Mindestlohn und Sinnkrise

Wolfgang Müller-Michaelis

Allgemeine Bewusstseinslagen einer Gesellschaft, so schwer definierbar sie sein mögen, pflegen sich in einem Meinungs- und Verhaltenskonformismus niederzuschlagen, dessen wesentliche Züge sich durchaus als eindeutige politische Grundströmungen ausmachen lassen. Das geballte Zusammentreffen epochaler Umbrüche an der Jahrtausendwende - Globalisierung in der Wirtschaft, digitale Revolution in der Technik und demographische Schere in der Gesellschaft - hat nicht nur die herkömmlichen Produktionsbedingungen, sondern auch unsere privaten Lebensverhältnisse kräftig durcheinander gewirbelt.

Dem daraus folgenden Druck auf Anpassung der Regelwerke in Wirtschaft und Gesellschaft ist Deutschland bisher von einem illusionären Phlegma befangen weitgehend ausgewichen. Die als Gerechtigkeitslücke empfundene soziale Gleichgewichtsstörung wird weniger auf internes Politikversagen bei der Neuausrichtung der Sozialsysteme als vielmehr auf externes Walten von Globalisierungsmächten zurückgeführt, denen am ehesten durch Reideologisierung der Politik im Sinne eines ausufernden Staatsinterventionismus zu begegnen sei. Statt Globalisierung als Neuverteilung der internationalen Einkommensströme nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Regime des Ostens zu erkennen und Wirtschaft und Gesellschaft mit einem Fitnessprogramm auf diese existenziellen Herausforderungen einzustellen, wird auf Konservierung tradierter Regelwerke und auf anpassungsbehindernde Umverteilung gesetzt. Der Wähler habe es schließlich so gewollt, wird dieses von blanker Hypokrasie bestimmte Politikverständnis von der politischen Führung verteidigt.

Dass es auch anders geht, hat der dänische Arbeitsminister Frederiksen beim letztjährigen Berliner Wirtschaftstag der Union vorgetragen. Im Verein mit einer Reihe kleinerer europäischer Nachbarn wie den Niederlanden, Österreich und der Schweiz haben die Dänen ein beachtliches Anpassungsverhalten mit dauerhaften Erfolgen an den Tag gelegt. Gefragt, wie seine Regierung es geschafft habe, bei seinen Landsleuten die Akzeptanz für eine weitreichende Arbeitsmarktflexibilisierung mit Aufgabe von Kündigungsschutz und anderen Marktbarrieren ("Flexicurity") zu finden, gab Frederiksen eine verblüffend einfache Antwort. Man habe sich angesehen, wie die südostasiatischen Schwellenländer die Globalisierung für sich genutzt hätten. Das habe man auf die dänischen Verhältnisse übertragen und dem Volk erklärt, dass es zu diesem Ansatz keine Alternative gibt, wenn man den Anschluss nicht verpassen wolle. "Erst danach haben wir das Programm umgesetzt. Nachdem unsere Leute am eigenen Leibe spürten, dass es zum Vorteil aller funktioniert, stand außer Frage, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen hatten."

Ein gesetzlicher Mindestlohn, über den in Deutschland seit Monaten mit einer Verbissenheit gerungen wird, als ob von ihm das Schicksal der Nation abhinge, gehört ausdrücklich nicht zu den Maßnahmen des dänischen Reformprogramms. Auf die Schildbürgeridee, dass man nur den Thermostaten entsprechend einstellen müsse, um eine warme Stube zu erhalten, kann nur eine politische Führung kommen, die von Orientierungslosigkeit befallen vollends die Übersicht verloren hat. Dass man erst den Heizkessel anschmeißen, sprich die Wirtschaft auf Touren bringen muss, um den warmen Segen empfangen zu können und ein auskömmliches Einkommen auf dem Konto zu haben, scheint der Politik hierzulande aus dem Blickfeld geraten zu sein.

Einer der Gründe für diese Indisposition, der die politische Führung genauso wie die Tarifvertragsparteien unterliegen, dürfte ihr Unvermögen sein, das unter frühindustriellen Produktionsverhältnissen entstandene Kartellregime der Arbeitsmarktregulierungen mit den grundlegend veränderten Wertschöpfungsprozessen in der nachindustriellen Wirtschaft in Einklang zu bringen. Dass unser Sozialprodukt inzwischen zu drei Vierteln aus nicht-industrieller Leistung stammt und neben traditionellen Dienstleistern von kleinteilig organisierten forschungsintensiven Nischenproduzenten und wissensbasierten Dienstleistungsunternehmen erbracht wird, hat sich anscheinend noch nicht überall herumgesprochen.

Die einst für industrielle Großkonzerne erdachten Tarifsysteme sind heute nur noch für einen Minderheitenanteil der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung geeignet, wettbewerbsregulierende Wirkung zu entfalten. Für den weit überwiegenden Teil der Wirtschaftsleistung, der von mittelständischen Unternehmen und angesichts offener Märkte unter den Bedingungen eines heftigen internationalen Wettbewerbs zu erbringen ist, kommen die tariflichen Regulierungen insbesondere der Arbeitszeit wettbewerbsbehindernden Fesselungen gleich, die den harten Kern unseres Reformstaus ausmachen.

