Generationenvertrag nach Maß
Grundzüge einer modernen Steuerreform
aus: Agenda Arbeit 21

Wolfgang Müller-Michaelis

Nach einem Wort von Klaus von Dohnanyi unterscheidet sich Deutschland von anderen Ländern auch durch die hier herrschende Auffassung, dass Nation mit Sozialstaat gleichzusetzen sei. Das hierin liegende Problem ist, dass sich die intime Verbindung, die staatliches Gemeinwesen und soziale Vorsorge miteinander eingegangen sind, inzwischen als schwere Bürde auf dem Weg zu einer durchgreifenden Reform der Sozialsysteme erweist. Dass der Sozialstaat herkömmlicher Prägung kaum mehr überlebensfähig, weil nicht mehr finanzierbar ist, kann als Ausgangspunkt der reformpolitischen Bemühungen gelten, eine Anpassung sozialer Standards an die grundlegend veränderten Verhältnisse herbeizuführen. Worüber gestritten wird, ist die Frage, ob und inwieweit das überkommene Sozialsystem aus sich heraus noch korrekturfähig oder ob ein Systemwechsel von Grund auf geboten ist.

Angesichts der epochalen Umbrüche, die an der Jahrtausendwende zusammentreffen und in ihrer kumulierten Wucht die alten gesellschaftlichen Strukturen erschüttert haben, ist dieser Streit müßig. Er ist von der umwälzenden Tiefe der Kräfte-Triade, die die Weichen für das Leben im 21. Jahrhundert gestellt hat, längst entschieden: der Globalisierung, die nach Überwindung der Teilung Europas und des Ost-West-Gegensatzes die Öffnung der Grenzen und die daraus resultierende Liberalisierung des internationalen Handels mit sich brachte und die Lebensverhältnisse der Menschen weltweit auf einen Schlag verändert hat; der demographischen Schere, die mit zunehmender Alterung der Bevölkerung zur Überbeanspruchung der sozialen Sicherungssysteme bei gleichzeitigem Rückbau der finanziellen Basis führt, weil die jüngeren Jahrgänge immer geburtenschwächer werden und mit dem daraus folgenden Bevölkerungsrückgang der Mittelzufluss zu den Sozialkassen immer spärlicher wird; der digitalen Revolution, die mit großflächiger Ausbreitung der Informations- und Kommunikationstechnologien die Wertschöpfungsprozesse der Wirtschaft derart durcheinandergewirbelt hat, dass eine aktive Beschäftigungspolitik unter diesen grundlegend veränderten Verhältnissen nur in enger Verzahnung mit beruflicher Aus- und Weiterbildung Aussicht auf Erfolg verspricht.

Eine Reformstrategie, die in dieser Lage ihr Genüge darin suchte, die enger gewordenen Spielräume innerhalb der alten sozialen Architekturen neu zu verteilen, wäre aus sich heraus zum Scheitern verurteilt und müsste ins Abseits führen. Das System so zu richten, dass die für die Zukunftsbewältigung nötigen Kräfte überhaupt erst wieder entbunden werden, um sie zu freier Entfaltung zu bringen, ist das Gebot, unter dem Reformpolitik an dieser Zeitenwende allein zu denken und zu gestalten ist.

Wo Befähigung zu moderner Kommunikation und Aneignung von Wissen und seine intelligente Nutzung zu entscheidenden Bedingungen für das Erbringen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Leistungen geworden sind, muss vor allem das Bildungssystem, mit der Vorschule beginnend, auf Erziehung zu Selbständigkeit und Eigeninitiative, zur Entfaltung der individuellen Eigenkräfte und zu kreativem Denken gerichtet sein. Das heißt auch, dass soziale Sicherung unter diesen Bedingungen einen Bedeutungswandel erfährt und aktivierende Selbsthilfe zunehmend an die Stelle alimentärer Fürsorge tritt. Das ist der eigentliche Grund, weshalb die Anpassung des Bildungssystems zu einem zentralen Schwerpunkt der Reformpolitik werden muss, wobei Vorschule und Schule, Universität und Berufliche Weiterbildung in ihrer jeweils eigenständigen Bedeutung zu sehen und politisch entsprechend zu bedienen sind.

Den zweiten Schwerpunktbereich muss eine Einkommens- und Fiskalpolitik bilden, die die veränderten sozialen Ansprüche der Menschen zugleich im Wege subsidiärer Leistungsorientierung soweit wie möglich sowie auf solidarischen Sozialausgleich soweit wie nötig erfüllt. Liberalisiertes Arbeitsrecht und entlastende Steuerpolitik sind in gegenseitiger Ergänzung auf eine Einkommenspolitik auszurichten, die eine Lebensführung des Einzelnen in weitestgehender materieller Unabhängigkeit und Eigenverantwortung ermöglicht.

Diese Umorientierung des politischen Systems hat grundlegende Konsequenzen für eine Richtungsänderung staatlichen Handelns im sozialen Bereich. Sie erfordert vor allem bei vorübergehndem Verlust des Arbeitsplatzes einen von der Exklusion zur Inklusion gewandelten Sozialbegriff. Nicht der Finanzierung des Ausschlusses sondern dem zügigen Wiedereintritt in den produktiven Leistungsverbund muss die solidarische Unterstützung der Gemeinschaft gelten. Sozial wird zukünftig sein, was die Befähigung zur Erwerbstätigkeit fördert, was Arbeit schafft und ein lebenslanges Einkommen einschließlich der Alterseinkünfte für jedermann sichert. Entsprechend wird es verbunden mit einem Rückbau zu einer tendenziellen Umschichtung der Staatsausgaben zu Lasten alimentärer Sozialausgaben und zu Gunsten investiver Bildungsausgaben sowie Förderung privater Kapitalbildung für alle Einkommensschichten kommen müssen.

Damit beschreibt diese Schwerpunktverlagerung zugleich den Kraftakt, den Politik und Sozialpartner vollbringen müssen, wenn der Generationenvertrag auch unter den Bedingungen des 21. Jahrhundert erfüllt werden soll. Es geht um eine Neuverteilung der Lasten zwischen den Generationen, indem die aktive Erwerbsgeneration durch eine ausreichend starke Steuerentlastung die Chance erhält, ihre Lebensrisiken soweit wie möglich aus eigener Kraft beherrschbar zu machen. Was bisher im Umlageverfahren per staatlich organisiertem Solidarausgleich über die Rentenkasse und den Staatshaushalt reguliert wird und im Zuge der demographischen Verwerfungen nicht mehr ausreichend funktioniert, soll zukünftig ergänzend aus den Erträgen frühzeitig angesparten Kapitals bewältigt werden. Darum geht es bei der Sozial- und Steuerreform in erster Linie.

