Was kommt nach dem Aufschwung?
Unter den Bedingungen der Globalisierung, die nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus das klassische Ökonomiemodell des Freihandels Wirklichkeit werden ließen, ist nachhaltige soziale Sicherheit nur mit einem lagerübergreifenden Politikansatz zu erreichen, der sich der Leistungskraft des sozialen Marktes bedient

Wolfgang Müller-Michaelis

Steigende Staatseinnahmen, sinkende Arbeitslosenzahlen, Exportüberschüsse in Rekordhöhe, nach oben korrigierte Wachstumsraten, Tarifabschlüsse, die je nach Branche zwischen dreieinhalb und fünf Prozent liegen – wer zur Jahresmitte 2007 auf das Konjunkturbarometer der deutschen Wirtschaft schaut, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Verständlich ist, dass regierungsamtliche Verlautbarungen das überraschende Leistungshoch der Wirtschaft vor allem auch im Erfolg der Reformpolitik begründet sehen. Im öffentlichen Meinungsbild gibt es nur Wenige, die diese Betrachtungsweise nicht teilen.

Das Schöne an der Demokratie ist, dass sie die Mehrheitsmeinung heiligt. Das Gute an ihr ist, dass sie auch Minderheitsvoten zulässt. Und diese Kontrastbeurteilung wird von Daten bestimmt, die so gar nicht in das Bild der den Aufschwung begleitenden Jubelmeldungen passen. Dabei geht es nicht nur um Bekundungen von Durchschnittsverdienern aus Mittelstand, gewerblicher Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung sowie aus dem grauen Heer der Rentner, dass sie vom Aufschwung bisher nichts mitbekommen hätten.

In einer der Schlüsselindustrien der deutschen Wirtschaft, der Automobilbranche, deren Umsätze stets als Indikator der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung galten, sind die privaten Verkäufe am Binnenmarkt im ersten Quartal 2007 in einem bisher nicht gekannten Ausmaß um 27,2 Prozent eingebrochen. Auch der Einzelhandel verzeichnet in weiten Bereichen der Massenkonsumartikel eher mickrige Ergebnisse. Schwerer im Hinblick auf ausbleibende Impulse für eine Verstetigung des Wachstums wiegt, dass die öffentliche Investitionsquote auf nur noch 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurückgegangen und dramatisch auf die Hälfte des EU-Durchschnitts abgesunken ist.

Andere Meldungen besagen, dass in den Erfolgszahlen vom Arbeitsmarkt jene sechs Millionen Minijobs, vier Millionen Teilzeitkräfte und eine halbe Million selbständige Ich-AGs enthalten sind, die ohne zusätzliche Transferleistungen der Arbeitsämter ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten könnten. In den Presseberichten vom Gründungsparteitag der Linken wird auf Umfrageergebnisse verwiesen, nach denen das linksextreme Wählerpotential als Folge der bei den sozial Schwachen bisher nicht angekommenen Reformbemühungen auf 25 Prozent geschätzt werde. Schließlich ist auch der Koalitionsstreit um eine Mindestlohnregelung angesichts von 3-Euro-Stundenlöhnen bei manchen Dienstleistungen nicht gerade ein Ausweis einer rundum stabilen Wirtschaftsentwicklung. Wenn die Wirtschaft in den Gazetten auch brummen mag, der gefühlte Aufschwung in der Wahrnehmung großer Teile des Wählervolkes reduziert sich doch eher auf zaghafte Stottergeräusche.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Die gute Weltkonjunktur hat den international gut aufgestellten Unternehmen der Investitionsgüterindustrie, insbesondere des Anlagen- und Maschinenbaus, aber auch der Logistikwirtschaft und den wissensbasierten mittelständischen Nischenproduzenten volle Auftragsbücher, hohe Auslastung und gute Bilanzen beschert. Geflissentlich übersehen wird dabei, dass ein Großteil dieser Wertschöpfung von den ausländischen Töchtern heimischer Unternehmen erbracht wird, was man den konsolidierten Umsatzzahlen auf den ersten Blick nicht ansieht. Vollends das Nachsehen in diesem gespaltenen Konjunkturszenario haben die von unverändert schleppender Binnennachfrage abhängigen heimischen Produzenten und Dienstleister. Sie samt ihrer unterbezahlten und weiterhin von Beschäftigungsabbau bedrohten Belegschaften werden in der politischen Rhetorik gern als die beklagenswerten Globalisierungsopfer hingestellt.

Dabei sind sie nichts anderes als Ausweis eines tatsächlichen Reformversagens der Regierung, die um die Kernaufgaben, deretwillen sie 2005 ins Amt gewählt wurde, bisher einen großen Bogen macht: Deregulierung der Arbeitsmärkte, Senkung der im internationalen Vergleich einsam hohen Lohnnebenkosten, Abbau von Steuer- und Abgabenlast. Mit Mehrwertsteuererhöhung, Reichensteuer, bürokratiefördernder Gleichbehandlungsgesetzgebung und Gesundheitsreform hat die Regierung Merkel das genaue Gegenteil von dem auf den Weg gebracht, was sie sich einst selbst auf die Fahne geschrieben hatte. Mehr noch: Als sei es ein Stück aus dem Tollhaus, werden durch die Regierungspläne zur Neuregelung der Pflegeversicherung neue Ansprüche begründet, die nicht nur die Wirtschaft zusätzlich belasten, sondern trotz Beitragserhöhung die schon heute marode Umlagefinanzierung noch weiter defizitär werden lässt und damit die Drehgeschwindigkeit des staatlichen Schuldenmotors weiter erhöhen wird (FAZ Nr. 140 vom 20. Juni 2007).

