Die Rolle der Neuen Medien im Spannungsfeld von Strukturkrise und Reformpolitik
Antrittsvorlesung anlässlich der Bestellung zum Honorarprofessor an der Universität Lüneburg

Wolfgang Müller-Michaelis

Im Verbund mit meinem Lehrauftrag an der Lüneburger Universität, den ich während meiner Beratertätigkeit für die Sächsische Staatsregierung in Dresden beibehielt, tauchte ich unversehens in die mir immer faszinierender erscheinende Welt des informations- und kommunikationstechnologischen Umbruchs ein. Ich war derart überzeugt, mit dem Faktor „K“ (für Kommunikation) die bewegende Kraft wirtschaftlicher Wertschöpfung unserer Zeit identifiziert zu haben, dass ich für das in Dresden entstandene Buch „Informationsgesellschaft im Aufbruch“, zu dem Kurt Biedenkopf ein ausführliches Vorwort geschrieben hat, zunächst den Arbeitstitel „Die Faktor K Revolution“ vorgesehen hatte.

Was mich in meiner Arbeit antrieb war das von mir so empfundene Paradoxon, dass der Mensch die ihm ureigene Fähigkeit zu verbaler Kommunikation, die ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet, offenbar bis auf den heutigen Tag so wenig zu beherrschen gelernt hat, dass er sich trotz des stetigen Zugewinns an immer ausgereifteren technischen Kommunikationshelfern in immer größer werdende Konflikte im Großen wie im Kleinen verstrickt.

Aus der von Hölderlin so schön umschriebenen menschlichen Verständigungskraft „Viel hat erfahren der Mensch, seit ein Gespräch wir sind und hören können“ – hat der homo sapiens offenbar bisher nur unzureichenden Nutzen gezogen. Mehr noch: Mit der Dynamik des Fortschritts in der Entwicklung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien geht ganz offenbar statt eines Abbaus eine Vergrößerung der Wahrnehmungsdefizite bei der Aufnahme täglicher Lebenserfahrung einher.

Erst viel später durfte ich von meinem Sohn Malte erfahren, dass es sich bei meinem vermeintlich originären Erkenntnisgewinn über das Kommunikations-Paradoxon im Grunde um „ganz olle Kamellen“ handelte. Es kann eben doch manchmal von Nutzen sein, einen Philosophie-Studenten in der Familie zu haben. Ich lernte, dass Geistesgrößen ganz anderen Kalibers auf diesem Feld denkerische Vorarbeit geleistet hatten, allen voran der Doyen der zeitgenössischen deutschen Philosophie und Sozialwissenschaften Jürgen Habermas, dessen Habilitationsschrift dem Thema „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ gewidmet ist und dessen Hauptwerk bezeichnenderweise den Titel „Theorie des kommunikativen Handelns“ trägt.

Immerhin bestätigte sich mir mit diesem Nachhilfeunterricht in moderner Philosophie, dass ich mit meinen Erkundungen auf dem Felde der Kommunikationswissenschaft nicht ganz auf der falschen Fährte war. Halten wir als Zwischenbilanz der Erkundung der Rolle der Neuen Medien in unserer Zeit fest: So sehr sie uns auch in Sicherheit wiegen mögen, mit der Delegation der Wahrnehmung von Welterfahrung an die unzähligen über die Kontinente verstreuten Kameras und Mikrophone ein allumfassendes Informationsmaterial in der abendlichen Tagesschausendung eingefangen zu haben – so erliegen wir doch nur der Illusion, wir hätten damit hinreichend tiefe Einblicke in das Weltgeschehen erlangt und könnten uns aus den übermittelten Nano-Bruchstücken des globalen Geschehens ein verlässliches Urteil über die Dinge der Welt erlauben.

Die eigentliche Verführung, der wir zu erliegen drohen, geht aber noch eine Schicht tiefer. Vor zweieinhalb Jahren hat der große amerikansiche Informatiker und Philosoph Joseph Weizenbaum (emeritierter MIT-Professor) an dieser Lüneburger Universität zu diesem Thema einen Vortrag gehalten. Der Titel seines Vortrags, zugleich auch seines Hauptwerkes:„Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft“.