Der Grund für den Reformstau liegt nicht zuletzt in bisher unzureichender Fixierung dieses Reformziels und in inkonsequenter Umsetzung der zu seiner Verfolgung ergriffenen Maßnahmen. In dieser fehlenden Orientierung lag auch die zunehmend zögerliche Gefolgschaft der rot-grünen Regierung in den eigenen Reihen begründet. In ihrer Klientel ist die Sozialstaatsbindung aus ideologischer Nähe naturgemäß stärker ausgeprägt als im Mitte-Rechts-Lager. Dessen größere Reformbereitschaft kann sich zwar beim Überwinden parlamentarischer Hürden in den Gesetzgebungsverfahren als nützlich erweisen. Der unveränderten Vorherrschaft des Sozialstaatsdenkens ist aber mit taktischen Abstimmungsmanövern im Parlament allein nicht beizukommen.

Wenn sich im parlamentarischen Tagesgeschäft die Fraktionsmehrheit der SPD im Verein mit dem linken Flügel der CDU/CSU dem Sozialstaatsprinzip herkömmlicher Ausprägung weiterhin verpflichtet sieht, als bedürfe es eines Umdenkens gar nicht, sagt das über den Stand der Reformdebatte mehr aus, als die in den Programmen beider Volksparteien hierzu verfassten Proklamationen.

So hat es der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Joachim Poß, im Herbst 2004 namens seiner Fraktion als falschen Ansatz zurückgewiesen

Auch im Reformpapier der CDU „Wachstum – Arbeit - Wohlstand“ von 2004 spielte die einst so hoch gehandelte Steuerreform bis auf einen Verweis auf frühere Parteitagsbeschlüsse keine tragende Rolle. Offenbar gibt es im Denken der Verfechter der alten Lehre Dinge, die noch immer zu wenig aufgearbeitet sind, als dass man bereit wäre, sie im Dienste eines systemüberwindenden Neuansatzes zur Disposition zu stellen. Tatsächlich spielt das Reflektieren der Gründe für die unveränderte Präferenz für orthodoxe sozialstaatliche Regulierungen in der Reformdebatte bezeichnenderweise kaum eine Rolle. Dabei wäre eine Vergewisserung über die historischen Ursachen einer Gleichsetzung von Gemeinwesen und Sozialstaat, die eine hohe Besteuerung von Bürgern wie Unternehmen als gegeben annimmt, durchaus hilfreich für bessere Einsichten in das Wurzelgeflecht unserer Misere. Sie würde das Verständnis für die zukunftsgewandte Notwendigkeit der Reform und für mehr Akzeptanz der Einschnitte fördern, die auf dem Weg der Gesundung unabweisbar sind.

Im Rückblick auf die Geschichte seit Beginn des 17. Jahrhunderts wird offenbar, dass die geographische Mittellage Deutschlands mit seiner föderalen Struktur und dem Fehlen einer zentralen Herrschaftsgewalt das Land immer wieder zum Spielball seiner jeweils mächtigen Nachbarn machte. Als England, die Niederlande, Spanien, Portugal und Frankreich im Begriff waren, ihre Kolonialreiche zu errichten und auszubauen und damit die wirtschaftlichen Grundlagen ihres Aufstiegs zu modernen Nationalstaaten zu schaffen, lagen die deutschen Lande zu weiten Teilen zerstört darnieder. Sie hatten sich vom Aderlass des Dreißigjährigen Krieges nur schwer erholt. Vor allem der Nordwesten und der Nordosten Deutschlands, die zu Zeiten der Hanse in wirtschaftlicher und kultureller Blüte standen, tragen bis heute an den Folgen dieser einschneidenden Katastrophe am Beginn der Neuzeit.

Mit dem Aufstieg Preußens kam es gut hundert Jahre nach dem Westfälischen Frieden zum innerdeutschen Siebenjährigen Krieg, der Polen existenziell in Mitleidenschaft zog. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wurden weite Teile des Landes zu Kriegsschauplätzen und Besatzungszonen des napoleonischen Herrschaftsanspruchs, die Befreiungskriege weiteten die Kriegszeiten bis zur endgültigen Niederlage des Franzosenkaisers 1815 aus. Die Zeit des Vormärzes, die Revolution von 1848/49, der Preußisch-Österreichische Krieg von 1866 und der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 überschatteten weite Teile des 19. Jahrhunderts. Der alle vorhergehenden Katastrophen in den Schatten stellende „30jährige Krieg“ des 20. Jahrhunderts vom Beginn des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ist in der Erinnerung vieler Zeitgenossen noch lebendig. Die erst vor wenigen Jahren beendete Besatzungszeit in den östlichen Bundesländern ist es ebenfalls.

Das Fazit aus diesem historischen Schnellkurs zur Beleuchtung der Hintergründe, vor denen das Sozialklima der deutschen Gegenwart gesehen werden muss, ist bedrückend: Auf der Zeitachse zusammengeschoben gingen für weite Teile von Land und Leuten hundert Jahre der neueren deutschen Geschichte mit Krieg, Revolutionszeit und Besatzungsherrschaft einher. Die Beseitigung der Kriegsfolgen und die Fürsorge für die Kriegsopfer, für die Witwen und Waisen, für die Linderung materieller Not der um ihre Habe gebrachten Heimatvertriebenen und Flüchtlinge erwuchsen zu immer wiederkehrenden Solidarleistungsansprüchen an das Gemeinwesen. Der Sozialstaat hat als Kind der Not seine Wurzeln nicht zuletzt in diesen Untiefen der deutschen Nationalgeschichte.

Die Hürden, denen sich die Reformpolitik in diesem Zusammenhang gegenübersieht, bestehen aber nicht nur in der in Jahrhunderten eingeübten Schutzsuche der durch Krieg und Not wiederholt in Bedrängnis geratenen Menschen. Eine gleich schwerwiegende Hypothek besteht in der bis heute nachwirkenden materiellen Auszehrung des Landes. Unter den großen Industrienationen hatte kein Land ähnlich starke Verluste an Bevölkerung und Volksvermögen zu verkraften, wie dies für Deutschland gilt. Vor allem die neben den Zerstörungen beider Weltkriege in zeitlicher Aufeinanderfolge von wenigen Jahrzehnten auferlegten Vermögensabflüsse in Form von Gebietsabtretungen, Reparationen, Industriedemontagen, Lizenz-, Patent- und Markenkonfiskationen sowie Entschädigungsleistungen in bis heute nachwirkender Dimension hatten den volkswirtschaftlichen Kapitalstock des Landes erheblich dezimiert. Der Aderlass schlug so stark zu Buch, dass selbst die stürmische Wiederaufbauphase nach dem letzten Krieg an der prekären Unterkapitalisierung mittelständischer Unternehmen und an der vergleichsweise schwachen Vermögensausstattung der Privathaushalte wenig geändert hat.

