Neues Denken öffnet neue Wege
Zum Reformkonzept Agenda Arbeit 21

Wolfgang Müller-Michaelis

Standortbestimmung für Arbeit und Generationengerechtigkeit

Knapp acht Jahre nachdem das damalige Staatsoberhaupt seinen berühmten Reformappell an seine Landsleute gerichtet hatte, sprach der amtierende Bundespräsident Horst Köhler zum gleichen Thema im März 2005 in Berlin. Vielleicht war der Ort des „Arbeitgeberforums“ der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände für seinen Auftritt nicht besonders geschickt gewählt. Wohl hätte die Montagehalle einer Automobilfabrik der Ansprache des Bundespräsidenten aus diesem Anlass, zu dieser Zeit und zu diesem Thema einen angemesseneren Resonanzboden geschaffen. Am dramatischen Inhalt der Rede hätte dies indessen genausowenig geändert, wie man nach Lage der Dinge einen anderen Tenor hätte erwarten dürfen.

Wenn das Echo auf diese Standortbestimmung im März 2005 dennoch ähnlich zwiespältig ausfiel wie auf jene vom April 1997, ist dies bezeichnend nicht nur für die Tiefe sondern auch für die Natur der Krise, in die unser Land geraten ist. Wir müssen eben wohl doch, anders als es Roman Herzog seinerzeit glaubte konstatieren zu können, von einem Erkenntnisproblem in Teilen unserer politischen Führungselite ausgehen. Anders ist kaum zu verstehen, weshalb dem ersten Mann im Staate bei seiner Forderung an die Verantwortlichen von Regierung und Tarifparteien, der Schaffung von Arbeit über allem anderen eine politische Vorfahrtsregel einzuräumen, als Parteinahme für das Unternehmerlager angekreidet wurde.

Auch aus der unbestrittenen Kompetenz des Wirtschafts- und Finanzfachmannes Horst Köhler die Verdächtigung abzuleiten, dass ihn dies behindere, für die Interessen der Arbeitnehmer einzutreten, ist ein Beleg für die Ideologisierung, von der die Reformdebatte zu Teilen noch immer bestimmt ist. Die Medienberichterstattung trug ein übriges dazu bei, dass wesentliche Teile der Botschaft des Bundespräsidenten, wie die Reformstrategie aus seiner Sicht in Angriff zu nehmen sei, die Öffentlichkeit gar nicht erreichte. So war eine seiner Kernaussagen, dass eine Reform unseres Steuer- und Sozialsystems an Finanzfragen nicht scheitern müsse. Da man angesichts der galoppierenden Staatsverschuldung ausschließen kann, dass er mit diesem Hinweis die ausreichende Verfügbarkeit finanzieller Mittel hätte andeuten wollen, konnten nicht Euro-Milliarden gemeint sein, mit denen allein die Krise zu bewältigen sei.

Der aktuelle nationale Schuldenstand in Höhe von 1,4 Billionen Euro und die Anwartschaften in den Sozialversicherungen in Höhe von 5,7 Billionen Euro belaufen sich auf insgesamt 7,1 Billionen Euro. Das entspricht 330 Prozent des Sozialprodukts der deutschen Volkswirtschaft, der drittgrößten der Welt. Machen wir uns wirklich klar, fragt der Bundespräsident, welche Erblast das für unsere Kinder und Enkel bedeutet? Auf diesem Wege des Schuldenmachens in großem Stil fortzufahren, hieße doch nichts weiter, als unter uns heute Lebenden jene Ernte im Vorwege zu verteilen, die sich nachfolgende Generationen durch ihre Arbeit erst bemühen müssen, in die Scheuern einzufahren.

Angesichts der unübersehbaren Gebirge ungelöster Probleme in unserer Gesellschaft, die ökonomisch betrachtet ungetane Arbeit bedeuten, verfügen wir stattdessen tatsächlich noch immer über einen beträchtlichen Vorrat an Möglichkeiten, dieser Abwärtsspirale auf anderem Wege Einhalt zu gebieten. Nicht zuletzt sollten wir uns dabei den Erkenntnisvorsprung, den viele unserer Nachbarn bei ihren erfolgreichen Reformbemühungen gewonnen haben, zu Nutze machen. Sie haben früher als wir erkannt, dass weiteres Anhäufen finanzieller Schulden ein Aufladen moralischer Schuld durch Unterlassen bedeutet. Das Armutszeugnis der Dauerarbeitslosigkeit von fünf bis sechs Millionen Mitbürgern sollte ein Land, das die Soziale Marktwirtschaft erfunden hat, nicht länger auf sich sitzen lassen. Zumal absehbar ist, dass das weitere Rotierenlassen der Schulden- und Schuldspirale eine sich selbst nährende Dynamik in Richtung weiterer Eskalation der Misere in sich birgt. Wir verzichten nicht nur auf die Produktivität der fünf bis sechs Millionen Arbeitslosen in unserer volkswirtschaftlichen Wertschöpfungsbilanz. Aus dem reduzierten Aufkommen muss auch deren Versorgung sichergestellt werden. Es sind jene Mittel, die für Zukunftsinvestitionen in Aufschwung und Beschäftigung fehlen. In einer solchen Lage kommt der Rat des Kirchenlehrers Thomas von Aquin aus dem 13. Jahrhundert wie gerufen: Gott gebe uns den Mut, die Dinge zu ändern, die wir ändern können; er gebe uns die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können; und er schenke uns die Weisheit, das eine von dem anderen zu unterscheiden.

Was wir nicht ändern können, sind die weltweit wirkenden Kräfte der Globalisierung, die auf Neuverteilung des Welteinkommens von den reichen Ländern des Westens zu den aufstrebenden Regionen Asiens gerichtet sind. Auch sind wir einem Rückgang unserer Bevölkerung bei zunehmender Alterung ausgeliefert, was zu einer Überbeanspruchung unserer Sozialsysteme führt. Die Sonderlasten der Wiedervereinigung sind uns schließlich von der Geschichte ebenso auferlegt, wie es der Mangel an Kapital ist, den andere Nationen, die keine Niederlagen in zwei aufeinanderfolgenden Weltkriegen zu verkraften haben, nicht kennen.