Weizenbaum konstatiert eine Maßlosigkeit der Ignoranz bei der Nutzung des Faktor „K“. Die Möglichkeiten, die sich der Mensch mit den Informations- und Kommunikationstechnologien geschaffen habe, sei „absolutely genious“ und wir Menschen könnten im Grunde stolz auf diese Errungenschaften sein – was wir aber tatsächlich aus diesen Möglichkeiten machten, sei in weiten Bereichen „absolutely idiotic“.

Das Medienverhalten der Menschen sei in großem Maßstab stümperhaft, sie ließen sich passiv von den ungeheuren digitalen Tsunamis überrollen und sähen fassungslos zu, wie ihre gewohnten Lebensverhältnisse durcheinandergewirbelt würden. Rat- und orientierungslos fielen sie den vielfältigen Versuchungen von virtuellem Schabernack anheim, den die neuen Medien im Schlepptau mit sich führten, statt die eigentlichen Chancen der neuen Technik zu erkennen und sie für die Lösung der großen sozialen Probleme zum Einsatz zu bringen.

Dieser Missstand hat nach Weizenbaum mit der Zerstörung der Familie zu tun, die bezeichnenderweise von einer Zerstörung des Prestiges der Lehrer begleitet sei. Einer der größten kulturellen Einbrüche unsere Zeit sei, dass Lehren und Lernen ihr traditionelles Sozialprestige verloren hätten. Der zum gesellschaftlichen Verhaltensstandard gewordene Missbrauch der elektronischen Medien, insbesondere des Fernsehens, ist nach Weizenbaum für den Niedergang der westlichen Hochkultur ganz wesentlich mit verantwortlich.

Durch Fehlnutzung der Eigenschaft der neuen Medien, ubiquitärer Kommunikationshelfer zu sein, erliegen die Menschen der Gefahr zunehmender Nichtaneignung kultureller Kompetenzen, wie insbesondere des Sprechens und des Lesens. Die Kinder wachsen nicht mehr in der Geborgenheit des elterlichen Sprachraums sondern mit dem elektronischen Schnuller versorgt auf.

Was aber bedeutet es, füge ich hier einen Gedanken von Rüdiger Safranski ein, wenn die Wahrnehmung der Wirklichkeit immer mehr durch künstliche Bilder vermittelt wird als durch eigene Anschauung? Wenn also die inneren bildgebenden Verfahren weniger gefordert werden und wir immer weniger mit hochdifferenzierten sprachlichen Mitteln der Welterschließung arbeiten, kommt uns dann nicht auf einmal eine ganze sprachliche Dimension abhanden?

Dass Fernsehbildschirme, Playstation- und Handydisplays in unserer heutigen Welt von immer mehr Menschen als die Quelle der allein seligmachenden Wahrheit gesehen werden, sei, um hier wieder auf Weizenbaum zurückzukommen, das eigentliche Desaster.

Auf meine Frage in der anschließenden Diskussion, wie er angesichts des Widerspruchs von genialen Möglichkeiten und idiotischem Gebrauch der neuen Medien dazu stehe, durch weltweite Gründung von Universitätsfakultäten für Kommunikation und Medienkompetenz Abhilfe zu schaffen, um auf diesem Wege jene Lehrer auszubilden, die den jungen Menschen an den Schulen einen vernünftigen Umgang mit den medialen Möglichkeiten beibringen könnten, antwortete Weizenbaum: „Dazu ist es schon zu spät; man kann diese Fehlentwicklung nicht mehr mit wie auch immer gearteten Maßnahmen in den Griff bekommen“.

Ich habe mich mit dieser Antwort nie zufrieden geben können – bis heute nicht. Nachdem das Verstehen von Zeichen an der Wiege des Abendlandes steht und Intelligenzleistungen hervorgebracht hat, von denen wir immer noch profitieren, vertritt nicht nur Rüdiger Safranski die Auffassung, dass wir angesichts der drohenden Rückbildung unserer kulturellen Kompetenz nicht tatenlos bleiben sollten – ich meine, nicht tatenlos bleiben dürfen.

„Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Ein Hölderlin-Wort von auch in diesem Zusammenhang sinnstiftender Weisung. Es liegt an uns, aus der Janusköpfigkeit der neuen Medien, einerseits Tsunamis der Zerstörung des Alten und andererseits Triebkräfte im Aufbau des Neuen zu sein, das Richtige zu machen.