Deutschland ist aufgrund dieses historischen Vorlaufs und daraus folgend ausgeprägter sozialstaatlicher Orientierung mit der europaweit höchsten Steuer- und Abgabenlast zum Schuldenstaat par excellence geworden. Die Staatsverschuldung hat die Rekordmarke von 1.400 Milliarden Euro überschritten. Von jedem zusätzlich verdienten 100 Euro Arbeitslohn müssen 66 Euro an Steuern und Abgaben abgeführt werden. Mit 48 Prozent gehört Deutschland zur Spitzengruppe der Länder mit den höchsten Staatsquoten der Welt. Das ist die Folge der Degeneration der einstmals fortschrittlichsten Forschungs- und Wirtschaftsnation zum „kranken Mann“ Europas, wo inzwischen 60 Prozent aller wahlberechtigten Bürger an einem der zahllosen staatlichen Transfertöpfe hängen.

In einem jüngeren internationalen Vergleich der Eigenkapitalausstattung mittelständischer Unternehmen liegen die Unternehmen in den USA mit einer Eigenkapitaldeckung ihrer Bilanzsumme mit 45 Prozent vor den Niederlanden mit 35 Prozent und Frankreich mit 34 Prozent. Die deutschen mittelständischen Unternehmen, denen wegen der Größe und der zentralen Lage ihrer Märkte eigentlich eine Lokomotivfunktion für die wirtschaftliche Entwicklung in Europa zukommen sollte, fallen mit nur 7,5 Prozent Deckungsquote des Eigenkapitals deutlich aus dem Rahmen.

Wurde die dünne Kapitaldecke vom starken Wachstum der Unternehmensumsätze, Masseneinkommen und Staatseinnahmen in den Jahrzehnten des Wiederaufbaus überdeckt, tritt diese kardinale Strukturschwäche des Landes in Zeiten lang anhaltender stagnierender Wirtschaftsentwicklung umso deutlicher zutage. Vierzigtausend deutsche Unternehmenszusammenbrüche im Jahr 2004 sprechen eine deutliche Sprache. Auch die nach dem Umlageverfahren konzipierten sozialen Sicherungssysteme, die in Zeiten dynamischen Wachstums reibungslos funktionierten, erweisen sich zunehmend als überfordert, wenn auf Dauer steigenden Leistungsansprüchen rückläufige Beitragseinzahlungen gegenüberstehen.

Wo aufgrund schwindender Wachstumskräfte die Mittelzuflüsse für Transferleistungen immer spärlicher werden, ist die Krise der Staatsfinanzen vorprogrammiert und der Generationenvertrag in Gefahr, außer Kraft gesetzt zu werden. Es sei denn, mit einer Politik der Revitalisierung der Leistungskräfte von Bürgern und Unternehmen werden die Voraussetzungen für ein Wiederankurbeln des Wachstumsmotors geschaffen. Den zündenden Funken für diesen Neubeginn kann nur eine staatliche Fiskalpolitik entfachen, die einen radikalen Rückbau der Steuer- und Abgabenlast im Verbund mit einem Abbau traditioneller Transferleistungen und einem Anreizsystem für Wertschöpfungen auf breitester Front zum Ziel hat.

Im privaten Bereich ist unter diesen Umständen eine stärker auf Kapitaldeckung zielende Absicherung gegen Lebensrisiken wie Krankheit und vorübergehende Nichtbeschäftigung sowie für eine ergänzende Alterssicherung die einzig sinnvolle Strategie, um der Probleme Herr zu werden. Bei der Vermittlung der Ziele der umfassenden Sozial- und Steuerreform sind es beide Volksparteien bisher schuldig geblieben, die vorgesehene Absenkung der Tarife sowohl für die Einkommensteuern wie für die Unternehmensbesteuerung in einen kausalen Zusammenhang mit der existenziell notwendigen Erhöhung der Kapitalausstattung für Privathaushalte und Wirtschaftsunternehmen zu stellen. Wo die Einkommensteuern zu hoch sind, wird die private Kapitalbildung für eigenverantwortliche Lebensgestaltung behindert. Wo die Unternehmensgewinne weggesteuert werden, wird die Investitionskraft geschwächt und es verschwinden auch die Arbeitsplätze.

Die politische Öffentlichkeitsarbeit hat bisher versäumt, diese Mittel-Zweck-Bindung der Steuerreform als unausweichlichen operativen Einschnitt zur Wiedergesundung der Sozialsysteme zu vermitteln. Statt Sozialabbau geht es um Rückgewinnung von Wachstumsdynamik als Voraussetzung für die Einhaltung des Generationenvertrages, der auch der heutigen Erwerbsgeneration und ihren Nachkommen jene Chancen für soziale Wohlfahrt sichert, die die Älteren für sich beansprucht haben. Nicht zuletzt aus Gründen eigener Existenzsicherung müssen die Älteren an der Festigung der Grundlagen dieses Vertrages interessiert sein, dessen Inhalt nichts mehr und nichts weniger als die konsequente Umsetzung der Reformpolitik ist.

Abbau der Staatsschuld und Öffnung der Spielräume für Investitionen in zukunftsträchtige und innovative Infrastrukturen umreißen das tragende Strategieziel der Reform. Konsequente Einsparungen in allen öffentlichen Haushalten, Reduzierung der Staatsaufgaben auf das unabdingbar notwendige Maß, Umschichtung der Staatsausgaben vom Sozialhaushalt auf Bildungs- und Forschungsförderung und eine verlässliche Perspektive für Steuersenkungen sind die übergreifenden Aktionsfelder der Reformpolitik.

Aus der Fülle der in den letzten Jahren vorgelegten Steuerreform-Modelle sollte es nicht schwerfallen, ein Reformkonzept auf den Weg zu bringen, das den weithin akzeptierten Zielvorstellungen entspricht: Ausgleich der öffentlichen Haushalte; Rückführung der Staatsquote in Richtung 40 Prozent; Entlastungen für Bürger und Unternehmen, um hinreichend große Selbstfinanzierungsspielräume für soziale Sicherung und verbesserte Eigenkapitalausstattung zu erreichen; Vereinfachung des Steuersystems, um auch auf diesem Wege ein Mehr an Steuergerechtigkeit zu schaffen.

Fiskalisches Leitziel sollte eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte in Bund, Ländern und Gemeinden sein, die in einem Vierjahresprogramm das Staatsdefizit zum Ausgleich bringt. Was auf den ersten Blick als illusorische Wunschvorstellung erscheint, entpuppt sich als machbarer Weg, wenn die vorhandenen Einsparmöglichkeiten systematisch erfasst und zu einem Konsolidierungskonzept zusammengefasst werden.

