der neuralgischen Probleme unseres Landes an. So wurden im rahr 2002 vier ausländische Wissenschaftler aus Großbritannien, Tschechien, Holland und Polen gebeten, mit unbefangenem Blick von außen zu untersuchen, wo der ostdeutschen Wirtschaft aus ihrer Sicht "der Schuh drückt". Ihr Bericht "Die Perspektiven der neuen Bundesländer - Wo versteckt sich der ostdeutsche Tiger?" kam zu prägnanten Ergebnissen. Nicht mangelnde Leistungsbereitschaft oder unzureichende fachliche Fähigkeiten der Ostdeutschen, sondern ein falscher Ansatz der im Westen konzipierten Transformations- und Integrationsstrategie ist aus Sicht der europäischen Wissenschaftler für die Misere verantwortlich.

SCHWERPUNKT JUGENDARBEIT
Seit dem letzten Jahr ist die Hauptstadtfrage das große Thema. Die 2003 am Sitz des Bundespräsidenten im Schloss Bellevue diskutierte Bestandsaufnahme "Berlin - Was ist uns die Hauptstadt wert?" beleuchtet die Fragestellung nicht nur unter finanziellen, sondern gerade auch unter nationalen und kulturellen Aspekten. Wegen seiner bedrängenden Aktualität nimmt das Berlin-Thema weiterhin großen Raum in der Stiftungsarbeit ein.

Auch der Jugendarbeit fühlt sich die Stiftung verpflichtet. So werden im Rahmen der Jugendbauhütte Mühlhausen/Thüringen, die zusammen mit der Deutschen Stiftung Denkmalschutz betrieben wird, junge Menschen aus Westthüringen und Osthessen eingeladen, sich ein Jahr lang freiwillig in der Denkmalpflege zu üben und damit zugleich der Stiftungsidee zu dienen. In einem weiteren Projekt, der europäischen "SchulBrücke Weimar", erhalten Gymnasiasten der Oberstufe aus vier Gymnasien in Paris, Warschau, Bonn und Berlin in einer Projektwoche jeweils um den 3. Oktober in Weimar Einblicke in die Arbeit der Stiftung, wodurch deren Ziele praktisch erlebbar gemacht werden.

Von besonderem Reiz für alle Beteiligten sind die "Humboldt-Reden zu Europa", die sich an die studentische Jugend wenden. Führende Staatsmänner Europas, die zu politischen Gesprächen nach Berlin kommen, wie der schwedische Premierminister Göran Persson und der italienische Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi, durchlaufen in der stets überfüllten Aula der Humboldt-Universität freiwillig die Schleuse einer studentischen Diskussion zu jeweils aktuellen Kernfragen der Europäischen Union. Der Stifter Helmut Schmidt hatte diese Reihe im November 2000 mit einer Rede zur "Selbstbehauptung Europas im neuen Jahrhundert" eingeleitet und bei den Berliner Studenten begeisterten Zuspruch gefunden.

erschienen in: ROTARY MAGAZIN, Juni 2004