Natürlich sind bei dieser Aufgabe an vordersten Front die Hochschulen gefordert: Dass wir uns von der visuellen und glitzernen Penetranz der neuen Medien nicht länger ablenken lassen, ihren eigentlichen Wert zu erschließen, ihre Eignung und Fähigkeit, bei intelligenter Anwendung und Nutzung in vielfältigster Weise Problemlöser bei den großen gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit zu sein.

Wenn es uns mit Hilfe der neuen Medien gelungen ist, die menschlichen Gene zu entschlüsseln und in die fernsten Weiten des Universums vorzudringen, warum sollten wir es um Himmels willen mit ihrem Einsatz nicht auch schaffen, ausreichend Arbeit und soziale Sicherung für alle zu organisieren.

Damit wäre eigentlich schon das Arbeitsprogramm eines neuen „Instituts für Kommunikationsforschung“ an der Uni Lüneburg umrissen. Es könnte sich in der Startphase auch um eine bescheidene Forschungsstelle handeln. Nur der Startschuss sollte fallen – lieber heute als morgen.

„Nur die Lumpen sind bescheiden, Kühne freuen sich der Tat“. Diesmal ist es Goethe, der das rechte Wort zur Sache parat hat. Und es entspräche nicht dem Geiste dieser dem Fortschritt verschriebenen Universität Lüneburg, wenn die Gedanken, die ich hier als conclusio meiner Betrachtungen vortrage, nicht längst gedacht worden wären.

Vor vier Jahren, im Sommersemester 2002, hatte der damalige Dekan des FB Kulturwissenschaften eine Arbeitsgruppe mit dem Auftrag eingesetzt, die Voraussetzungen für die Einführung eines Studiengangs Neue Medien unter dem damaligen Arbeitstitel New Media Communication zu prüfen. Wegen des dann bald in Angriff genommenen Fusionsprojektes mit der Fachhochschule Nordost-Niedersachsen und der Überführung der Universität in die Rechtsform einer Stiftung sind die damaligen Überlegungen zunächst nicht weitergeführt und wohl auch wegen der damit verbundenen finanziellen Sonderlasten auf Eis gelegt worden.

Nach abgeschlossener Fusion und Umwidmung in eine Stiftungsuniversität, zudem unter der Führung des Incoming-Präsidenten Sascha Spoun, der mit Schweizer Temperament und als jüngster Universitätspräsident Deutschlands ohnehin die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diese Hochschule lenken dürfte, sehe ich die Ampeln in dieser Frage auf „Grün“ geschaltet; zumal es sich bei der Kommunikationswissenschaft um eine Querschnittsdisziplin handelt, deren Forschungsgegenstand gemeinsame Schnittmengen mit allen drei Fakultäten neuen Zuschnitts aufweist.

Vor allem aber würde die beabsichtigte Öffnung der Lüneburger Universität zu einem Dienstleistungsunternehmen in der Wissensgesellschaft mit „verlängerten Forschungs-Werkbänken“ für mittelständische Unternehmen der Region und mit praxisorientierten Modellen im Bereich des LebensLangenLernens unter Einschluss von Weiterbildungsangeboten für Berufstätige fortschrittlicher Berufsbildungsgänge von einem neuen universitären Forschungsschwerpunkt in der Kommunikationswissenschaft unmittelbaren Nutzen ziehen.

Die Arbeitswelt der Zukunft wird von einer zunehmenden Verwebung von beruflichen Tätigkeiten mit beruflicher Weiterbildung bestimmt sein. Das ergibt sich aus den Anforderungen der wissensbasierten Dienstleistungsökonomie, die das Grundmodell wirtschaftlicher Wertschöpfung im 21. Jahrhundert sein wird.

Das Neue dieser neuen Ökonomie ist ja, dass sich die Wirtschaft zusätzlich zur Verarbeitung von Rohstoffen zu materiellen Gütern neue Wachstumsspielräume durch Verarbeitung der immateriellen Ressource Wissen zu nicht-stofflichen Leistungen erschließt. Der Aggregatzustand dieser „Waren“ des Informationszeitalters ist nicht wie in der herkömmlichen Güterwelt fest, flüssig oder gasförmig. Statt dessen besteht er in elektronischen Impulsen, sogenannten Bits, die wahlweise verschiedene unstoffliche Erscheinungsformen annehmen können, wie Bilder, Texte, Töne oder einfach Daten. Diese körperlosen Warenströme des 21. Jahrhunderts werden mit minimalem Zeitaufwand in praktisch unbegrenzten Quantitäten rund um den Erdball über weiteste Entfernungen vom Ort der Verarbeitung zum Ort der Verwendung transportiert und, wenn es sein muss, in Sekundenschnelle wieder retour.