So können allein die mit Umsetzung der Arbeitsmarkt- und Sozialreform angestrebten Ausgabenkürzungen im Endeffekt zu jährlichen Einsparungen in zweistelliger Milliardenhöhe führen. In ähnlicher Größenordnung kann die Streichung staatlicher Finanzhilfen im Bereich der Wirtschaft angesetzt werden, zumal sie mit reduzierter Steuerlast ohnehin ihren Sinn verlieren. Ausgabenkürzungen im öffentlichen Dienst über Personalabbau und Arbeitszeitverlängerung sowie Rückführung von Gemeinschaftsaufgaben und Übertragung auf den Dritten Sektor stellen für sich allein ein erhebliches Einsparpotential dar und können einen in der Höhe mit den ersten beiden Positionen vergleichbaren Beitrag leisten.

Schließlich sind mit konsequenter Beschneidung des Missbrauchs öffentlicher Mittel und mit rigoroser Eindämmung öffentlicher Verschwendung in einem mittelfristigen Programm ebenfalls Milliardenbeträge generierbar. In der Summe sollten aus diesen Konsolidierungsmaßnahmen jährlich bis zu 30 Milliarden Euro Einsparungen bei sämtlichen Ausgaben der öffentlichen Hände innerhalb eines Vierjahreszeitraums keine überzogene Zielmarke sein. Dieses staatliche Sparprogramm soll natürlich nicht sein Genüge darin finden, die bisher Begünstigten schlichtweg zu verärgern, indem man ihnen ihre Vorteile entzieht. Der Staat selbst ist mit seinem Ausgabenverhalten Adressat der Reformansätze, indem er durch Mittelentzug nicht länger dazu verleitet wird, sauer erarbeitetes Geld der Bürger in falsche Kanäle zu pumpen.

Daher ist die Forderung nach „weniger Staat“ mit den Zielen des neuen Generationenvertrages identisch: die Weichen dafür zu stellen, dass zukünftig erheblich weniger der gemeinsam von Unternehmen und Bürgern erarbeiteten Wirtschaftsleistung durch die Staatsbürokratie umverteilt wird. Es sollte als Alarmzeichen gelten, wenn nach Berechnungen des Bundes der Steuerzahler jährlich 30 Milliarden Euro staatlicher Mittel, die vorher von den Lohnzetteln der Arbeitnehmer abgezogen wurden, auf zum Teil abenteuerliche Weise verschwendet werden. Mit dieser Summe allein könnte der im Rahmen der Gesundheitsreform zur gerechteren Lastenverteilung erforderliche Sozialausgleich finanziert werden.

Den in seiner Entlastungswirkung umfassendsten Reformentwurf hat der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof vorgelegt (Paul Kirchhof „Der Weg zu einem neuen Steuerrecht – klar, verständlich, gerecht“, München 2005). Statt hoher Steuersätze auf schmaler Bemessungsgrundlage, wie es das geltende System vorsieht, schlägt er die Einführung niedriger Steuersätze auf markant verbreiteter Bemessungsgrundlage vor. Darunter ist der rigorose Abbau der bei uns allzu sehr ins Kraut geschossenen Steuerprivilegien zu verstehen, insbesondere der generelle Verzicht auf für sich genommen sicher gut gemeinte Bevorzugungen bestimmter Gruppen von Steuerzahlern. Dieser Idee ist beizupflichten, wenn es um den Entzug von Privilegien in Form steuerlicher Verrechnung von Verlustzuweisungen maroder Unternehmungen oder um die Absetzbarkeit von Aufwendungen zur Finanzierung unsinniger Überkapazitäten bei Schiffsfrachtraum oder Bürokomplexen geht.

In unserer komplizierter gewordenen Welt dürften indessen hundertprozentig „saubere“ Lösungen auch in diesem Reformbereich kaum durchführbar sein. Denn in der Vergangenheit ist an zu vielen Stellen zuviel kaputtgegangen, als dass man achtlos zur Tagesordnung übergehen sollte. Ein auf mehr Gerechtigkeit, Lastenabbau und Vereinfachung zielendes Steuerrecht sollte daher auch weiterhin der Verfolgung grundlegender gesellschaftlicher Zwecke Raum geben, deren steuerliche Förderung nach wie vor geboten bleibt. Dazu gehört die Kapitalbildung der durch Vermögensverluste zweier Weltkriege geschädigten Privathaushalte und gemeinnützigen Einrichtungen, um auch auf diesem Wege Freiraum für zukunftssichernde Entscheidungen zu schaffen; z.B. für den Aufbau einer den Staat entlastenden Alterssicherung oder für die Ermöglichung humanitärer, sozialer und kultureller Leistungen, deren Erledigung dem zivilgesellschaftlichen Engagement besser zu Gesicht steht als dem Vater Staat seligen Angedenkens. Auch die Förderung von Familie, Erziehung, Bildung und Forschung sollte in einer reformierten Steuergesetzgebung ihren Platz behalten, ihn möglichst sogar weiter ausbauen. Denn nur auf diesem Wege dürften die Steuerkraft der nachwachsenden Generationen und die Regenerationskraft einer im globalen Wettbewerb stehenden Volkswirtschaft gesichert bleiben.

Gerade in diesem Sinne sind Abbau von Staatsschuld und Staatsquote sowie Rückführung der Steuerlast ein auf Einhaltung des Generationenvertrages gerichtetes Reformprogramm. Für ein nachhaltiges, sich selbst tragendes wirtschaftliches Wachstum ist diese Ingangsetzung von Initialzündungen eine unabdingbare Voraussetzung. Denn mit der Rückführung von Staatsquote und Steuerlast gehen ein Mehr an Einkommen und ein Anstieg der Beschäftigung wie kommunizierende Röhren einher. Es sind keine Utopien, sondern reale Beispiele aus der Gegenwart, dass in Irland, Dänemark, Großbritannien und in den Niederlanden, wo es gelang, die Staatsquoten von 1994 bis 2000 um sechs bis zwölf Prozentpunkte zu senken, auch die Arbeitslosigkeit um 40 bis 65 Prozent abgebaut werden konnte.

Auch wenn es richtig sein mag, dass mit dem abstrakten Ziel der Absenkung der Staatsquote kaum Wahlen zu gewinnen sind, haben doch die Teilziele, die zu diesem Ergebnis führen, im Hinblick auf ihre öffentliche Akzeptanz ein ganz anderes Kaliber. Jedenfalls wäre es angesichts der Erfolgsbilanzen unserer europäischen Nachbarn auf dem Felde der Sozialreform kaum nachvollziehbar, warum es nicht auch bei uns zu einem Wettstreit der Parteien um die Fülle von Reformschritten kommen sollte, die unter der Dachstrategie eines Abbaus staatlicher Regulierungen vereint sind: Steuersenkung, Subventionsabbau, Privatisierung, Entbürokratisierung, Dezentralisierung, fiskalische Leistungsanreize, mehr Wettbewerb und konsequente Durchsetzung der Subsidiarität im konkurrierenden Entscheidungshandeln in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft und nicht zuletzt Förderung des zivilgesellschaftlichen Engagements der Bürger in allen Lebensbereichen.