Was wir aber tun und dadurch die uns auferlegten Lasten erträglicher gestalten können, ist, eine Reihe von machbaren Projekten in Angriff zu nehmen, die im Sinne von Horst Köhler den Vorzug haben, nicht wirklich teuer zu sein. Sie kosten allerdings den Mut, die Dinge, die es zu bewältigen gilt, mit Neuem Denken anzugehen. Dazu gehört, dass wir uns von den hohen Steuer- und Abgabenlasten befreien, zusätzlich die prohibitiv hohen Arbeitskosten durch zumindest Teilabbau der Lohnnebenkosten senken und schließlich das veraltete Arbeits- und Tarifrecht den grundlegend veränderten Verhältnissen der Zeit anpassen, um auf diese Weise die Unterbeschäftigung von Millionen arbeitsbereiter Mitbürger auf ein erträglicheres Maß zurückzuführen. Auch können wir auf die zu Zeiten ungeordnete Zuwanderung in unsere schon durch interne Ungleichgewichte überforderten Sozialsysteme Einfluss nehmen. Mit diesem Bündel an Maßnahmen könnte, worauf es jetzt vor allem ankommt, dem grassierenden Verlust an Vertrauen in die politische Führung und in Politik schlechthin begegnet werden. Die psychologische Voraussetzung für Umkehr und Zuversicht in eine bessere Zukunft wäre geschaffen.

Zusammengefasst hieße die Reformformel, die in die Aufwandsseite des Staatshaushalts mit einer Null-Buchung einzustellen wäre: Runter mit Steuer- und Abgabensätzen, Lohnnebenkosten, Bürokratiebarrieren und Gesetzeshürden – rauf mit Beschäftigung, Einkommen und Staatseinnahmen.

Sozialpartnerschaft im neuen Gewand

Das Neue Denken sollte mit dem Besinnen auf alte Stärken beginnen. Das Erfolgsmodell des Wiederaufstiegs Deutschlands nach dem totalen Zusammenbruch zu einer der führenden Wirtschaftsmächte der Welt bestand in einer einzigartigen Gemeinschaftsleistung. Sie wurde unter kluger politischer Führung im Zusammenwirken aller sozialen Gruppen erbracht. Die politischen Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die Regierungen in Bund und Ländern, Handwerk, Landwirtschaft, Mittelstand und Industrie sowie Wissenschaft und Forschung, führende Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Finanzwelt, aus Bundesbehörden, gemeinnützigen Organisationen und Sozialversicherungsträgern, Repräsentanten der Kirchen, des kulturellen Lebens, der Justiz und der Bundeswehr, sie alle haben im Verein mit einer leistungsbewussten Arbeitnehmerschaft ihren Teil zum weltweit bewunderten deutschen Wiederaufbau beigetragen.

Es ist an der Zeit, sich der Gründe zu erinnern, auf denen dieses beispiellose Gemeinschaftswerk beruht. Solidarisches Einvernehmen und gegenseitige Anerkennung der Beiträge der einzelnen Gruppen zum Ganzen spielten eine entscheidende Rolle. Die konstitutionellen Formen, die diesem Zusammenspiel der sozialen Gruppen unterlegt wurden, sorgten für den dauerhaften Bestand dieses Erfolgsmodells über ein halbes Jahrhundert hinweg. Die Überwindung der Teilung Europas, das wirtschaftliche Erstarken großer Teile Südostasiens, die Revolutionierung von Wirtschaftstechnik und Kommunikation haben die sozialen Verhältnisse am Übergang vom 20. in das 21. Jahrhundert im weltweiten Maßstab Erschütterungen ausgesetzt.

In den alten Industrieländern, die ihren Wohlstand dem beherrschenden Beitrag industrieller Wertschöpfung verdankten, ist dieser Anteil inzwischen auf ein Viertel des Sozialprodukts zurückgegangen. Längst sichern wissensbasierte Dienstleistungen das Gros von Massenbeschäftigung und Volkseinkommen auch in Deutschland. Arbeits- und Tarifrecht, die einst zur Regelung industriewirtschaftlicher Abläufe geschaffen wurden, haben daher ihre Passfähigkeit für die Gestaltung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse in einer grundlegend veränderten Wirtschaftswelt verloren. Im Unterschied zu vielen unserer Nachbarn tut sich Deutschland schwer, die Transformation dieser veralteten und nicht mehr greifenden Regelwerke in ein zeitgemäßes Wirtschafts- und Arbeitsrecht zu vollziehen. Stattdessen weicht man im Streit um neue Lösungen immer wieder in ideologische Grabenkämpfe im Stil längst vergangener Zeiten aus. Das ist der Vorreiterrolle Deutschlands, mit der Sozialen Marktwirtschaft ein beispielgebendes Modell moderner Sozialpartnerschaft geschaffen zu haben, nicht würdig.

Grundbedingung für den Erfolg der Sozialreform ist es daher, dass die politischen Lager und Tarifparteien im gegenseitigen Respekt vor dem Beitrag, den beide Seiten zum gedeihlichen Miteinander geleistet haben, auf den Weg einer konstruktiven Partnerschaft auch bei den großen Fragen wieder zueinanderfinden, nachdem die Zusammenarbeit auf vielen Arbeitsebenen „vor Ort“ unverändert zufriedenstellend verläuft. Zur Brücke gemeinsamen Handelns könnte die Einsicht gereichen, dass der Umbau der Sozialsysteme und des Tarifrechts zur Sicherung erkämpfter gesellschaftlicher Standards und Arbeitnehmerrechte unumgänglich wird, wenn tatsächlicher Sozialabbau vermieden und Massenarbeitslosigkeit überwunden werden sollen.