Bei dem Teil der Neuen Ökonomie, der die Bits verarbeitet, handelt es sich um die IT-Wirtschaft; der Teil, der Bits transportiert, ist die Telekommunikation, die TK-Industrie. Was wir Neue Medien nennen, ist die Summe aller Techniken, die in der IT-Wirtschaft und TK-Industrie zum Einsatz kommen und dort zu einem symbiotischen Techniksystem, der Informations- und Kommunikationstechnologie, verschmelzen. Der Marktwert dieser Leistungen hat in Deutschland inzwischen 140 Milliarden Euro pro Jahr erreicht, der in dreißig Teilmärkten für Hardware-, Software- und Serviceleistungen erbracht wird.

Die Schwerpunktverlagerung von industrieller Produktion alten Zuschnitts, die heute nur noch zu einem Viertel zum Sozialprodukt beiträgt, hin zur wissensbasierten Dienstleistungsökonomie hat mit dem Durchbruch der elektronischen Digitalisierung als Basisinnovation unserer Zeit die eigentlichen Impulse erhalten. Der flächendeckende Einsatz der neuen Medien erschließt unablässig neue Märkte für immer wieder neue Anwendungen und Nutzungen, die neue Formen wirtschaftlicher Wertschöpfungen ermöglichen. Dieser Transformationsprozess lässt in der Neuen Ökonomie mehr neue Arbeitsplätze entstehen als er in der alten Industriewirtschaft vernichtet – allerdings unter der wichtigen Voraussetzung, dass wir unsere politischen Systeme diesen veränderten Verhältnissen entsprechend anpassen, was bisher nur unzureichend geschieht.

Indem die neuen Medien unsere Arbeitswelt immer mehr bestimmen, erfordern sie neue Bildungsgänge und fordern die Hochschulen zu neuen Bildungsangeboten heraus. In diesem Zusammenhang geraten auch die privaten Haushalte und Kindergärten als Stätten vorschulischer Bildung und damit auch von sinnstiftender Beschäftigung in den reformpolitischen Fokus unserer Tage. So begrüßenswert die aktuellen Beschlüsse der Bundesregierung zur Familien-, Bildungs- und Steuerpolitik in diesem Zusammenhang auch sind – sie kommen verdammt spät.

Vor genau zehn Jahren, im Jahr 1996, habe ich an dieser Universität schon einmal einen Vortrag zu genau demselben Thema wie heute gehalten, allerdings lautete der Titel damals etwas anders: „Die Informationsgesellschaft und der Paradigmenwechsel in der Arbeitswelt“.

Professor Faulstich hatte mich zur Vorstellung meines damals erschienenen Buches zur „Informationsgesellschaft“ zu diesem Vortrag eingeladen. Ich erlaube mir, zum Abschluss meines heutigen Vortrages einige kurze Passagen aus dem damaligen inzwischen zehn Jahre alten Text zu zitieren:

„Die Ausstattung der privaten Haushalte mit moderner Kommunikationstechnologie wird neben der Wirtschaft ein gigantisches Netzwerk potentieller Anbieter kommunikativer Dienstleistungen entstehen lassen. Findige Unternehmer werden auf den Plan treten, dieses Netzwerk mit Aufträgen zu versehen und es auf diese Weise in den volkswirtschaftlichen Kreislauf zu integrieren; was konkret heißt: Nach Millionen zählende bequeme und attraktive Teilzeitarbeitsplätze für Menschen, die genau an solcher Art Arbeitseinsatz interessiert sind. Hier kommt auf die Gewerkschaften eine große Herausforderung zu, in solchen Fällen für neue beschäftigungspolitische Ideen offen zu sein, wo es den Betroffenen nicht in erster Linie um eine bestimmte Höhe der tariflichen Einkommen sondern um sinnvolle Beschäftigung unter attraktiven Bedingungen geht, wozu auch selbst zu bestimmende Arbeitszeiten und der Komfort des häuslichen Tele-Arbeitsplatzes zählen.