Damit wird deutlich, dass es bei der Reformpolitik nicht zuletzt auch um einen grundlegenden Wandel in der Steuerphilosophie geht. Ein den modernen Erfordernissen angepasstes Steuersystem muss vor allem vom ideologischen Ballast sozialstaatlicher Regulierung befreit werden. Das Verständnis der Steuer als hoheitlicher Akt, der dem Erfolgreichen als eine Art Strafbefehl für Einsatz und Initiative erscheinen muss, und der dem Erfolglosen als verbrieftes Anrecht auf leistungsunabhängige Vorteile zuteil wird, passt nicht mehr in unsere Zeit. Statt dessen ist der staatliche Finanzhaushalt für die Aufgaben der modernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts dann am besten gerüstet, wenn die Manövriermasse aus Einkommen- und Unternehmensteuern in ein stimulierendes Anreiz- und Motivationssystem für das Erbringen von Leistungen schlechthin überführt wird. Dann sollte auch die ausreichende Verfügbarkeit für erforderliche Solidarleistungen zugunsten der wirklich sozial Schwachen kein Thema mehr sein.

Nicht von ungefähr haben die nach Jahrzehnten in Unterdrückung und Mangelwirtschaft lebenden Länder Osteuropas die Chance der wiedergewonnenen Freiheit für die Wahl eines liberalisierten Steuersystems genutzt. Auf diese Weise klaffen die Unternehmensteuern in der um diese Länder erweiterten Europäischen Union derart extrem auseinander, dass man von einer unhaltbaren Wettbewerbsverzerrung innerhalb des vereinten Wirtschaftsraumes sprechen muss. Nach einer Untersuchung der effektiven Unternehmensteuern in der EU, die zu Beginn des Jahres 2005 vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung vorgelegt wurde, liegt der deutsche Steuersatz mit 36 Prozent fast dreimal so hoch wie der im am niedrigsten besteuerten Litauen mit 12,8 Prozent. Österreich hat seine Unternehmensteuern per Jahresbeginn 2005 auf 25 Prozent abgesenkt, die Niederlande liegen bei 31 Prozent und Großbritannien bei 29 Prozent. Andere EU-Mitgliedsländer, mit denen Deutschland naturgemäß ebenfalls in einem engen Wirtschaftsaustausch steht, liegen zum Teil noch darunter, wie Dänemark bei 27 Prozent, Schweden bei 23,4 Prozent, die Schweiz bei 21,8 Prozent und Irland sogar bei nur 14,4 Prozent. Aus der Gruppe der neuen EU-Mitglieder kommen die Tschechische Republik auf 24,7 Prozent sowie Polen und Ungarn auf je 18 Prozent.

Auch in der die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands behindernden vergleichsweise hohen Unternehmensbesteuerung kommt die Fehlsteuerung des politischen Systems zum Ausdruck. So ist eine der dem Reformstau zugrunde liegenden Denkfallen in der Fiktion begründet, dass die für die Finanzierung des Gemeinwesens erforderlichen Steuereinnahmen nur mittels hoher Steuersätze aufzubringen seien. In der Wirklichkeit des modernen Wirtschaftslebens, beispielsweise in den meisten Reformländern unserer europäischen Nachbarschaft, ist aber genau das Gegenteil der Fall. Hier sind kräftige Staatseinnahmen nicht das Ergebnis prohibitiv hoher, sondern leistungsanreizend niedriger Steuersätze. Dabei handelt es sich keineswegs um ein obskures Hexeneinmaleins. Bei der modernen Steuerformel „Aus weniger mach mehr“ geht es schlicht um die Umsetzung der uralten Weisheit, nach der erst das Lösen von Fesseln belebende Impulse für Aktivität und Leistung auf breitester Front freisetzt.

Dieser nach dem US-amerikanischen Ökonomen Arthur Laffer benannte Effekt, nach dem sich Steuererleichterungen teilweise selbst finanzieren, hatte bereits während der Präsidentschaft von Ronald Reagan nicht nur zur Konsolidierung sondern darüber hinaus zu erheblichen Überschüssen im amerikanischen Staatsbudget geführt. Auch unter der Präsidentschaft von George W. Bush, die im Zuge des Irak-Krieges und seiner Folgewirkungen erheblichen Sonderbelastungen des Staatshaushalts ausgesetzt ist, sind dennoch mehrfach Steuersenkungsprogramme eingeleitet worden. Sie haben für das am 30. September 2005 abgeschlossene Haushaltsjahr ein gegenüber den Erwartungen um 100 Milliarden Dollar geringeres Haushaltsdefizit erbracht.

Es ist offensichtlich, dass bevor ein ähnlicher steuerpolitischer Befreiungsschlag auch in Deutschland zum Zuge kommen kann, die Abkehr vom kameralistischen Haushaltsprinzip erfolgen muss, nach dem schon der Alte Fritz die Finanzpolitik Preußens betrieben hatte. Nach den deutschen Haushaltsgesetzen des 21. Jahrhunderts, die ihre Wurzeln im 250 Jahre alten preußischen Steuerrecht haben, und deren Leitlinien bis heute Verfassungsrang beanspruchen, ist es keinem Finanzminister gestattet, Abgabenerleichterungen an der einen Stelle vorzusehen, ohne zum vermeintlichen Ausgleich Höherbelastungen an anderer Stelle in die Haushaltsplanung einzubuchen.

Die mangelnde Bereitschaft, aus dem alten System auszubrechen und für eine qualifizierte parlamentarische Mehrheit zur Herbeiführung einer Verfassungsänderung in dieser Sache zu werben, ist Beleg für die Tiefe, mit der sich die fiskalpolitische Denkfalle in unserem Bewusstsein verschanzt hat. Soll die Sozial- und Steuerreform zu einem guten Ende gebracht werden, hilft es nichts: Ein Parlament, dem es wirklich ernst mit der Modernisierung Deutschlands ist, darf sich, unter welcher Regierung auch immer, einer entsprechenden Finanzerfassungsreform nicht verweigern. Vor allem die beiden Volkspartien sind um ihrer Verdienste willen, die sie sich beim Aufbau der zweiten deutschen Republik erworben haben, gefordert, diesem Staat das für sein reibungsloses Funktionieren im 21. Jahrhundert erforderliche Regelwerk zu schaffen.