Wichtige Bausteine des neuen sozialpolitischen Ordnungsrahmens bleiben Tarifautonomie und Rolle der Gewerkschaften bei der Vertretung der Arbeitnehmerinteressen gegenüber den Arbeitgeberverbänden. Was veränderungsbedürftig ist, sind die Inhalte der Tarifverträge, die sich statt an frühindustriellen an den heutigen Arbeitsverhältnissen ausrichten müssen, wenn die zu vereinbarenden Regelungen für die Arbeitnehmerschaft wirklich von Nutzen sein sollen. Angesichts der veränderten Wirtschaftsstrukturen erweisen sich Flächentarifentgelte und zentral verordnete Arbeitszeitregelungen in vielen Fällen als kontraproduktiv für sowohl Beschäftigungserhalt als auch Neueinstellungen. Es geht auch nicht länger nur um die Regelung von Ein-Job-Arbeitsverhältnissen, wo in der Globalisierung Mehrfachbeschäftigungen besser geeignet sein können, die enger gewordenen Kostenspielräume vieler Unternehmen mit den Einkommensvorstellungen der Arbeitssuchenden in Einklang zu bringen.

Worauf es den Werktätigen unter den Bedingungen moderner Dienstleistungsökonomie ankommt und wo sie des gewerkschaftlichen Flankenschutzes mehr denn je bedürfen, ist die Erhaltung durchgehender Beschäftigungsbiografien auch bei wechselnden beziehungsweise mehreren nebeneinander bestehenden Beschäftigungsverhältnissen. Dabei ist die Sicherung ihrer Erwerbsfähigkeit („employability“) im Zyklus ihres Erwerbslebens von alles entscheidender Bedeutung. Dies kann zum einen durch tarifvertraglich zu regelnde Berufsstudienzeiten im Rahmen bestehender Beschäftigungsverhältnisse geschehen. Noch wichtiger ist es, diese Aufgabe bei betriebsbedingter oder Eigenkündigung außerhalb laufender Arbeitsverträge zu organisieren und zu finanzieren. Neue Formen entlohnter beruflicher Weiterbildung bieten für diesen Zweck einen unkonventionellen Lösungsansatz für ein altes Problem.

Ein weiteres sozialpolitisches Projekt, das unter den gewandelten Verhältnissen nachindustrieller Erwerbsarbeit ins Zielgebiet gewerkschaftlichen Handelns rückt, ist die Alterssicherung. Hier geht es um die tarifvertragliche Flankierung beim Aufbau einer kapitalgedeckten zweiten Säule der Ruhestandsbezüge.

Im Fazit hat die Neugestaltung der Sozialpartnerschaft nichts mit einem Einfordern gewerkschaftlicher Mitwirkung beim Rückbau sozialer Sicherung zu tun. Es geht vielmehr um einen zeitgemäßen Schwenk des sozialpolitischen Aktionsradius: Weg von nicht mehr flächentariflich regulierungsbedürftigen Tatbeständen wie Stundenlohn und tägliche Arbeitszeit – hin zu tarifpolitischer Flankierung der Durchsetzung von Allgemeingültigkeitsregelungen für berufliche Weiterbildung und Alterssicherung.

Öffnung der Arbeitsmärkte mit neuem Tarifrecht

Ohne eine grundlegende Tarifrechtsreform werden alle Bemühungen, die Unterbeschäftigung auf ein erträgliches Maß zu reduzieren, wie bisher ins Leere laufen. Auch machen hilfsweise Lockerungen des flächengebundenen Tarifrechts wenig Sinn, wenn dieser industriewirtschaftlich begründete Regulierungskodex grundsätzlich am Regulierungsbedarf nachindustrieller Arbeitsverhältnisse vorbeigeht.

Den Tarifparteien öffnet sich angesichts dieser Lage die Chance, die Initiative für eine Europäisierung des Tarifvertragsrechts zu ergreifen. Dabei sollte das Konzept eines „EU-Tarifvertrags neuer Zeitrechnung“ von der Idee der Liberalisierung des Arbeitsrechts in Anlehnung an das Modell der deutschen Währungsreform nach dem Krieg getragen sein. Auch heute geht es auf den Arbeitsmarkt bezogen um Beendigung der Bewirtschaftung eines Angebots, das am Markt ausreichend verfügbar ist, sobald es von den Fesseln der Mangelwirtschaft befreit wird.

Die Arbeitsmarktreform ist auf zwei Ziele auszurichten. Eine Neubestimmung der zu regelnden Tatbestände ist mit einer Anpassung der tarifvertraglichen Gestaltungsnormen an die veränderten Arbeitsverhältnisse der heutigen Wirtschaft zu verbinden. Das ordnungspolitische Konzept, wettbewerbliche Regulative für Löhne und Arbeitszeiten im makroökonomischen Rahmen festzulegen, machte in einer geschlossenen Volkswirtschaft Sinn. Unter den Bedingungen der Europäisierung und Globalisierung der Märkte greift es nicht mehr. Dieser überholte Ansatz wirkt unter den gegebenen Verhältnissen eher kontraproduktiv, weil die international durchschlagenden Wettbewerbskräfte eine starke Sogwirkung auf Beschäftigungsverlagerungen auslösen: ins Ausland und in die Schattenwirtschaft.

Eine Aufhebung der Flächentarife für Entgelt- und Arbeitszeitregelungen ist daher genauso geboten, wie den Kündigungsschutz durch zeitgemäße Formen der Sicherung von Arbeitnehmerrechten zu ersetzen. Statt großräumiger, branchenweiter und auf Dauer angelegter Regulierungen sind kleinteilige und marktlagenabhängige Lösungen anzustreben. Für die Lohnpolitik erfordert Beschäftigungssicherung unter den Bedingungen der Globalisierung betriebsindividuelle Entgeltregeln und Zulassung von Mehrfachbeschäftigungen. Für den Problembereich der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse bietet sich die Einführung von Dienstleistungsschecks an.

