Die Neue Ökonomie und ihre Feinde

Wolfgang Müller-Michaelis

Die Sprachlosigkeit linker Gesellschaftskritik unmittelbar nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Regime im ehemaligen Ostblock war nicht von langer Dauer. Ob "Globalisierungsfalle" (H.-P. Martin, H. Schumann) oder "Ökonomieterror" (V. Forrester), es wurde im fast nahtlos ineinander übergehenden Ideologienstreit schon sehr bald wieder kräftig zugelangt. Galt es doch, ein Verschwörungssyndrom abzuarbeiten, das die Mächte des Monopolkapitals seligen Angedenkens nunmehr darin verstrickt sah, den Sieg über die sozialistische Gegenmacht in ungehemmter Brutalität auszukosten. Auf subtilere Art, aber mit gleicher Stoßrichtung bemüht sich eine Schule zeitgenössischer Soziologie um den Nachweis, daß die alte systemkritische These "Kapitalismus wird und macht arbeitslos" (Ulrich Beck) unter den Bedingungen der Neuen Ökonomie, also des Übergangs in die digitale Internetwirtschaft, in ihrer Gültigkeit nur noch bestärkt wird. So brachte Ulrich Beck in eine eigens für die Expo 2000 konzipierte Reihe mit Zukunftsentwürfen für das Leben im 21. Jahrhundert sei-ne "Schöne neue Arbeitswelt" ein, mit der er eine Variation seines alten Themas vom Ende der Erwerbsarbeit anbietet. Sein US-amerikanischer Kollege Jeremy Rifkin hatte mit seinem 1995 (in deutscher Sprache 1996) erschienenen Buch "Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft" die Richtung gewiesen, die die Entwicklung der nachin-dustriellen Gesellschaft nehmen werde.

Nachdem es bereits zu Zeiten des "Wettbewerbs der Systeme" Mode geworden war, der Marktwirtschaft nur noch die Kraft zur Arbeitsbeschaffung für eine "Zweidrittelgesellschaft" zuzutrauen (damals konnte man aus westdeutschen Schulbüchern erfahren, daß allein der Staatssozialismus über die Fähigkeit verfüge, allen Menschen Arbeit zu geben), sollte es nun ganz finster werden. Rifkin und seine Freunde verkündeten, daß Globalisierung und Internetökonomie auf Dauer nur noch Beschäftigung für eine "Einfünftelgesellschaft" bereithielten und die aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossene Mehrheit von achtzig Prozent entsprechend der dem Altertum entlehnten Herrschaftsmethode des "panem et circensis", in amerikanischer Übersetzung eines "Tittytainment" bei Laune gehalten werde. In seinem neuen Buch "Access. Das Verschwinden des Eigentums" strickt Rifkin an dieser Masche weiter, indem er seinen Lesern in schrillen Farben das Bild einer mit Erwerbs- und Eigentumslosigkeit verbundenen totalen Kommerzialisierung aller Lebensbereiche "bis in die letzte Sekunde erlebter Zeit" ausmalt.

Die breite Aufnahmebereitschaft, die seine Thesen im Unterschied zu den USA beim deutschen Publikum finden, dürfte in der tiefen Verunsicherung begründet sein, die die politische Klasse hierzulande angesichts der informationstechnologischen Revolution erfaßt hat. Globalisierungsfurcht, Argwohn gegenüber der kulturellen Gestaltungskraft der Neuen Medien und Skepsis im Hinblick auf Lösungsmöglichkeiten der Beschäftigungsfrage bilden den geistigen Humus für diese Bewußtseinslage. Das "große Schweigen" der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften trägt in dieser Orientierungskrise nicht dazu bei, eine Bresche aus der vermeintlichen Ausweglosigkeit in eine annehmbare Perspektive zu schlagen. Hilfsweise verbreitete Studien wie die der "D-21-Initiative" helfen auch nicht weiter, solange sie statt Ursachenforschung zu betreiben und eine fundierte Theorie der Chancen der Neuen Ökonomie für die Lösung der offenen sozialen und ökologischen Probleme anzubieten, nur in statistischer Dokumentation und politischer Forderung ihr Genüge finden und im übrigen dem Modetrend folgend das Gespenst einer "digitalen Spaltung der Gesellschaft" beschwören.
Unter diesen Wettbewerbsbedingungen haben Rifkin und seine Mitstreiter leichtes Spiel, ihre Position am Markt der Ideen für die Gestaltung der Strukturen der nachindustriellen Gesellschaft zu behaupten. Rifkin legt seinem jüngsten Buch eine auf den ersten Blick plausibel erscheinende These zugrunde. Indem das Netzwerk der digitalen Online-Wirtschaft an die Stelle der Marktbeziehungen der physische Güter tauschenden Alten Ökonomie tritt, werden zugleich traditionelle gesellschaftliche Bezüge, z.B. Besitzverhältnisse verändert. Die Verkäufer/Käufer-Beziehung am Markt der Alten Ökonomie wird durch die Anbieter/Nutzer-Beziehung im Netzwerk der Neuen Ökonomie ersetzt.