Da Deutschland für Unternehmen noch immer ein Hochsteuerland ist und seinen Arbeitnehmern die höchsten Abgaben in Europa für zusätzlich erwirtschaftete Einkommen aufgebürdet werden, müssen die Steuersätze für Unternehmen- und Einkommensteuern deutlich gesenkt werden. Dabei sollten Personengesellschaften, die maßgeblich zur Wirtschaftsleistung und Beschäftigung des Landes beitragen und die bisher der Einkommensteuer unterliegen, von einer bestimmten Größe an mit der für sie vorteilhafteren Körperschaftsteuer veranlagt werden. Mit der ursprünglichen Regierungsvorlage zur Absenkung des Körperschaftsteuersatzes auf 19 Prozent vom Frühjahr 2005 ist eine mutige Bresche in Richtung Steuerentlastung der Unternehmen geschlagen worden. Mit einem analogen Reformschritt bei den Einkommensteuertarifen sollte die neue Bundesregierung nicht allzu lange auf sicht warten lassen. Dabei könnten ein Eingangssteuersatz von 15 Prozent und ein Spitzensteuersatz von 35 Prozent in einer ersten Reformstufe angemessene Richtwerte sein.

Für die Steuerzahler würde das jährliche Entlastungen bedeuten, die nicht nur für eigene Dispositionen zusätzlich verfügbar wären, sondern über erhöhte Steuerkraft einen Rückfluss in die Kassen des Staates sicherstellen würden. Einkommensteuerentlastungen dieses Umfangs können auch als Solidarleistung zugunsten der gegenwärtigen Erwerbsgeneration gesehen werden und stellen insoweit einen zentralen Aktivposten des zukunftsgewandten Generationenvertrages dar. Die Gegenfinanzierung soll im Wege der Konsolidierungsmaßnahmen erfolgen, die aus der Umsetzung der umfassenden Sozialreform zu Buche schlagen.

So nachvollziehbar und einleuchtend dieses Reformkonzept demjenigen erscheinen mag, der zu rationaler Betrachtung der Problemlage bereit ist, einer Auflösung des Reformstaus ist damit längst nicht der Weg bereitet. Das politische Tagesgeschäft ist erfahrungsgemäß weniger von der Kraft rationaler Erwägungen als vielmehr von Irrationalitäten, ideologischen Einstellungen und von der unsichtbaren Macht der Denkfallen beherrscht. Dieses politische Urphänomen aus den reformpolitischen Bemühungen auszublenden, hieße, sich die Welt schöner zu malen als sie in Wirklichkeit ist.

Politischer Erfolg, um den es gerade bei der Sozial- und Steuerreform in einem existenziellen Sinne geht, ist daher kaum zu erringen, wenn diese Unwägbarkeiten nicht mit ins Kalkül gezogen werden. Eine das Reformprojekt begleitende Kommunikationsstrategie ist daher unverzichtbar bei den Bemühungen, unser Land für die Anforderungen der Zeit wieder fit zu machen. In diesem Sinne ist die nachfolgende kleine Geschichte zu verstehen, die den Knackpunkt der geplanten Steuerreform noch einmal in eine Sprache übersetzt, die auch demjenigen zu denken geben mag, den das bisher Gesagte so unbeeindruckt lässt, dass er am liebsten wie gehabt zur Tagesordnung übergehen würde.

Es waren einmal zehn Männer, die jeden Tag miteinander zum Essen gingen. Die Rechnung für alle zusammen betrug jedesmal genau 100 Euro.

Die Gäste zahlten ihre Rechnung wie wir unsere Steuern, und das sah ungefähr so aus:

Das ging eine ganze Zeit lang gut. Jeden Tag kamen die Zehn zum Essen und alle waren zufrieden. Bis eines Tages der Wirt Unruhe in das Arrangement brachte, indem er vorschlug, den Preis für das Essen um 20 Euro zu reduzieren. Seine Begründung: „Weil die Zeiten so schwierig geworden sind und wir alle unseren Beitrag leisten müssen“.

Jetzt kostete das Essen für die Zehn nur noch 80 Euro, aber die Gruppe wollte es unbedingt beibehalten, so zu bezahlen, wie wir besteuert werden. Damit änderte sich für die ersten Vier nichts, sie aßen weiterhin kostenlos. Wie aber sah es bei den restlichen Sechs aus? Wie konnten sie die 20 Euro Ersparnis so unter sich aufteilen, dass jeder etwas davon hatte?

Die Sechs stellten schnell fest, dass 20 Euro geteilt durch sechs Zahler 3,33 Euro ergibt. Aber wenn sie das von ihren einzelnen Beiträgen abziehen würden, bekämen der fünfte und der sechste Gast noch Geld dafür, dass sie überhaupt zum Essen kamen. Also schlug der Wirt den Gästen vor, dass jeder ungefähr prozentual soviel weniger zahlen sollte, wie er bisher beisteuerte. Er setzte sich also hin, um diese Rechnung für seine Gäste aufzumachen. Heraus kam folgendes: Der fünfte Gast zahlte ebenso wie die ersten vier ab sofort nichts mehr (100 Prozent Ersparnis). Der Sechste zahlte 2 Euro statt bisher 3 Euro (33 Prozent Ersparnis). Der Siebte zahlte 5 statt 7 Euro (28 Prozent Ersparnis). Der Achte zahlte 9 statt 12 Euro (25 Prozent Ersparnis). Der Neunte zahlte 14 statt 18 Euro (22 Prozent Ersparnis) und der Zehnte, der Reichste, zahlte 49 statt 59 Euro (16 Prozent Ersparnis). Jeder der Sechs kam günstiger weg als vorher und die ersten Vier, die jetzt um einen weiteren vermehrt waren, aßen immer noch kostenlos.

Als sie aber nach Beendigung der Mahlzeit die Sache noch einmal nachrechneten, empfanden sie das Ergebnis doch nicht als so ideal, wie sie zunächst dachten. „Ich habe nur einen Euro von den 20 bekommen!“ sagte der sechste Gast und zeigte auf den zehnten Gast, den Reichen: „Der aber kriegt 10 Euro!“ „Stimmt!“ rief darauf der Fünfte, „ich habe auch nur einen Euro gespart, und er bekommt zehnmal soviel zurück wie ich.“ „Wie wahr“, rief darauf der Siebte, „warum kriegt er 10 Euro zurück und ich nur zwei? Alles kriegen wie immer die Reichen!“ „Moment mal,“ riefen da die ersten vier wie aus einem Munde, „wir haben überhaupt nichts bekommen. Das System beutet die Ärmsten mal wieder aus!“ Und wie aus heiterem Himmel gingen die Neun gemeinsam auf den Zehnten los und verprügelten ihn.