Für die Neugestaltung der Arbeitszeittarife haben sich bereits heute in vielen Fällen betriebsindividuelle Jahresarbeitszeitkonten bewährt. Auch für den öffentlichen Dienst spricht vieles für den Übergang auf Jahresarbeitszeitregelungen. Im Bereich der Wirtschaft stellen die Arbeitsbedingungen in der Industrie und in der Dienstleistungsökonomie unterschiedliche Anforderungen an eine beschäftigungssichernde Arbeitszeitreform. Während in der Industrie die Maschinenlaufzeiten unverändert das Vollzeitbeschäftigungsmodell protegieren, werden in Handwerk, mittelständischer Wirtschaft, Kleingewerbe und Dienstleistungen vielfach Fleximodelle von Teilzeitarbeit in Kombination mit Mehrfachbeschäftigungen das Bild der Arbeitswelt bestimmen.

Bei der Reform des Kündigungsschutzes wird es vor allem zu branchenspezifischen und zeitlich flexibler zu handhabenden Lösungen kommen müssen. Beschäftigungsdauerabhängige Abfindungsregelungen dürften sich unter dem Aspekt eines fairen Interessenausgleichs in vielen Fällen als tragfähige Alternativen zu den heute in Ernstfall wirkungslosen Schutzvorkehrungen erweisen.

Das im Kapitel VI dargestellte Dienstleistungsscheck-Verfahren zur Erschließung, Verteilung und Abrechnung von Niedriglohnarbeit kann bei der Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit von weittragender Bedeutung sein. Auch hier bildet die Zulassung von Mehrfachbeschäftigung die arbeitsmarktpolitische Brücke zur Lösung eines Kernbereichs des Arbeitslosenproblems. Das Entlohnungs- und Beschäftigungsmodell des multiplen Dienstleistungsschecks ist von seinem Aufbau her resistent gegen Umgehungstatbestände und es neutralisiert aus sich heraus Mitnahmeeffekte. Es generiert im Problembereich der Niedriglohnarbeit Vollzeitbeschäftigung durch Kombination von Teilzeitjobs. Indirekt setzt es eine Mindestlohnregelung in Kraft, deren ordnungspolitische Unverfänglichkeit in der formlosen Übereinkunft von Arbeitgeber und Arbeitnehmer besteht, dass für die Zahlung eines 400-Euro-Monatsschecks in etwa eine 12-Stunden-Wochenleistung erwartet wird, wobei individuelle Abweichungen von dieser Norm im gegenseitigen Einvernehmen zu regeln sind.

Bei einer Gewährung von bis zu zwei Schecks je Arbeitgeber und Beschäftigungsverhältnis sind mit dieser Methode in der Kombination von zwei, drei oder mehr Beschäftigungsverhältnissen bei akzeptablem Zeitaufwand Vollzeiteinkommen zu erwirtschaften, die bei geltendem Arbeits- und Tarifrecht nicht zu erzielen sind; zumal die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse von Lohnsteuer und Sozialabgaben freigestellt sein sollen und die Schecksumme Brutto gleich Netto zur Auszahlung kommt. Der geregelten Erschließung von Beschäftigung in diesem Segment des Arbeitsmarktes kommt entgegen, dass bei entsprechender Freigabe diese 400- bzw. 800-Euro-Jobs in Privathaushalten, Handwerk und Kleingewerbe, in Kommunen und gemeinnützigen Einrichtungen in nahezu unbegrenztem Umfang verfügbar sind. Diese Initialzündung für Massenbeschäftigung und Massenkaufkraft verbunden mit erheblicher Entlastung von Sozialkassen und Staatshaushalt und nicht zuletzt Rückgewinnung von Selbstwertgefühl für Millionen betroffener Mitbürger sollte es lohnend erscheinen lassen, bei einem bisher unlösbar erscheinenden Problem einen unkonventionellen Versuch zu wagen.

Im Gefolge einer generellen Liberalisierung der Arbeitsmärkte rücken anstelle der heutzutage kaum mehr regelungsbedürftigen Tatbestände von Stundenlohn und täglicher Arbeitszeit arbeitsmarktpolitische Kriterien ganz anderer Art in den tarifvertraglichen Fokus. Zum wirksamen Abbau von Massenarbeitslosigkeit im Bereich qualifizierter Berufstätigkeiten werden Beschäftigungsverträge zukünftig zunehmend Allgemeingültigkeitsregelungen für zwei Themenbereiche erfordern. Zum einen geht es zur Förderung beruflicher Weiterbildung um die tarifvertraglich gesteuerte Einführung arbeitszeitanteiliger Berufstudienzeiten. Das zweite Mammutprojekt zur Herbeiführung eines nachhaltigen Sozialausgleichs ist der sukzessive Aufbau einer zweiten Säule kapitalgedeckter Einkommenssicherung im Wege einer obligatorischen Investivlohnregelung.

Dauerbeschäftigung durch Verwebung von Bildung und Arbeit

Die bisherige Erfolglosigkeit der Reformpolitik ist weniger auf die Leere der Haushaltskassen als auf das Fehlen strategischer Politikansätze zurückzuführen. Der Wähler ist es leid, ständig mit Schlagworten wie Wachstum, Innovation und Beschäftigung bedient zu werden, die schon beim Start in die letzte und vorletzte Legislaturperiode eine konzeptionelle Unterfütterung vermissen ließen. So wurzelt die zunehmende Politikverdrossenheit in der Erfahrung, dass die Versprechungen, die Dinge zum Besseren zu wenden, nicht nur nicht eingelöst werden sondern statt dessen eine Verschlechterung der Verhältnisse eintritt.

