Der langfristige Beitrag des Mineralöls zur Energierversorgung der Bundesrepublik Deutschland

Aus dem Jahrbuch für Ingenieure 1980

Wolfgang Müller-Michaelis

1. Einführung

Eine Fülle aktueller und weltweit wirkender Vorgänge macht deutlich, in wie starkem Maße der energiewirtschaftliche Sektor von politischen Einflüssen beherrscht wird: Rohstoffkartell der OPEC-Länder, Versorgungskrise Iran, Nord-Süd-Dialog, Gorleben, Harrisburg. Ein Wirtschaften in diesem Sektor nach herkömmlichen ökonomischen Kriterien - Bedarfsschätzung/ Rentabilitätsrechnung/Investitions- und Absatzplanung - scheint auf den ersten Blick kaum noch möglich zu sein. Von einer Grunderkenntnis unserer künftigen Energieversorgung muß daher auf jeden Fall ausgegangen werden :Der wichtigste fossile Energieträger, das Mineralöl, ist nur begrenzt verfügbar, und politische Einflüsse können die Ölversorgung der Welt kurzfristig wesentlich beeinträchtigen. Zum zweiten Mal innerhalb von fünf Jahren haben politische Eingriffe die Ölversorgung der Industrieländer - wenn auch jeweils zeitlich begrenzt und ohne, daß es zu einer krisenhaften Versorgungslage gekommen wäre - gestört:

Es ist offensichtlich, daß ein so starker außenpolitischer Einfluß auf die Vorgänge in der Energieversorgung nicht von der Industrie im Alleingang aufgefangen werden kann. Die Lösung kann nur darin liegen, daß die Energiepolitik zu einer Gemeinschaftsaufgabe von Staat und Industrie werden muß, wobei eine internationale energiepolitische Abstimmung zwischen Industrie- und Rohstoffländern als Voraussetzung unabdingbar ist.

2. Alternative Energiequellen

Auf absehbare Zeit werden zur Deckung des Weltenergiebedarfs im wesentlichen vier Energiequellen zur Verfügung stehen: Öl, Gas, Kohle und Kernenergie. Allen ist gemeinsam, daß sie nicht regenerierbar sind; die regenerierbare Quelle Wasserkraft ist nur in einigen Regionen von Bedeutung und liefert einen insgesamt nur begrenzten Beitrag. Langfristige Erwartungen, die an heute noch nicht entwickelte regenerierbare Energiequellen geknüpft werden, dürften in den kommenden zwei Jahrzehnten für die Deckung unserer Energieversorgung noch nicht erfüllbar sein.

Betrachten wir die Reserve-Verfügbarkeiten der genannten Energieträger, treten starke Unterschiede zutage:

  1. die Welt-Kohlereserven von umgerechnet rund 500 Mrd. Öltonnen haben eine Reichweite gemessen am heutigen Jahresverbrauch von 200 - 300 Jahren, womit für die überschaubare Zukunft eine Zielrichtung energiepolitischer Anstrengungen gegeben ist;
  2. die Naturgas-Reserven erreichen mit rund 80 Mrd. Öltonnen eine Reichweite von 70 Jahren und werden demnach in den kommenden Jahrzehnten in der Lage sein, einen wichtigen Beitrag zur gesamten Energieversorgung zu leisten;
  3. die erschlossenen Rohöl-Reserven in Höhe von rund 90 Mrd. Tonnen (ohne Teersande und Ölschiefer) haben eine Reichweite von rund 30 Jahren und machen die Begrenztheit dieses heute führenden Energieträgers besonders deutlich;
  4. die unter gegenwärtigen Bedingungen ökonomisch abbaubaren Uran-Reserven von rund 110 Mrd. Öltonnen entsprechen ebenfalls einer Reichweite von 30 Jahren unter der Annahme, daß die Kernenergie einen steigenden Anteil am Weltenergiebedarf auf 15 - 20 Prozent erreichen kann, wobei die heutige Kernkraft-Technologie unterstellt wird.

Gegenüber dieser Reserve-Verteilung weist die Struktur des heutigen Weltenergieverbrauchs eine starke Abweichung auf. Weltenergieverbrauch 1978 7 Mrd. Tonnen Öleinheiten (= rund 10 Mrd. Tonnen SKE), davon: Mineralöl 44 %, Kohle 30 %, Naturgas 17 %, Kernenergie 3 %, Sonstige 6 %.