Am nächsten Tag tauchte der zehnte Gast nicht zum Essen auf. Die übrigen Neun setzten sich zusammen und aßen ohne ihn. Als es aber an der Zeit war, die Rechnung zu begleichen, stellten sie zu ihrer Überraschung fest, dass sie nicht genügend Geld zusammen hatten, um auch nur die Hälfte der Rechnung bezahlen zu können. Und wenn sie nicht verhungert sind, wundern sie sich noch heute.

So, lieber Leser, funktioniert unser Steuersystem. Die Menschen, die hier die höchsten Steuern zahlen, haben natürlich auch Ansprüche auf den größten Vorteil bei einer Steuererleichterung. Wenn ihnen das nicht zugestanden wird und sie statt dessen verprügelt werden, kann es passieren, dass sie einfach nicht mehr zu Tisch erscheinen. In anderen Ländern der näheren und weiteren Nachbarschaft soll es nämlich auch gute Restaurants geben.

Ein liberalisiertes Steuerrecht vermag nur im Geleitzug mit einer umfassenden sozial-marktwirtschaftlichen Reform die von ihm erwarteten Basis-impulse für Aufschwung, Einkommensverbesserung und Kapitalbildung auszulösen. Deshalb ist der Reformverbund für das gleichzeitige Angehen der offenen Problemfelder in Wirtschaft und Gesellschaft von so entscheidender Bedeutung. In einem Land, in dem die Hälfte der jährlichen Wirtschaftsleistung in die Umverteilungskassen des Staates fließt und ein Drittel des Volkseinkommens vom Sozialbudget beansprucht wird, ist das zukunftsentscheidende Verhältnis von investiver und konsumtiver Verwendung des Sozialprodukts bereits aus der Balance geraten.

Es darf einfach nicht sein, dass im Windschatten des allgemeinen Niedergangs unseres Bildungswesens auch das Wissen um zeitlose Grundregeln der Staatskunst verlorengegangen sein soll, wie jene, dass man vom jeweiligen Leistungsertrag nur soviel verbrauchen darf, dass noch genügend Vorrat und Saatgut für die zukünftige Versorgung übrig bleibt. Da Deutschland zudem die historisch bedingte Ausnahmesituation zu bewältigen hat, nicht wie unsere Nachbarn über in Jahrhunderten aufgefüllte Vorratskeller zu verfügen, müssen wir uns der Pflege des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks mit ungleich größeren Anstrengungen annehmen. Ein Weg dazu kann eine Politik der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand sein, die statt der historisch verbrauchten Methode sozialistischer Umverteilung den Aufbau von Bürgerkapital aus laufenden Einkommenszuwächsen betreibt. Dieser Strategieansatz wird Gegenstand des folgenden Kapitels sein.

In der politischen Debatte tauchen immer wieder Vorstellungen auf, die in zwei Generationen nach dem letzten Krieg entstandenen privaten Vermögen für Zwecke der Sozialreform zu instrumentalisieren. Zwar mögen Überlegungen dieser Art bei einem Gesamtvermögen der privaten Haushalte in Deutschland in Höhe von acht Billionen Euro, was dem Vierfachen des jährlich erwirtschafteten Bruttosozialprodukts entspricht, auf den ersten Blick reizvoll erscheinen. Nicht nur die Erfahrung der täglichen Tischgesellschaft mit radikalen Eingriffen offenbart indessen die Fragwürdigkeit derartiger Lösungsansätze. Auch die Anlagestruktur der Privatvermögen in Form von 50 Prozent Immobilien, 40 Prozent Geldanlagen und 10 Prozent Schmuck und Wertgegenständen bedeutet, dass eine politisch erzwungene Umverteilung von Vermögenswerten aus sich heraus noch keinen Wirtschaftsaufschwung garantiert. Ganz abgesehen davon, dass nach den Lehren der Geschichte Umverteilung, sei es durch Enteignung oder durch Besteuerung, mehr neue Löcher aufreißt als alte zu schließen. Das Kapital, das vor der drohenden Konfiszierung nicht ins Ausland flieht, läuft Gefahr, in Konsum umgewandelt zu werden. Außerdem stehen der Aufwand der Eintreibung und ihre negativen Nebenwirkungen bekanntlich in einem denkbar krassen Missverhältnis zum erhofften Mehraufkommen.

Ein liberaler Rechtsstaat verfügt, zumal wenn er wie Deutschland mit einer hervorragenden Verfassung ausgestattet ist, über andere Möglichkeiten, dem Entstehen gravierender Gerechtigkeitslücken zu begegnen. Auch wenn die ungleiche Verteilung von Vermögen als Preis der Freiheit akzeptabel erscheint, solange denn die Chancengleichheit zur Bildung von Eigentum für alle gesichert ist, gibt es im allgemeinen Rechtsempfinden doch gewisse Grenzen der Tolerierbarkeit. Sie sind dort erreicht, wo geballte Finanzkraft in politische Macht überzugehen droht. Zur Gefahrenabwehr in diesem Bereich haben unsere Verfassungsväter für die Wirtschaft das Regulativ des Wettbewerbs- und Kartellrechts geschaffen. Im privaten Sektor kann statt des allgemeinen Steuerrechts nur das Erbrecht diese Funktion erfüllen. Bei seiner Aktivierung zur Überbrückung der Gerechtigkeitslücke ist allerdings die Kunst eines steuerphilosophischen Spagats gefragt. Denn weder darf das Erbrecht dem neuen Denken folgend zu konfiskatorischen Zwecken missbraucht werden, noch kann die Gesellschaft auf das Einfordern der nach der Verfassung gebotenen Gemeinwohlverpflichtung privater Vermögen verzichten.

So wie dem Nachholbedarf beim Aufbau privaten Kapitals angesichts der historisch bedingten Unterkapitalisierung eine vermögensfreundliche Gestaltung des Erbschaftssteuerrechts entsprechen muss, bedarf die Gesellschaft der privaten Förderung gemeinnütziger Projekte, denen der finanzschwache Staat nicht mehr gewachsen ist. An der Schnittstelle beider Anforderungen, den Aufbau privaten Kapitals nicht zu behindern, gleichwohl der Förderung des Gemeinwohls ausreichend Raum zu geben, rückt das Stiftungsrecht ins Bild. Denn die Pflege des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks wird nicht beeinträchtigt, wenn privaten Zwecken gewidmetes Erbschaftsvermögen in moderatem Umfang zu gemeinnützigen Zwecken dienendem Stiftungsvermögen wird. Wenn es eines Nachweises des gesellschaftlichen Nutzens beim Zusammenwirken von privatem und gemeinnützigem Kapital bedarf, mag dazu die jüngere deutsche Stiftungsgeschichte herangezogen werden. Die Mehrzahl der heute in Deutschland tätigen rund 14.000 Stiftungen ist erst nach dem letzten Weltkrieg errichtet worden. Weite Bereiche des kulturellen Lebens, etliche Initiativen zur Neugestaltung des Bildungssektors und eine Vielzahl humanitärer Einrichtungen und Projekte verdanken ihre Finanzierung dem mäzenatischen Wirken dieser privaten Stiftungen und gemeinnützigen Organisationen.