Um der daraus folgenden Gefahr massenpsychologischer Aufladungen in Richtung deflationärer Entwicklungen entgegenzuwirken, bleibt gar keine andere Wahl, als die Wende mit einem grundlegend neuen integrativen Strategieansatz einzuleiten. Eingebunden in eine Öffnung der blockierten Arbeitsmärkte einschließlich einer wirksamen Regulierung des Niedriglohnsektors können Milliardenbeträge des zu Teilen funktionslos gewordenen Sozialbudgets für eine großangelegte Weiterbildungsoffensive gewonnen werden. Wenn die weitgehend auf Qualifizierungsdefiziten beruhende Massenarbeitslosigkeit das Sozialsystem unter den herrschenden Verhältnissen zu überfordern droht, sollte das Pferd statt vom Schwanz vom Kopf her aufgezäumt werden. Da der Reform-Euro nur einmal ausgegeben werden kann, sollte er nicht länger in die Alimentierung von Beschäftigungslosigkeit sondern in die Finanzierung von Qualifizierung des arbeitslosen Fachpersonals gesteckt werden. Nur das kann nach Lage der Dinge jene Wachstumsimpulse für die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung ingangsetzen, um die sich die Politik bisher vergeblich bemüht hat.

Ganz oben auf der Agenda des Regierungsprogramms der neuen Bundesregierung sollte daher das Projekt eines „Berufsbildungsrahmengesetzes“ stehen, das eine Neuausrichtung sozialer Sicherung mit einer zeitgemäßen Reform der Arbeitsmarkt- und Weiterbildungspolitik verbindet. Ziel ist eine nachhaltige Beschäftigungssicherung durch Einbindung des aufstrebenden dritten Bildungssektors der Beruflichen Weiterbildung in die Erwerbsarbeit. Dabei wird die zunehmende Verwebung von Bildung und Arbeit zu durchgängigen Beschäftigungsbiographien im Wege der Umwandlung von Aus- und Weiterbildung in eine neue Art von Erwerbsarbeit gefördert. Die Entlohnung der Erwerbsarbeit „Weiterbildung“ erfolgt im Rahmen bestehender Beschäftigungsverhältnisse über tarifvertragliche Vereinbarungen, in die Arbeitgeber bezahlte anteilige Arbeitszeit und Arbeitnehmer freiwillige Zusatzzeiten für Weiterbildungskurse (Berufsstudienzeiten) einbringen. Für jeden Arbeitnehmer sollen mit dieser Weiterbildungsinitiative beginnend mit dem Einstieg in das Erwerbsleben im Laufe der ersten Berufsjahre bis zu 5 Prozent arbeitszeitanteilige Berufsstudienzeiten aufgebaut werden. Sie sollen das gesamte Erwerbsleben den jeweiligen betrieblichen Erfordernissen angepasst begleiten.

Bei Unterbrechung von Beschäftigungsverhältnissen durch betriebsbedingte oder Eigenkündigung erfolgt ein nahtloser Übergang in außerbetriebliche berufliche Bildungsarbeit, die im wesentlichen über die Berufliche Weiterbildungsversicherung finanziert wird. Sie tritt an die Stelle der heutigen Arbeitslosenversicherung. Ergänzende Finanzierungsbeiträge können im Wege steuerlicher Bildungsförderung und/oder Berufsstudiendarlehen aufgebracht werden. Die Umwidmung der Arbeitslosenversicherung in die Berufliche Weiterbildungsversicherung ist der wichtigste Baustein des integrativen Reformansatzes zur Bekämpfung herkömmlicher Arbeitslosigkeit. Die diesem Systemwechsel zugrunde liegende Idee ist es, an die Stelle der Exklusion des seinen Arbeitsplatz verlierenden Arbeitnehmers seine Inklusion in ein weiter laufendes, seiner Qualifizierung dienendes Beschäftigungsverhältnis zu setzen. In Verbindung mit der Dienstleistungsscheck-gesteuerten Regulierung des Niedriglohnsektors kommt es mit der Einführung der Beruflichen Weiterbildungsversicherung zu einem doppelten Entlastungseffekt für die Sozialsysteme.

Da Unterstützungszahlungen für Beschäftigungslose im Niedriglohnsektor nach Einführung des multiplen Dienstleistungsscheck-Verfahrens systembedingt nur noch in begrenztem Umfang auftreten und aus einem gesondert finanzierten Solidarfonds aufgebracht werden können, sind Anspruchsberechtigte für Leistungen aus der Beruflichen Weiterbildungsversicherung in der Regel fachlich qualifizierte Arbeitnehmer. Auch sie werden unter den Bedingungen offener und flexibel reagierender Arbeitsmärkte in erheblich geringerem Umfang und in deutlich kürzeren Intervallen auf Transferleistungen ihrer neuen Versicherung zurückgreifen. Das wird dazu führen, dass die Leistungsfähigkeit der neuen Versicherung als Folge des allgemeinen Beschäftigungsanstiegs gegenüber dem geltenden System erheblich verbessert wird. Einem deutlich steigenden Beitragsaufkommen stehen wegen verminderter Inanspruchnahme deutlich niedrigere Leistungsabflüsse gegenüber, so dass es im Unterschied zu den heutigen staatsschuldsteigernden Zuweisungen aus Haushaltsmitteln an die Arbeitslosenversicherung zum Aufbau von Leistungsreserven in der Beruflichen Weiterbildungsversicherung kommen wird. Die daraus fließenden Überschüsse können wahlweise zu Infrastrukturinvestitionen im Weiterbildungssektor oder zu Beitragssenkungen für die Versicherten genutzt werden.

Über die aktive Berufsphase hinaus ist die Strategie des LebensLangenLernens sowohl auf Vermeidung von Jugendarbeitslosigkeit beim Einstieg in das Berufsleben als auch auf altersadäquate Beschäftigungsformen in der Ausstiegsphase gerichtet. Mit der Einrichtung von Ausbildungswerkstätten für Praktische Berufe (AfP) wird eine Berufsschulpflicht auch für jene Hauptschüler eingeführt, die zunächst keine Ausbildungsverträge in Wirtschaft und Verwaltung erhalten. Ihre Chancen auf Beschäftigung sollen gerade in der Einstiegsphase des Berufslebens verbessert werden. Die Zeitansage des neuen Sozialbegriffs in der nachindustriellen Wissensgesellschaft „Sozial ist, was Arbeit schafft“ findet in diesem beschäftigungspolitischen Neuansatz exemplarischen Ausdruck. Das neue Reformdenken der Verknüpfung von Arbeitsmarkt-, Sozial- und Bildungspolitik konkretisiert sich in diesem Projekt systematischer Ausschließung von Jugendarbeitslosigkeit auf sinnfällige Weise.