Mit diesem Funktionswandel verbindet er die Beobachtung, daß es bei privaten Vermögensdispositionen üblich geworden ist, der Praxis großer Unternehmen zu folgen, statt Immobilien und physische Güter als Eigenkapital zu halten und zunehmend dazu überzugehen, diese quasi als virtuelles Eigentum zu mieten oder zu leasen. Auf diese Weise gerät er in eine folgenschwere Denkfalle, zumal er sich im Überschwang des vermeintlichen Aufdeckens einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung zu einer Prognose hinreißen läßt: "In 25 Jahren wird ein Großteil der Unternehmen und Konsumenten Eigentum wahrscheinlich für altmodisch halten."

Rifkin ist bei seiner Diagnose einer angeblich veränderten Rolle des Eigentums in der Neuen Ökonomie schlichtweg einem Mißverständnis unterlegen. Es besteht in der Fehlinterpretation eines in die achtziger Jahre zurückreichenden betriebswirtschaftlichen Methodenwechsel in der Unternehmensbewertung. Hierbei geht es um einen Kostenvergleich alternativer Portefeuillestrategien bei der Zusammensetzung des Eigenkapitals. Nach diesem ursprünglich von der Stanford-Schule entwickelten Bewertungsansatz sind vor allem Großunternehmen zunehmend dazu übergegangen, ihren Immobilienbesitz, zum Teil einschließlich ihrer Geschäftszentralen, ertragswirksam zu veräußern und sie stattdessen kostengünstiger zu leasen. Diese Vorgehensweise hat entgegen der Auffassung von Rifkin mit einem Abschied von der Idee des Eigentums indessen wenig zu tun. Wie die Unternehmen so legen auch private Wirtschaftssubjekte dieses Verhalten nicht aus Desinteresse am Eigentum an den Tag, sondern ganz im Gegenteil aus der rationalen Erwägung, auf diese Weise ihr Vermögen zu mehren.

Während dieses Vorgehen bei Unternehmen im Verfolgen des "Shareholder value"-Prinzips Ausdruck findet, entspricht ihm bei den privaten Wirtschaftssubjekten die "Income optimizing"-Strategie. Sie bedeutet, die Kosten der privaten Lebensführung in einer Weise zu gestalten, daß mit der Veräußerung von Immobilien und physischen Gütern ohne Komforteinbußen Einkommensüberschüsse erzielt werden, die zu Vermögenszuwächsen führen. Des Rätsels Lösung für Rifkins merkwürdige These vom Verschwinden des Eigentums liegt in der Fixierung auf einen Eigentumsbegriff, der der physiokratischen und der auf ihr fußenden marxistischen Schule entlehnt ist. Wie der wirtschaftliche Wertschöpfungsprozeß so sind nach ihr auch die Produktionsfaktoren ausschließlich physisch-materiell determiniert: menschliche Arbeitskraft, Boden und Kapital. Geistige Leistungen wie beispielsweise die Lehrtätigkeit des Lehrers, die Partitur des Komponisten oder die Patentidee des Erfinders, die in der nachindustriellen Wissensgesellschaft den gesellschaftlichen Wertschöpfungsprozeß maßgeblich bestimmen, wurden nach der physiokratischen Lehre in der Volkseinkommensrechnung nicht erfaßt. Dem wirtschaftlichen Leistungsprozeß wurden nur Vorgänge zugerechnet, bei denen natürliche Rohstoffe durch kombinierten Einsatz von Arbeit und Maschinen in physische Güter umgewandelt wurden. Diejenigen, in deren Verfügungsgewalt sich die Produktionsmittel und produzierten Güter jeweils befinden, sind deren jeweilige Eigentümer.