Da wir uns noch schwer tun, dieses Netzwerk der Privathaushalte in unsere Arbeitswelt einzubeziehen, weichen viele Firmen mit ihren Aufträgen in entfernte Weltregionen aus. So lassen eine ganze Reihe von deutschen Großunternehmen z.B. ihre gesamte Datenverarbeitung auf den Philippinen oder in anderen südostasiatischen Ländern abwickeln. Die Lufthansa lässt die datentechnische Abrechnung von „Miles&More“ sowie einen Großteil der Flugscheinbuchungen und das Kreditkartenmanagement in Indien durchführen.

Wie im Falle der Privathaushalte haben die neuen Kommunikationstechnologien die Fähigkeit (ihre sog. Explorations- und Transformationsfunktion) auch andere bisher wirtschaftsfremde Lebensbereiche wie Bildung, Kultur, Reisen, Sport und Unterhaltung für Zwecke der Einkommenserzielung und Arbeitsplatzbeschaffung in großem Maßstab zu erschließen. Es sind dies Bereiche, in denen nicht, wie in der industriellen Wirtschaft, „dunkle Materie“ in handfeste Güter, sondern „heller Geist“ in dienstbare Leistungen umgewandelt wird, weshalb ich diese neue Wirtschaftslandschaft die „Weiße Wirtschaft“ nenne.

Die Nutzbarmachung der neuen Kommunikationstechnologien für wirtschaftliche Prozesse in diesen Bereichen, verbunden mit der Schaffung von Einkommen und Beschäftigung bei uns in Deutschland, setzt neue und flexible Formen der Gestaltung von Arbeits- und Tarifverträgen voraus. In unserer gegenwärtig noch als Industriewirtschaft verstandenen Wirtschaftsgesellschaft mit ihren zu Immobilismus erstarrten Bürokratien und ihren zementierten Regelwerken registrieren wir vier bis sechs Millionen direkt bzw. indirekt Arbeitslose. Zugleich konstatieren wir eine verbreitete Unsicherheit, den Ursachen dieses sozialen Übels auf die Spur zu kommen und von daher die notwendigen Lösungen zu entwickeln.

Meine Vermutung ist, dass dies an einer Wahrnehmungsschwäche unserer politischen Elite im Hinblick auf jenen umfassenden Paradigmenwechsel liegt, der die systembildenden Wertewelten der postindustriellen Gesellschaft seit geraumer Zeit erfasst hat.“

Zurück zur Gegenwart: ich komme zum Schluss. Unsere altersschwachen Sozialarchitekturen sind durch das Zusammentreffen mehrerer epochaler Umbrüche in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft von Auflösung bedroht.

Mit den Umbrüchen in Wirtschaft und Technik – Globalisierung und digitale Revolution – , die wir vordergründig als Bedrohung unserer althergebrachten Strukturen empfinden, wachsen uns tatsächlich aber auch Kräfte zu, mit deren Hilfe wir Prozesse der Anpassung zur Überwindung der Strukturkrise in Gang zu setzen in der Lage wären.

Unser eigentliches Problem besteht insoweit weniger in einem Mangel an materiellen Mitteln als vielmehr in mentalen Blockaden und Schwerfälligkeiten unserer Politik, diese problemlösenden Kräfte als solche wahrzunehmen und zum Einsatz zu bringen.

Daher ist dies die Stunde der Universitäten, gerade auch der jungen Stiftungsuniversität Lüneburg, die ja selbst das Produkt einer kreativen Transformation von alten ausgedienten in neue zukunftsgewandte Kapazitäten ist.

Karl Popper sagte kurz vor seinem Tod 1994: „Unsere Aufgabe ist der Frieden. Die zweite ist es, darüber zu wachen, dass niemand Hunger leidet, und die dritte ist eine hinreichende Vollbeschäftigung. Die vierte ist, natürlich, die Bildung. Es ist unsere Pflicht, optimistisch zu sein. Nur von solch einem Standpunkt aus können wir aktiv sein und tun, was in unseren Möglichkeiten liegt.“

Für die Universität Lüneburg kann das doch nur heißen, unser Erfolgsmodell zum Garanten eines gesellschaftlichen Fortschritts zu machen, der sicherstellt, dass die aus einer Kaserne gewonnene Universität tatsächlich auch immer eine solche bleiben kann und nicht eines Tages wieder in eine Kaserne zurückverwandelt werden muss.

Februar 2006