Die Freie und Hansestadt Hamburg ist ein Modellbeispiel für ein Gemeinwesen, in dem mit zivilgesellschaftlichem Engagement begüterter Bürger Gemeinschaftsaufgaben wahrgenommen werden, die andernorts mangels leerer staatlicher Kassen nur unzureichend oder gar nicht erledigt werden können. 900 Stiftungen unterschiedlicher Größe sind im Hamburger Stiftungsregister eingetragen. Zu den kapitalkräftigsten gehören die Körber-Stiftung, die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, die Reemtsma-Stiftung, die Toepfer-Stiftung FVS und die der Förderung von Wissenschaft und Kultur dienenden Stiftungen der Mäzene Helmut und Hannelore Greve. Die Zahl der Neugründungen zeigt eine seit Jahren aufstrebende Tendenz, dem auch eine zunehmende Beliebtheit der Stiftungen in der öffentlichen Wahrnehmung entspricht. Nach repräsentativen Umfragen finden es 82 Prozent der Bevölkerung richtig, dass private Stiftungen neben dem Staat Verantwortung für das Gemeinwohl übernehmen.

Bundesweit besteht hinsichtlich der hierin zum Ausdruck kommenden Erwartungshaltung ein erheblicher Nachholbedarf im Ausbau des Stiftungswesens. Der Anteil des gemeinnützigen Sektors an Sozialprodukt und Beschäftigung liegt in Deutschland bisher erst bei 5,5 Prozent, während er bei unseren Nachbarn erheblich höher ist und in den Niederlanden zum Beispiel 12,5 Prozent erreicht. Hier besteht eine über die Jahrhunderte ungebrochene Tradition wohltätigen Bürgerengagements, die in der eindrucksvollen Zahl von über 100.000 Stiftungen allein im vergleichsweise kleineren Holland Ausdruck findet. Es ist eine Größenordnung, die zu Zeiten des Kaiserreiches auch einmal für Deutschland gegolten hatte. Sie belegt erneut den Aderlass, den die beiden Kriege des letzten Jahrhunderts auch auf diesem Gebiet mit sich brachten.

Historischer Rückblick und Verweis auf die Verhältnisse bei den Nachbarn machen deutlich, dass die Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich von Kultur, Bildung und humanitären Diensten auch auf anderem Wege als über staatliche Transferleistungen möglich ist. Daher sollte jenseits fragwürdiger Umverteilungsideologien eine auf stärkere Kohärenz ausgerichtete Gestaltung von Erb- und Stiftungsrecht auch im Deutschland des 21. Jahrhunderts zur Sicherung der finanziellen Basis des Gemeinnützigkeitssektors beitragen. Bedenkt man, dass bei der Vererbung von einer Million Euro in Frankreich 150.000 Euro an den Staat gehen, in Deutschland aber nur 10.000 Euro, wird der Gestaltungsspielraum deutlich, der hier hinsichtlich der Gemeinwohlverpflichtung großer Vermögen und ihrem tatsächlichen Einsatz für die Bewältigung von Gemeinschaftsaufgaben besteht.

Eine Reform des Erbrechts, die eine Besteuerung des Erbfalls nach dem Ausmaß staffelt, in dem das Erbschaftsvermögen in Stiftungsvermögen überführt wird, würde die Interessen aller Beteiligten zu einem fruchtbaren Ausgleich bringen. Der Erblasser hätte die Gewissheit, dass sein Erbe insoweit in einer sein Andenken bewahrenden Form erhalten bliebe; die Erben würden ihren Einfluss auf die Art der Nutzung des gestifteten Vermögens aufrecht erhalten; der Staat wäre im Umfang der Ertragskraft des Stiftungsvermögens von bisherigen Lasten befreit und die Gemeinschaft erhielte Unterstützung für gemeinnützige Projekte, die andernfalls nicht realisierbar wären. Zudem würden im Umfang dieser zusätzlichen Stiftungsaktivitäten Wertschöpfung und Beschäftigungslage im Dritten Sektor gesteigert werden. In diesem Zusammenhang sollte die Gemeinwohlorientierung einer Reform von Erb- und Stiftungsrecht auch darin Ausdruck finden, dass das Erbschaftssteueraufkommen voll dem Aufbau des in Kapitel IX behandelten Bundessondervermögens „Nationale Gesundheitsvorsorge“ (NGV) zugute kommt.

Aus der privaten Vermögensmasse von acht Billionen Euro, die auf weiteres natürliches Wachstum angelegt ist, werden in der kommenden Generation in Deutschland im Durchschnitt jährlich über 200 Milliarden Euro vererbt werden. Wenn durch entsprechende Gestaltung von Erb- und Stiftungsrecht der Anreiz geschaffen wird, dass davon auch nur 15 Prozent dem Stiftungssektor als Kapitalzuflüsse zugute kämen, könnten damit ein bis zwei Milliarden Euro an zusätzlichen Stiftungserträgen generiert werden, mit denen Jahr für Jahr an die 50.000 neue Arbeitsplätze im gemeinnützigen Sektor zu schaffen wären. Kein sozial-revolutionäres Abenteuer wäre in der Lage, einen Ausgleich zwischen Reich und Arm in vergleichbarer Größenordnung und Nachhaltigkeit auf derart kreative Weise zustande zu bringen.

Eine stärkere Gemeinwohlorientierung des Erbschaftsteuerrechts sollte sich indessen nicht im Anreiz zum Aufbau von Stiftungsvermögen erschöpfen. In diesem Sinne ist die parteiübergreifend erwogene Aussetzung der Erbschaftsteuer auf vererbtes Kapitalvermögen, das der Fortführung von Familienunternehmen dient, als bahnbrechender Schritt im Rahmen der Steuerreform zu sehen. Denn im Lichte des neuen Denkens kann jegliches auf Kapitalerhaltung und –schaffung gerichtetes Handeln von Bürger und Staat als Beitrag zum Generationenvertrag gelten. Wenn es denn über die Bewahrung des privaten Besitzanspruchs hinaus auf Einsatz für die Gemeinschaft und damit auf Förderung des Gemeinwohls gerichtet ist.

aus: Agenda Arbeit 21, Mai 2005