Es wäre nicht weiter schlimm, wenn das physisch-materielle Verständnis von wirtschaftlicher Wertschöpfung und die dadurch genährte Ideologie der Kapitalakkumulation und der Ausbeutung abhängiger Massen innerhalb spätmarxistischer Zirkel begrenzt bliebe. Fatal für die Lösung unserer heutigen sozialen Probleme ist es indessen, daß die in dieser Auffassung wurzelnde Vorstellung vom Ende der Erwerbsarbeit über den Zwischenträger einer zeitgenössischen Krisensoziologie eine gewisse parteiübergreifende Meinungsführerschaft erlangt hat. An Ulrich Beck ist die Frage zu richten, warum er eigentlich der in Auflösung begriffenen Welt der Industriearbeit als einer Art Idealzustand sozialer Verhältnisse nachtrauert und die sich an ihrer Stelle entwickelnden Beschäftigungsformen der Neuen Ökonomie demgegenüber mit eher negativen Vorzeichen versieht. Welchen Sinn macht es, die moderne Arbeitswelt als "sozialstrukturellen Flickenteppich", "nomadische Multi-Aktivitäten", Einkehr "brasilianischer Verhältnisse" oder als "Einbruch des Prekären, Diskontinuierlichen, Flockigen, Informellen in die westlichen Bastionen der Vollbeschäftigungsgesellschaft" zu charakterisieren?

Jeremy Rifkin ist in diesem Punkt aufrichtiger in seinen Absichten. Er sieht in der Wanderung der Beschäftigungsverhältnisse von der alten Industrie in die moderne Dienstleistungswirtschaft und in vormals wirtschaftsferne Lebensbereiche wie Kultur, Bildung, humanitäre Dienste, Unterhaltung und Sport eine Okkupation der Privatsphäre des Menschen durch das Monopolkapital. Populistisch erheischt er Beifall, wenn er von der Neuen Ökonomie als einer "Produktion von Kultur" spricht, die die "letzte Stufe des Kapitalismus" darstelle, "dessen wesentliche Triebkraft es von jeher war, immer mehr menschliche Aktivitäten für das Wirtschaftsleben zu vereinnahmen." Was spricht eigentlich dagegen, es als humanitären Fortschritt anzusehen, wenn die Menschen in der Neuen Ökonomie zunehmend dazu übergehen, ihren Lebensunterhalt mit vergleichsweise bequemeren, attraktiveren und mehr Lebensfreude spendenden Tätigkeiten zu verdienen, als unter den Bedingungen traditioneller Industriearbeit im Schweiße ihres Angesichts ihre physischen und psychischen Kräfte zu verschleißen?

Der Vorstellung Rifkins von der Kommerzialisierung des kulturellen Lebens und der Privatsphäre durch den Hyperkapitalismus entspricht seine Idee vom Verschwinden des Eigentums. Auch hier erweist sich der Autor als Meister im virtuellen Schattenboxen. Denn anders als Rifkin unterstellt, ist in der modernen Wirtschaftsgesellschaft das Halten von Eigentum keineswegs gleichbedeutend mit dem Besitzen physischer Güter. Der Eigentumsidee in der Marktwirtschaft liegen die immateriellen Werte der persönlichen Freizügigkeit und wirtschaftlichen Unabhängigkeit zugrunde, die seit Bestehen rechtlich verfaßter Gesellschaftsordnungen in der Verfügungsgewalt über rechtliche Eigentumstitel begründet sind. Ludwig Erhard sah im Eigentum das Mittel zum Zweck, Selbstbewußtsein zu wecken, Bürgersinn zu stärken sowie soziales Ansehen und wirtschaftliche Sicherheit zu mehren. Grundbucheintragungen, Bankguthaben, Wertpapierdepots, Lebensversicherungen oder Rentenansprüche sind es, die in der modernen Gesellschaft als "verbriefte Rechte" Eigentum ausmachen. Ob für die daraus fließenden Einkünfte Häuser gekauft oder stattdessen Wohnungen gemietet werden, ist sekundär. Es sind nur Nutzungsformen des Eigentums, aber nicht das Eigentum selbst.