Als Altkanzler Helmut Schmidt unlängst im Dresdner Staatsschauspiel zum Aufstieg Chinas zu einer der führenden Wirtschaftsmächte referierte und für seinen Vortrag vom Auditorium mit stehender Ovation bedankt wurde, brachte er die Gründe dieses Erfolges ohne Umschweife auf den Punkt: "Die Chinesen haben denselben Intelligenzquotienten wie ihr in Sachsen und wir in Hamburg. Aber sie sind fleißiger als wir und arbeiten länger."

Solange sich die deutsche Politik vor derartigen Einsichten in Ablenkungsmanöver wie den Mindestlohn flüchtet, zeigt sie nur, wie weit sie noch immer an ihrer eigentlichen Aufgabe der Strukturanpassung vorbei operiert. Wenn nach Wilhelm Busch kein Ding so ist, wie es aussieht, dann ist der Mindestlohn nicht so, wie er sich anhört. Gutmenschen mögen sich als Helden fühlen, wenn sie ihn fordern. Er bleibt aber dennoch eine Mogelpackung, weil er Einkommensverbesserungen vorgaukelt, die volkswirtschaftlich eben nicht eintreten, da Beschäftigungs- und Einkommenschancen derjenigen zunichte gemacht werden, die außerhalb des kartellierten Lohnwalls ihr Glück machen und ein eigenverdientes Einkommen erwerben wollen.

Schlimmer noch ist der unsoziale Schatten, den der Mindestlohn auf die Szene wirft. Denn die derart von der Teilhabe am Einkommenserwerb Ausgeschlossenen müssen es hinnehmen, zu Lasten der Allgemeinheit, das sind zum Beispiel die Busfahrer und Krankenschwestern, aus den Sozialkassen alimentiert zu werden. Gerade am Beispiel der Postdienste wird offenbar, in wie starkem Maße die Entscheidung für den Mindestlohn von Inkomepetenz der Verantwortlichen bestimmt war, handelt es sich bei der begünstigten Deutschen Post doch um einen multinationalen Logistikkonzern, in dessen Kostenrechnung die Postzustelldienste nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Für die nach Brechung des Postmonopols am Markt aufgetretenen Wettbewerber im Bereich reiner Zustelldienste indessen, die damit wie bei der Beseitigung des Telekommonopols mit einer Vielzahl neuer Konkurrenten auch dort den eigentlichen Sinne der Privatisierung erfüllten, stellen Personalkosten die für den Markterfolg entscheidende Größe dar. Beim Mindestlohn haben wir es demnach in diesem Fall jenseits seiner generellen ordnungspolitischen Fragwürdigkeit mit einem der Privatisierung und der Verbilligung der Postdienste zuwiderlaufenden Markteingriff zu tun. Es ist so, als würde man der Telekom zugestanden haben, eine ihr genehme Höhe der Handy-Telefoniegebühren von Staats wegen festzulegen und damit den Wettbewerb neuer Mobiltelefonieanbieter, die seither das Gebührenniveau erheblich abgesenkt haben, zu verhindern.

Dass der Mindestlohn darüber hinaus auch seinen eigentlichen Zweck, nämlich das Lohnniveau für Geringqualifizierte anzuheben, nicht zu erfüllen vermag, liegt an der unsachgemäßen Fixierung auf nur eine von mehreren Stellschrauben, die man im Blick haben muss, wenn man die reale Einkommenssituation dieser Personengruppe tatsächlich verbessern will. Denn es wird der fälschliche Eindruck erweckt, dass das Einkommen, das am Monatsende in die Haushaltskasse fließt, allein von der Höhe des Stundenlohns bestimmt wird. Die Dauer des Arbeitseinsatzes, also die geleistete Arbeitszeit, mit der der Stundensatz zu multiplizieren ist, und die Höhe der Steuer- und Abgabenlast sind aber von mindestens gleich großem Gewicht für die tatsächlich vereinnahmte Nettolohnsumme.

Will man also die Einkommenssituation Geringqualifizierter ohne Rücksicht auf tradierte Tabus ernsthaft verbessern, muss man neben der Lohnhöhe die Arbeitszeit und die Abgabenlast mit in den einkommenspolitischen Fokus nehmen. Weicht die Beschäftigungspolitik dieser längst überfälligen Remedur weiterhin aus, treibt sie die Betroffenen nur noch stärker in das Liechtenstein der Kleinverdiener, in die Schattenwirtschaft hinein. Dort praktizieren sie per Abstimmung mit den Händen als fleißiges Millionenheer genau das, was ihnen der bevormundende Sozialstaat nicht zumuten mag: Freie Marktwirtschaft mit flexiblen Arbeitszeiten, dass die Schwarte kracht.

Die Wertschöpfung von 300 bis 400 Milliarden Euro, die sie in den "Katakomben der Volkswirtschaft" (Meinhard Miegel) Jahr für Jahr erwirtschaften, hat allerdings den Schönheitsfehler, dass weder der strapazierte Fiskus noch die ausgepowerten Sozialkassen an ihr partizipieren. Herunter also vom hohen Ross der Realitätsverweigerung, möchte man der Politik zurufen: Tut endlich das Naheliegende, was auf der Sollseite nicht mehr als Mut kostet und auf der Habenseite die Scheuern wieder füllt. Hört auf Helmut Schmidt, dann erledigt sich Oskar Lafontaine von selbst.

Februar 2008