Gesundheitsvorsorge nach dem Baukastenverfahren

Eine durchgreifende Reform der Sozialsysteme zu betreiben mag angesichts der bisherigen Erfolgslosigkeit ähnlich aussichtslos erscheinen, wie die Quadratur des Kreises herbeiführen zu wollen. Geht es doch darum, die Versorgung mit sozialen Gütern zu verbessern und zugleich die dabei entstehenden Kosten zu senken. Über allem steht die politische Forderung, der auswuchernden Sozialbürokratie mit einer Schlankheitskur zu begegnen, um dem Reformziel von mehr Wachstum und Beschäftigung auch auf diesem Wege beizukommen. Unter den die Lebensrisiken Krankheit, Alter, Pflege und Arbeitslosigkeit absichernden Einrichtungen ist die Krankenversicherung die kostenträchtigste. Sie wird im Unterschied zu den übrigen Sozialversicherungen während der gesamten Dauer des menschlichen Lebenszyklus in Anspruch genommen.

Das traditionelle Verfahren, das Aufbringen der Krankenversicherungsbeiträge mit dem Beschäftigungsverhältnis zu verknüpfen und die Arbeitgeber zur Hälfte zu beteiligen, hat sich als eine der Ursachen der strukturellen Arbeitslosigkeit erwiesen. Entsprechend umkämpft sind die Versuche, in diesem Kreuzungsbereich sozialer Sicherung und volkswirtschaftlicher Produktivität einen Entlastungsschnitt anzusetzen. Da das Ziel, mit einer Reform der Sozialsysteme die Chancen für mehr Wachstum und Beschäftigung zu erhöhen ohne eine deutliche Absenkung der Lohnnebenkosten nicht erreichbar erscheint, bleibt kaum eine andere Wahl, als bei den Aufwendungen für die Gesundheitsvorsorge eine Abkoppelung des gewichtigsten Nebenkostenfaktors von den Arbeitskosten zu vollziehen.

Aber nicht nur die Wirtschaft, auch die Versicherten selbst sollen aus der Gesundheitsreform mit einer Verbesserung ihrer Lage hervorgehen. Schließlich soll der Sozialausgleich, der auch einkommensschwachen Gruppen den gleichberechtigten Zugang zur Gesundheitsversorgung sichert, gewahrt bleiben. Angestrebte Entlastungen auf der einen Seite erfordern wie in jeder Bilanz, so auch hier, Gegenbuchungen auf der anderen Seite. Da der Staatshaushalt als Lückenbüßer ausscheidet, kann das Heil der Gesundheitsreform nur in einem Systemwechsel gesucht werden, der über Effizienzgewinne einer völligen Neuorganisation den geforderten Ausgleich schafft.

Die Kostenträchtigkeit des Gesundheitswesens ist nicht in erster Linie, wie es die herrschende Meinung wahrhaben will, auf teure medizinische Behandlungen, Geräte oder Medikamente zurückzuführen. Es ist die Unwirtschaftlichkeit der zentralverwalteten Gesundheitsbürokratie, die Milliardenbeträge des Beitragsaufkommens der Versicherten außerhalb des medizinischen Versorgungsbereichs versickern lässt. Hier kann nur der Übergang in eine sozial-marktorientierte Gesundheitsökonomie weiterhelfen, die mit Wahlmöglichkeiten, Leistungsanreizen und Einbau wettbewerblicher Regulative die Kosten im Zaum hält. Wenn dies in allen drei Teilsektoren des Gesundheitswesens, bei den Kassen, in der medizinischen Versorgung und im Arzneimittelhandel in gleicher Wiese geschieht, wird der Versicherte aus der Summe dieser Verbilligungseffekte eine deutliche Besserstellung gegenüber den heutigen Verhältnissen erfahren.

Wichtigster Baustein dieses Reformansatzes ist die Neuregelung der gesetzlichen Krankenversicherung. In der politischen Diskussion stehen sich das Gesundheitsprämien-Modell und die Bürgerversicherung als alternative Konzepte der Krankenversicherungsreform gegenüber. Da sich aus Gründen der demographischen Entwicklung ein Versicherungsmodell verbietet, das am Umlageverfahren der gesetzlichen Kassen orientiert bleibt, kann die Wahl nur auf das kapitalgedeckte Prämiensystem fallen. Die Prämie soll pro Kopf 160 Euro und für das erste Kind 60 Euro betragen. Der Sozialausgleich erfolgt durch Einführung einer Beitragsbemessungsgrenze, die bei 12 Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens liegen soll.

Nach holländischem Modell soll die gesetzliche Krankenversicherung in eine Gesundheitsversicherung nach dem Baukastenverfahren überführt werden: in eine Standardversicherung, die bei freier Kassenwahl und Kontrahierungszwang für sämtliche Kassen obligatorisch für alle, auch für Beamte und Selbständige, ist; sowie in freiwillige Zusatzversicherungen, mit der individuelle Sonderleistungen nach Wahl abgerufen werden können. Die heutige gesetzliche Krankenversicherung würde ihre marktbeherrschende Stellung verlieren und sich dem Wettbewerb der anderen Anbieter am Versicherungsmarkt stellen müssen. Eine Sonderregelung für chronisch Kranke ist berücksichtigt. Um dem Erfordernis der Familiengerechtigkeit zu genügen, wird die Prämie ab dem zweiten Kind bis zu einer Einkommenshöchstgrenze von der Gemeinschaft übernommen.