Es ist offensichtlich, daß es für die Analyse der Vermögensverteilung in der modernen Gesellschaft folgenschwer ist, wenn der Eigentumsbegriff auf den Besitz physischer Güter verkürzt wird und die das Eigentum konstituierenden "verbrieften Rechte" unter den Tisch fallen. Es ist zwar richtig, wenn Rifkin feststellt: "In einer Ökonomie, deren einzige Konstante der Wandel ist, macht es wenig Sinn, bleibende Werte anzuhäufen." Falsch ist es indessen, dem Wirtschaftsbürger der Wissensgesellschaft zu unterstellen, daß er dies im Sinne materieller Güterwerte tatsächlich anstrebt. Und ganz falsch wäre es zu glauben, daß der moderne Zeitgenosse sein Interesse an größtmöglicher persönlicher Freiheit verlieren könnte. Den "bleibenden Wert" wirtschaftlicher Unabhängigkeit und die sie garantierenden rechtlichen Eigentumstitel wird er niemals aufhören "anhäufen" zu wollen. Schließlich wird wohl niemand bestreiten, daß man mit der Verfügungsgewalt über "verbriefte Rechte" ein freizügigeres, sorgenloseres und komfortableres Leben führen kann als ohne sie und daß das Streben danach ein unvergänglicher Antriebsmotor sozialen Verhaltens bleibt, wie schnellebig sich die Verhältnisse in der Neuen Ökonomie auch immer gestalten mögen.

Es ist klar, warum Jeremy Rifkin die Konstruktion des physisch determinierten Eigentumsbegriffs für seine Deutung des "Wandels von einem Regime des Besitzens, das auf breit gestreutem Eigentum beruht, zu einem Regime des Zugangs, das kurzfristig und begrenzt Nutzung von Vermögenswerten sichert, die von Anbieternetzen zur Verfügung gestellt werden," benötigt. Denn nur auf diese Weise kann er die mit einer kräftigen Prise Spätmarxismus angereicherte These begründen, daß sich "das Wesen ökonomischer Macht in den kommenden Jahren radikal verändern" wird. Entgegen Rifkins Vision ökonomischer Machtakkumulation werden sich die Produktionsmittel der Wissensgesellschaft mit großer Wahrscheinlichkeit nicht in der Hand monopolkapitalistischer Netzanbieter konzentrieren, die den Zugang der besitzlosen Massen kontrollieren. Stattdessen werden sich die Internetprovider genauso wie die Chipfabriken, Telekommunikationskonzerne und Medienmultis als breitgestreutes Eigentum in Millionen Händen derer befinden, in deren Besitz sie heute bereits zu großen Teilen sind: der Aktionäre der Unternehmen der Neuen Ökonomie. Nach einer jüngsten Studie der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz steigt die Zahl der Aktionäre in Deutschland, die inzwischen elf Millionen erreicht hat, stark an. Das in Aktien gehaltene Vermögen ist hierzulande von 181 Milliarden Mark im Jahr 1992 auf 635 Milliarden Mark in diesem Jahre gewachsen.

Ungewollt leistet Rifkin mit seiner Machtakkumulationsthese im übrigen einen produktiven Beitrag zur aktuellen Rentendiskussion. Die alte Erhardsche Idee, mit Hilfe eines obligatorischen Investivlohns die Soziale Marktwirtschaft in Richtung eines Volkskapitalismus zu vollenden, wäre der Verwirklichung ein gutes Stück nähergerückt, wenn dem zweiten Pfeiler einer kapitalgedeckten Alterssicherung durch wirtschaftspolitische Flankierung zweckgerichteter Förderung des Aktienbesitzes und der Investmentbeteiligung am Kapitalstock der Volkswirtschaft der Weg geebnet würde. Ob eine solche Entwicklung eine realistische Perspektive oder nur blanke Illusion ist, hängt indessen mehr vom Durchsetzungswillen moderner Wirtschafts- und Sozialpolitik als von dubiosen Machtinteressen finsterer Monopolkapitalisten ab.

© B-I-K Consulting

September 2000