Am Energieverbrauch der westlichen Welt erreicht der Anteil des Mineralöls sogar 51 %, in Westeuropa 55 %, in der Bundesrepublik Deutschland 52 %. Am gesamten Weltmineralölverbrauch von gut 3 Milliarden Tonnen sind die westlichen Industrieländer mit rund 2 Mrd. Tonnen beteiligt, davon Nordamerika mit einer Milliarde Tonnen; 50 % des Weltmineralölverbrauchs werden durch die OPEC-Länder gedeckt.

Die Schlußfolgerung aus diesen wenigen Zahlen scheint eindeutig: ein grundsätzlicher Wandel des Energieeinsatzes sowohl von der Gesamtmenge als auch an den Anteilen der einzelnen Energieträger her ist herbeizuführen, um Ausmaß und Struktur des Verbrauchs den verfügbaren Reserven anzupassen. Dies bedeutet ein Umdenken in unserem gesamten Energieverbrauchsverhalten, zu dem Industrie, Staat und Energieverbraucher gemeinsam Beiträge zu leisten haben. Für die Mineralölindustrie bedeutet dies, daß sie eine Politik der Reduzierung des Öleinsatzes dort, wo dies möglich, notwendig und sinnvoll ist, nach Kräften unterstützen muß. Der Erfolg dieser Umstrukturierungs-Aktivitäten wird maßgeblich davon abhängen, ob es gelingt, die zeitliche Ablaufsplanung auf seiten der Angebotsanpassung mit den sich abzeichnenden Bedarfsverlagerungen in Einklang zu bringen. Ein überstürzter Rückzug würde mehr Schaden als Nutzen bringen; stattdessen ist eine planvolle Umstrukturierung in überschaubaren Zeiträumen das Gebot der Stunde.

Diese Umstrukturierung des Mineralölverbrauchs in der Bundesrepublik Deutschland dürfte nach den Erfahrungen mit der Verbrauchsentwicklung im Anschluß an die OPEC-Ölkrise 1973/74 zu realisieren sein. Es ist daran zu erinnern, daß der Mineralölverbrauch in der Bundesrepublik als Folge der Ölkrise bereits von 145 Millionen Tonnen (1973) auf 125 Millionen Tonnen (1975) zurückgegangen war. Noch heute verbrauchen wir mit rund 140 Millionen Tonnen in Deutschland weniger Mineralöl als 1973. In dieser Entwicklung kommt bereits ein erheblicher Anpassungserfolg zum Ausdruck. Diese Anpassung wird mit Ausrichtung auf die sich abzeichnende neue Bedarfsstruktur

verstärkt fortgesetzt. Im Ergebnis dieser gegenläufigen Entwicklungen dürfte bis 1990 noch ein leichter Anstieg des Ölverbrauchs auf etwa 150 Millionen Tonnen pro Jahr eintreten, denn die Substitutions-Energien werden erst allmählich in die "Rückzugsgebiete" des Öls einfließen können. Aus heutiger Sicht wird jenseits von 1990 mit einem absoluten Rückgang des Mineralölverbrauchs in der Bundesrepublik Deutschland gerechnet, so daß wir bis zur Jahrtausendwende etwa wieder das gegenwärtige Verbrauchsvolumen von rund 140 Millionen Tonnen erreicht haben werden.

3. Einsatz von Mineralölprodukten in Zukunft

Für die einzelnen Verbrauchssektoren zeichnet sich aus heutiger Sicht die folgende Entwicklung des Einsatzes von Mineralölprodukten bis zum Jahre 2000 ab:

  1. Sektor Haushalte und Kleinverbrauch
    in diesem Sektor werden gegenwärtig rund 48 Millionen Tonnen überwiegend leichte Heizöle für Wärmezwecke eingesetzt. Bis zum Jahr 1990 wird mit jährlichen Schwankungen ein Bedarfsvolumen von rund 50 Millionen Tonnen erwartet; hierbei wird mit zusätzlichen Beiträgen von Gas und Kernenergie gerechnet. Bis zum Jahr 2000 dürfte dann ein allmählicher Rückgang auf eine Größenordnung von etwa 43 Millionen Tonnen eintreten. Diese mengenmäßige Entwicklung würde dazu führen, daß der Haushaltssektor seinen beherrschenden Anteil am gesamten Mineralölverbrauch von heute 34 % über 33 % im Jahr 1990 auf 31 % im Jahr 2000 abbaut.
  2. Industrieller Sektor
    in diesem Bereich, in dem ebenfalls überwiegend Heizöle (schwer und leicht) eingesetzt werden, ist mit einem absoluten kontinuierlichen Rückgang des Mineralölverbrauchs zu rechnen: von 24 Millionen Tonnen im Jahr 1978 über 20 Millionen Tonnen im Jahr 1990 auf 14 Millionen Tonten im Jahr 2000. Dieser absolute Verbrauchsrückgang, der durch verstärkten Kohle-, Gas- und Kernenergieeinsatz wettzumachen ist, führt zu einer starken prozentualen Abnahme des industriellen Ölverbrauchsanteils am gesamten Mineralölverbrauch in der Bundesrepublik Deutschland: von 17 % im Jahr 1978 über 13% im Jahr 1990 auf rund 10 % im Jahr 2000.
  3. Verkehrssektor
    auf diesen Bedarfsbereich, der in den überschaubaren Jahrzehnten für den Individualverkehr die geringsten Substitutionsmöglichkeiten durch andere Energien bietet, sind die Umstrukturierungsmaßnahmen der Mineralölverarbeitung vor allem ausgerichtet: hier wird es zu einem weiter steigenden Bedarfsvolumen kommen. Der gegenwärtige Jahresverbrauch der Bundesrepublik Deutschland von rund 36 Millionen Tonnen Treibstoffen dürfte sich bis 1990 auf 44 Millionen Tonnen und bis zum Jahr 2000 auf 45 Millionen Tonnen erhöhen. Dieser absolute Bedarfsanstieg wird zu einer prozentualen Zunahme des Treibstoffbedarfs am gesamten Mineralölverbrauch in folgender Größenordnung führen: von 26 % im Jahr 1978 über 30 % im Jahre 1990 auf 32 % im Jahr 2000.
  4. Petrochemie
    neben der stärkeren Verwendung des Mineralöls für Treibstoffe ist der zweite große Absatzbereich die nicht-energetische Rohstoffverwendung für die chemische Industrie. Aufgrund der Wachstumserwartungen in diesem Bereich ist davon auszugehen, daß die Umstrukturierungsmaßnahmen der Mineralölindustrie zur Erzielung einer höheren Wertschöpfung aus der Verarbeitung des Barrels Rohöl mit den Bedarfsschätzungen für den petrochemischen Einsatz einhergehen. Es wird folgende Steigerung des Einsatzes von Mineralölprodukten für die petrochemische Weiterverarbeitung angenommen: von 12 Millionen Tonnen 1978 über 16 Millionen Tonnen 1990 auf 20 Millionen Tonnen im Jahr 2000. Aufgrund dieser erwarteten Bedarfssteigerung wird der Anteil petrochemischer Einsatzstoffe am gesamten Mineralölverbrauch der Bundesrepublik Deutschland die größten prozentualen Zuwachsraten ausweisen: von 9 % im Jahr 1978 über 11 % im Jahr 1990 auf 14 % im Jahre 2000.

4. Schlußfolgerungen

In der Konsequenz führt diese Strukturverlagerung (siehe auch Tabelle) im Mineralölverbrauch dazu, daß eine gegenüber dem heutigen Verbrauchsvolumen nicht erhöhte Einsatzmenge des Energieträgers, der den Wachstumsprozeß der Bundesrepublik Deutschland während der vergangenen Jahrzehnte maßgeblich mitgetragen hatte, bis zum Jahr 2000 fast zur Hälfte als Treibstoff und petrochemischer Rohstoff eingesetzt wird. Den Investitionsplanungen der Mineralölindustrie zur Herbeiführung dieser strukturellen Umverlagerung müssen allerdings steigende Versorgungsbeiträge von Kohle, Gas und Kernenergie entsprechen, wenn der Gesamtenergiebedarf in den einzelnen Verbrauchssektoren auch künftig gedeckt werden soll.

 

Mio Tonnen

%

 

1978

1990

2000

1978

1990

2000

Haushalt und Kleinverbrauch

48

50

43

34

33

31

Industrie

24

20

14

17

13

10

Verkehr

36

44

45

26

30

32

Petrochemie

12

16

20

9

11

14

Rest *)

20

20

18

14

13

13

*) Eigenverbrauch/Raffinerien, Kraftwerke, Bitumen/Schmierstoffe

erschienen in: Das Jahrbuch für Ingenieure '80 - Aktuelles Wissen aus Forschung und Praxis
expert-verlag, Grafenau 1980, S. 428-432