Auch wenn diese von der Großen Koalition mit beachtlicher Konsequenz verfolgte Strategie des Unterlassens wirklich zukunftsfähiger Reformschritte von den positiven Ergebnissen des gegenwärtigen Konjunkturaufschwungs überlagert wird, spätestens bei seinem Auslaufen werden die inzwischen liegengebliebenen Brocken wieder zum Vorschein kommen. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass sie dann mit größerer Aussicht auf Erfolg als heute aus dem Weg geräumt werden können.

Es ist zwar sehr schön, dass Wirtschaftsminister Glos für das Wahljahr 2009 ein Konjunkturprogramm in Aussicht stellt, bei dem mit Steuer- und Abgabenentlastungen Wachstum und Beschäftigung sowie Schuldenabbau erreicht werden sollen. Dass es sich bei diesem zum zukünftigen Regierungsprogramm hochstilisierten Kreislaufmodell um das Kleine Einmaleins der Wachstumstheorie für Erstsemester der Volkswirtschaftslehre handelt, mag noch hingehen. Dass der Wirtschaftminister der drittstärksten Wirtschaftsnation der Welt nicht schon zu seinem Amtsantritt auf die Idee gekommen ist, seine Politik dieser Strategie zu unterwerfen, ist der eigentliche Skandal der seither nicht zu Pott kommenden reformerischen Murkserei.

Beim dieser Tage stattgefundenen Wirtschaftstag der CDU in Berlin wurde den Teilnehmern ein Schlüsselerlebnis zuteil, das offenbarte, dass es auch anders geht. Der Bericht des dänischen Arbeitsministers Frederiksen über die seit den 90er Jahren in unserem nördlichen Nachbarland praktizierte Beschäftigungspolitik, die mit ihrem lagerübergreifenden „Flexicurity“-Modell soziale Sicherheit durch Flexibilisierung der Arbeitsmärkte anstrebt und dabei bemerkenswerte Erfolge vorzuweisen hat, fand den ungeteilten Beifall der in Berlin versammelten Wirtschaftsmanager. Dänemark hat mit diesem das klassische Repertoire der Sozialen Marktwirtschaft nutzenden Politikansatz nicht nur die Arbeitslosenquote auf die Hälfte der deutschen drücken können, es hat zugleich die Wachstumsrate gegenüber der deutschen verdoppelt und kann bei allen Wirtschaftserfolgen auch noch mit einer Konsolidierung des Staatshaushalts aufwarten.

Auf die Frage aus dem Publikum, wie es gelungen sei, die dänischen Sozialpartner auf dieses Kooperationsmodell einzuschwören, hatte der Minister eine verblüffend einfache Antwort parat: Wir haben den Leuten vor Einführung unseres Programms erklärt, warum wir es gemacht haben. Wir haben ihnen klargemacht, dass uns unter den grundlegend veränderten Bedingungen der Globalisierung der alte Ideologienstreit nicht mehr weiterhilft. Wir haben uns angesehen, auf welche Weise die Schwellenländer in Südostasien die neuen Möglichkeiten der Globalisierung für sich genutzt haben. Wir haben das ausgewertet und auf unsere dänischen Verhältnisse übertragen. Das hat die Leute überzeugt und das ist der Grund, warum wir erfolgreich sind.

Hatte man erwartet, dass der anschließend zu Wort kommende CDU-Generalsekretär Pofalla die Gunst der Stunde nutzen würde, um die Vorstellungen seiner Partei zur „Sicherung des sozialen Zusammenhalts in der Globalisierung“ im Lichte der dänischen Erfahrungen vorzutragen, sah man sich enttäuscht. Er zog es vor, über den Entwurf eines neuen Grundsatzprogramms der CDU für die Wahl 2009 zu referieren, das unter den Eckpunkten Deregulierung, schlanker Staat, Forschungsförderung und Verbesserung der Chancengleichheit durch bildungs- und familienpolitische Initiativen kaum mehr als die aus früheren Programmen bekannte Rhetorik vorzuweisen hatte.

Hätte statt Ronald Pofalla Kurt Beck vor den Delegierten des CDU-Wirtschaftstages gesprochen und hätte er sich bei seinen Ausführungen auf jene Kernaussagen seines FAZ-Beitrags „Das soziale Deutschland“ (FAZ Nr. 132 vom 11. Juni 2007) konzentriert, die mit überraschend neuen Tönen in der Globalisierungsdiskussion aufwarteten, der Beifall der Zuhörer für ihn wäre deutlich enthusiastischer ausgefallen als jener, der dem Generalsekretär des Koalitionspartners trotz seines Heimvorteils zuteil wurde.

