Neue Ökonomie und alte Politik

Wolfgang Müller-Michaelis

Zeiten des Umbruchs zeichnen sich dadurch aus, daß die neuen Zustände mit den alten Begriffen immer weniger zu fassen sind. Kurt Biedenkopf hat dafür das Wort von der Paßunfähigkeit nicht mehr zeitgemäßer Gesetze gefunden, die zur Regelung längst vergangener Strukturen geschaffen wurden. Ihre Anwendung auf die veränderten Verhältnisse führt zu Friktionen, die neue Probleme schaffen, statt die bestehenden zu lösen. Gesetze sind in Paragraphen gegossene Politikprogramme von gestern. Manche dieser zu Normen erhobenen alten Wertvorstellungen mögen zeitlose Gültigkeit für sich beanspruchen. Unsere im 19. Jahrhundert wurzelnde Sozialgesetzgebung ist aber wohl eher nicht das Rüstzeug, das den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts Paroli bieten könnte.

Als Kapital und Arbeit noch die für das Sozialprodukt bestimmenden Produktionsfaktoren waren, mögen klassenkämpferische Politikansätze ihren Sinn gehabt haben, um sozialen Ausgleich herbeizuführen. Wo aber Befähigung zu moderner Kommunikation und Aneignung von Wissen und seine intelligente Nutzung zu entscheidenden Bedingungen für das Hervorbringen wirtschaftlicher Leistung geworden sind, geht es bei der sozialen Sicherung um andere Dinge als um das alte gewerkschaftliche Tarifdenken in den Dimensionen von Lohn und Arbeitszeit. Die Gewerkschaften werden daher ihren Mitgliederschwund nicht dadurch aufhalten, daß sie vor dem Wesenswandel wirtschaftlicher Wertschöpfung die Augen verschließen und ansonsten ihren alten Parolen nachhängen. Den Herausforderungen der Zeit gewachsen zu sein heißt vor allem, mit dem veränderten Kräftespiel in der globalisierten Wirtschaft umzugehen und die Neue Ökonomie nicht als Abgleiten in einen archaischen Hyperkapitalismus mißzuverstehen. Das bedeutet konkret, daß man sich den neuen Aktionsfeldern sozialer Sicherung in der Wissensgesellschaft zuwenden muß. Berufliche Weiterbildung und Beteiligung der Arbeitnehmer am Kapitalstock der Volkswirtschaft, z.B. zur verbesserten Alterssicherung, ein altes Erhardsches Projekt, gehören dazu.

Wir kommen in dieser Sache einen guten Schritt weiter, wenn wir mit der Neuen Ökonomie nicht nur den Neuen Markt sondern vor allem den Anspruch eines Neuen Denkens verbinden, das geeignet ist, die wirtschaftlichen Möglichkeiten der informationstechnologischen Revolution für den sozialen Fortschritt vollen Umfangs auszuschöpfen. Von diesem Neuen Denken ist allerdings wenig zu spüren, wenn die Otto-Brenner-Stiftung ihre Jahrestagung 2000 unter das Motto "Vom Terror der Ökonomie zum Primat der Politik" stellt. Auch Heiner Geißler und Franziska Augstein rudern in die falsche Richtung, wenn sie für die CDU eine Chance darin sehen, Zündstoff in das rotgrüne Lager zu tragen, indem gegen die globalisierungsfreundliche New Labour-Politik der Regierung Schröder zum Angriff geblasen wird. Angela Merkel hat dem entgegnet, daß Globalisierung für die Wirtschaft das sei, was die Schwerkraft in der Physik ist. Man kann nicht dafür oder dagegen sein, aber man muß sich darauf einstellen.

Daß der Schlüssel für die Bewältigung der mit der Neuen Ökonomie aufziehenden Anpassungsprobleme vor allem in der richtigen "Einstellung" liege, hat dieser Tage US-Botschafter John Kornblum in Frankfurt am Main betont. Er hat auf amerikanisch ausgedrückt, was Roman Herzog vor drei Jahren in seiner berühmten Berliner Rede als "Ruck" angemahnt hatte. Daß dieser in manchen Köpfen bisher ausgeblieben ist, hat wiederum Kanzler Schröder beim ÖTV-Kongreß angesichts der gegen seine Reformpolitik erhobenen Proteste zu seinem vermutlich ähnlich geschichtsträchtigen "Basta" provoziert. Die Gewerkschaften und die Neomarxisten aller Schattierungen werden ihre Orientierungskrise nur überwinden, wenn sie beim Übergang in die Neue Ökonomie zur frühzeitigen Vermeidung neuer gesellschaftlicher Spaltungen bei der Reform des Gesellschaftsvertrages mitmachen. Soziale Selbstbestimmung und Selbständigkeit werden verstärkt an die Stelle von Sozialbürokratie und kollektivistischer Gängelung treten müssen. Zudem wird die Wissensgesellschaft unerbittlich ihren Tribut einfordern. Eine tendenzielle Umschichtung der Staatsausgaben zu Lasten alimentärer Sozial- und zugunsten investiver Bildungsausgaben dürfte unabwendbar sein.

Zum Guthabenkonto der Regierung Schröder gehört, mit etlichen ihrer Reformansätze diese Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Nicht mit Blockierung der Reformpolitik, mag sie nun von der Gewerkschaft oder vom linken Parteienspektrum kommen, sondern nur mit dem Einfordern ihrer konsequenten Umsetzung im Sinne Angela Merkels ist in und mit der Neuen Ökonomie Staat zu machen.

© B-I-K Consulting

November 2000