Der soziale Lastenausgleich der Standardversicherung, für den jährlich 30 Milliarden Euro aufzubringen sind, wird über einen Solidarfonds in Form des Bundessondervermögens „Nationale Gesundheitsvorsorge“ (NGV) herbeigeführt, der in der Startphase mit 200 Milliarden Euro ausgestattet sein soll. Die kapitalgedeckte Finanzierungsform der Standardversicherung soll auf diese Weise auch für die Aufbringung der Mittel zum Sozialausgleich gelten. Die haushaltsneutrale Finanzierung schützt nicht nur vor Rückgriff auf die Staatsfinanzen sondern schafft auch eine Hemmschwelle gegen Steuererhöhungen. Die Solidarleistungen werden sowohl aus den Erträgen des Sondervermögens als auch aus ergänzenden nichtstaatlichen Mitteln finanziert, die ihm zur Abwicklung des sozialen Lastenausgleichs aus Reformgewinnen des Übergangs auf das Standardversicherungsmodell zufließen.

Kostenwahrheit, leistungsstarke Versorgung und Sozialverträglichkeit in der Beitragsbemessung sind die Markenzeichen des reformierten Gesundheitswesens. Damit öffnet der Systemwechsel hin zu Kapitaldeckung und Integration in den Ordnungsrahmen der Sozialen Marktwirtschaft Spielräume für Lösungsansätze, die die heutige umlagefinanzierte Gesundheitsbürokratie nicht bieten kann.

Steuerreform im Dienste sozialer Sicherung

Die für das 21. Jahrhundert weichenstellende Umbruch-Triade von Globalisierung, demographischer Schere und digitaler Revolution hat den Sozialstaat herkömmlicher Art aus den Angeln gehoben. Hohe Dauerarbeitslosigkeit und anhaltende Überbeanspruchung der Sozialsysteme haben die Produktivkräfte der Volkswirtschaft auf dramatische Weise erlahmen lassen. Ein Drittel des Sozialprodukts muss Jahr für Jahr für die Finanzierung des Sozialbudgets aufgebracht werden und steht damit für Zukunftsinvestitionen nicht zur Verfügung.

Wachstumsschwäche, Unterbeschäftigung und Soziallasten sind zum Treibriemen für eine galoppierende Staatsverschuldung geworden, die Gefahr läuft, den Generationenvertrag außer Kraft zu setzen. Die deutsche Schuldenstandsquote, die die Verschuldung der öffentlichen Haushalte im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt misst, hat die alarmierende Höhe von 65 Prozent erreicht. Bei einem Ausgabevolumen des Bundes und der Länder von 638 Milliarden Euro (2003) sind allein für die Bedienung der Schulden Zinszahlungen in Höhe von jährlich 63 Milliarden Euro zu leisten. Diese Summe entspricht in etwa dem Investitionsaufwand, der für einige Jahre erforderlich wäre, Deutschland in den Bereichen Bildung und Forschung wieder auf die Höhe der Zeit zu bringen. Da die Mittel unter den gegebenen Bedingungen für diesen Zweck nicht verfügbar sind, sind die Bedingungen so zu verändern, dass die Mittel wieder verfügbar werden.

Daher ist eine Reformstrategie, die sich angesichts dieser Lage darauf beschränkte, die enger gewordenen Handlungsspielräume innerhalb des baufällig gewordenen Sozialstaats neu zu verteilen, aus sich heraus zum Scheitern verurteilt und müsste ins Abseits führen. Das System auf eine Weise neu zu organisieren, dass die für die Zukunftsbewältigung nötigen Kraftreserven erst einmal wieder freigesetzt und in Stellung gebracht werden, ist das Gebot, dem sich Reformpolitik, die den Ansprüchen der Zeit gerecht werden will, zu stellen hat.

Was sich in Jahrzehnten an Versäumnissen aufgetürmt hat, kann auch bei bestem politischen Willen nicht über Nacht zum Besseren gewendet werden. Ein katastrophales Politikversagen aber wäre es, die Zeichen der Zeit zu missachten und sich dem Weg der Umkehr zu verweigern. Bundespräsident Köhler hat darauf hingewiesen, dass das Einschwenken auf den Reformweg an Finanzfragen nicht scheitern müsse. Schon das Verständnis, dass es sich bei der Reform der Sozialsysteme um ein Verbundprojekt handelt, das bei gleichzeitigem Anpacken auch der Reformfelder Arbeitsmarkt und Bildung, Steuer, Gesundheit und Alterssicherung zu synergetischen Ergebnissen führt, kann zum Einstieg in die Wende werden.

So schafft eine zügig auf den Weg gebrachte Arbeitsmarktreform, die ohne Einsatz von Milliardenbeträgen zu haben ist, unmittelbar wirksame Entlastungen für die Sozialhaushalte. Auch die Anpassung des Bildungssystems an die heutigen Erfordernisse kann im ersten Schritt durch finanzneutrale politische Entscheidungen auf den Weg gebracht werden, wenn eines der zentralen Reformziele, die tendenzielle Umschichtung der Sozialhaushalte in den nationalen Bildungs- und Forschungsetat nicht aus dem Auge verloren wird.

Dass das am schnellsten einsatzfähige Reformgeschütz der Steuerpolitik, zeitnah in Stellung gebracht, unmittelbare Wirkungen auf Wachstum und Beschäftigung zu entfalten vermag, ist mit der Regierungsvorlage der rot-grünen Bundesregierung zur Absenkung des Körperschaftssteuersatzes auf 19 Prozent vom Frühjahr 2005 erkannt worden. Das lässt auf analoges Handeln der neuen Regierung bei den Lohn- und Einkommensteuern hoffen. Denn in beiden Fällen ist im Ergebnis einer Senkung der Steuersätze und eingebunden in die Effizienzgewinne einer im Verbund anzugehenden Arbeitsmarkt-, Sozial- und Bildungsreform ein Mehraufkommen an Steuereinnahmen zu erwarten. Reduzierte Steuersätze lenken wegen der durch sie angeregten höheren Wirtschaftsaktivität mehr Einnahmen in die Staatskassen als wir das bei hohen Steuersätzen mit entsprechend passivem Wirtschaftsverhalten bisher erfahren haben.