Schält man aus dem stramm der Parteilinie vom vorsorgenden Sozialstaat folgenden Redeentwurf aus der Parteizentrale jene Passagen aus dem Beck-Text heraus, die vermutlich eher aus der sozialliberalen Mainzer Regierungskanzlei des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten zugearbeitet wurden, dann fällt der Mecker-Beck-Vorwurf des CDU-Generalsekretärs unversehens auf ihn selbst zurück.

Wann, wenn nicht jetzt, fragt Kurt Beck, ist es an der Zeit, den Zugang zur vorhandenen Arbeit, zu gerechteren Löhnen und die Teilhabe an Kapitalgewinnen für mehr Menschen zu öffnen? „Wir müssen durch langfristig wirkende Investitionen, nicht zuletzt in Bildung und Ausbildung, dafür sorgen, dass dieser Aufschwung von möglichst vielen qualifizierten Menschen getragen wird....Die Chance ist da, aus einer kraftvollen Konjunktur der Jahre 2006 und 2007 ein nachhaltiges Wachstum zu entfalten. Deutschland kann ein wirtschaftlich erfolgreiches, sozial gerechteres und ökologisch gesünderes Land sein, wenn wir die richtige Richtung einschlagen.“ Wer wollte dem widersprechen?

Kurt Beck erklärt auch, warum dafür ein neuer Politikansatz unabdingbar ist. „Die klassische Industriegesellschaft wird zunehmend durch neue Wertschöpfung ergänzt. Es entstehen neue Branchen und neue Formen der Arbeit. Dabei sind die globale Arbeitsteilung, der beschleunigte technische Wandel, die Bedeutungszunahme von Wissen und Qualifikation und die Tatsache, dass die Menschen heute länger leben, keine negativen Entwicklungen.“ Daher verbietet es sich für den SPD-Vorsitzenden, „traditionelle Arbeitsformen konservieren zu wollen“. Vom bisher gültigen Leitbild der Arbeit, die vorwiegend im Produzierenden Gewerbe stattfinde, gelte es, Abschied zu nehmen. Zukunft liege in einem weitergefassten Begriff von Erwerbsarbeit, „die mehr und mehr auch die in Deutschland unterentwickelten Bereiche der Dienstleistungen umfasst“. Deshalb seien auch neue Regeln für die Arbeitszeit erforderlich: „Besonders die neuen dynamischen Branchen wollen von ihrem Beschäftigten ein weit höheres Maß an individueller Flexibilität“ – ein Satz, der auch im Manuskript des dänischen Arbeitsministers Frederiksen hätte stehen können.

Der SPD-Vorsitzende wendet sich vehement gegen die Legende von der auslaufenden Erwerbsarbeit, die nicht nur in linksintellektuellen Köpfen spukt. „Erwerbsarbeit ist es, die aus Armut und dauerhafter Ausgrenzung herausführt. Sie verschafft Anerkennung und Selbstwertgefühl und sie öffnet den Weg in ein selbständiges Leben.“ Im Unterschied zu manchen bisher propagierten Vorstellungen in den eigenen Reihen von vor allem in den Gewerkschaften wird Kurt Beck in seinem FAZ-Beitrag erstmalig konkret, wo es als Konsequenz aus den neugewonnenen Einsichten um globalitätskonforme Strategieansätze zur nachhaltigen Sicherung von Beschäftigung, Einkommen und Altersversorgung geht. Er fordert eine „teilhabeorientierte Kultur der Sozialen Marktwirtschaft“, bei der die Beteiligung der Mitarbeiter am Unternehmenskapital eine grundlegende Rolle spielt. Indem er damit ein altes Erhardsches Projekt aufgreift, fordert er zugleich die CDU heraus, die trotz vielfacher Ansätze im Laufe von fünfzig Jahren keinen vorzeigbaren Lösungsansatz zustande brachte.

Für die Beschäftigungssicherung sind nach Auffassung des SPD-Vorsitzenden „wie noch nie zuvor Bildung und Ausbildung die entscheidende Voraussetzung“. Dafür seien neue Finanzierungsformen für abgesicherte Weiterbildungszeiten zu entwickeln. Einen Weg sieht Beck in der Umwidmung der bisherigen Arbeitslosenversicherung in eine neue Versicherungsform, die Übergänge im Berufsleben und vor allem die berufliche Weiterbildung der Beschäftigten finanziell absichert.

Bleibt zur politischen Umsetzung dieser guten Ideen des SPD-Vorsitzenden zweierlei zu wünschen übrig. Erstens, dass Kurt Beck im Berliner Koalitionsausschuss öfter mal seine aufgeweckten Mainzer Referenten zu Rate zieht. Zweitens, dass Bundeskanzlerin Merkel diese konzeptionelle Steilvorlage ihres politischen Kontrahenten nutzend, ihrem Versprechen „mehr Freiheit wagen“ zu wollen, endlich Taten folgen lässt. Dazu müsste aber wohl auch sie ihr Beraterteam neu formieren: weniger praxisferne Parteisoldaten, mehr Profis von der Arbeitsfront.

Juni 2007