Entscheidender aber ist, dass es bei der Senkung der Steuersätze nicht nur um generelle Entlastung sondern um Förderung von Eigeninitiative und Selbstverantwortung geht. Statt Staatsschuldvermehrung zur Finanzierung ausufernder staatlicher Bürokratie ist eine Weichenstellung der Haushaltspolitik in Richtung Rückbau komsumptiver Ausgaben sowie Abbau traditioneller Transferleistungen und dafür Schaffung eines Anreizsystems für Wertschöpfungen auf breitester Front das Ziel der Reform. Dabei fördert ein auf Kapitalbildung in Unternehmen und Privathaushalten orientiertes Steuersystem nicht nur die Steuerkraft von Wirtschaft und Bürgern, es kurbelt zugleich die Arbeitsplätze schaffenden Investitionen an und dient mittels privater Vermögensbildung der nachhaltigen Alterssicherung.

Die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand war ein Stiefkind der Reformpolitik der Regierung Schröder. So ist das Projekt einer kapitalgedeckten Alterssicherung im erfolglosen Versuch der „Riesterrente“ hängengeblieben. Die CDU hat in ihrem Reformprogramm „Wachstum – Arbeit – Wohlstand“ von 2004 alternativ die Idee des Investivlohns aufgegriffen, um mit seiner Hilfe die Soziale Marktwirtschaft zu einer „Gesellschaft von Teilhabern“ fortzuentwickeln. Warum sie dies erst fünfzig Jahre nach der Vorstellung dieser Idee durch Ludwig Erhard tat, gehört zu jener Unbeholfenheit, mit der Reformpolitik hierzulande seit Jahren betrieben wird.

Auch wenn die Erträge aus dem Investivlohn als zweiter Säule kapitalgedeckter Einkünfte in der Regel erst in der Nacherwerbsphase als Einkommensquelle verfügbar werden, können sie über die Alterssicherung hinaus für die soziale Sicherung im Ganzen eine wichtige Rolle spielen. Aufgebaut aus anteiligen Lohnzuwächsen als Ergebnis der Tarifrunden in den ersten Jahren der Erwerbstätigkeit und ergänzt um eine staatliche Sparförderprämie sollen mit der Investivlohnregelung jährlich 9 Prozent des Bruttoeinkommens der Arbeitnehmer zur privaten Kapitalbildung aufgebracht werden. Da es sich nach dem Muster der Sozialversicherung um eine allgemeinverbindlich für alle Arbeitnehmer geltende Regelung handeln soll, kann sich auf der Zeitachse eine ansehnliche Teilhabe der Arbeitnehmer am Produktivkapital der Volkswirtschaft entwickeln.

Über allem ist die Steuerreform auf Neuverteilung der Lasten zwischen den Generationen gerichtet. Indem die aktive Erwerbsgeneration ausreichend entlastet wird, erhält sie die Chance, ihre Lebensrisiken soweit wie möglich aus eigener Kraft beherrschbar zu machen. Was bisher im Umlageverfahren über die Rentenkassen bzw. im Rückgriff auf Vater Staat reguliert wurde und im Zuge demographischer Verwerfungen nicht mehr funktionieren kann, soll, wie im Fall der Investivlohnregelung, zukünftig ergänzend aus den Erträgen frühzeitig angesparten Kapitals bewältigt werden.

Bei der Vermittlung der Reformziele sind es sowohl die Bundesregierung als auch beide Volksparteien schuldig geblieben, die Politik der Steuerentlastung in einen kausalen Zusammenhang mit der existenziell notwendigen Verbesserung der Kapitalausstattung mittelständischer Unternehmen sowie der Privathaushalte zu stellen. Wo Einkommensteuern zu hoch sind, wird die private Kapitalbildung für eigenverantwortliche Lebensgestaltung behindert. Wo Unternehmensgewinne über Gebühr weggesteuert werden, wird die Investitionskraft geschwächt und es verschwinden auch die Arbeitsplätze.

In dem im Frühjahr 2005 erneut entfachten Streit um die Rolle des Kapitals in der modernen Wirtschaftsgesellschaft ist ablesbar, wie sehr im Denken selbst führender Repräsentanten der politischen Klasse die alten Ideologien des Klassenkampfes aus dem 19. Jahrhundert noch immer nachwirken. Das Propagieren von Kapitalfeindlichkeit in einer Krisensituation, deren Verursachung nicht zuletzt auf strukturellem Kapitalmangel beruht, geht an den Nerv der Reformfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland.

Auch an diesem Punkt wird offenbar, wie sehr es die politische Öffentlichkeitsarbeit bisher versäumt hat, die Mittel-Zweck-Beziehung zwischen Steuerreform und Wiedergesundung der Sozialsysteme zu vermitteln. Ohne Revitalisierung des historisch bedingt schwachen volkswirtschaftlichen Kapitalstocks bleibt dieses Ziel unerfüllbar. Statt um Sozialabbau geht es um Rückgewinnung von Wachstumsdynamik. Nicht zuletzt als Voraussetzung für die Einhaltung des Generationenvertrages, der auch der heutigen Erwerbsgeneration und ihren Nachkommen jene Chancen für soziale Wohlfahrt sichern soll, die die Älteren für sich beansprucht haben.

Die Schaffung von Freiräumen für Bürger und Unternehmen, ihre Dinge ihren Vorstellungen entsprechend eigenverantwortlich zu regeln, ist auf dieser Welt nur im Wege angemessener Kapitalbildung möglich. Insofern geht das Ziel der Sozialreform, auch in Deutschland wieder zu mehr Wachstum und Beschäftigung zu kommen, mit der Rückführung von Steuerlast und Staatsquote wie zwei kommunizierende Röhren einher.

aus: Agenda Arbeit 21, August 2005