Reformstau und Sinnkrise
Anmerkungen zu "Arbeit und Beschäftigung"

Wolfgang Müller-Michaelis

In den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts kursierte eine Beschreibung dessen, was einen Volkswirt ausmache: er messe Arbeiterwohnungen aus und meine, sie wären zu klein. Heute, nachdem das Wohnungsproblem scheinbar gelöst ist (aber auch nur scheinbar, sonst hätten wir die auf fragwürdige Finanzierungsmethoden für Arbeiterwohnraum zurückzuführende globale Kapitalmarktkrise nicht), steht das Thema ausreichender Beschäftigung bei auskömmlichen Einkommen ganz oben auf der Agenda.

Wenn Horst Albach treffend feststellt: "Traditionelle ökonomische Ansätze zur Klärung der Ursache von Arbeitslosigkeit versagen angesichts der langfristigen strukturellen Veränderungen in der Arbeitswelt" (Horst Albach in "Arbeit und Beschäftigung", Sonderdruck Orden pour le Mérite für Wissenschaft und Künste, 34. Band, 2005-2006, S. 67), schwingt darin auch das Eingeständnis einer gewissen Orientierungslosigkeit der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bei dieser Frage aller Fragen mit.

Bei aller Unterschiedlichkeit der Auffassungen darüber, wo der Hebel am besten anzusetzen sei, herrscht wenigstens weitgehende Übereinstimmung darüber, auf welches Ziel hin die Lösung auszurichten sei, nämlich "einen politischen Rahmen zu schaffen, der es den Menschen ermöglicht, ihr Leben in Selbstverantwortung und frei von wirtschaftlicher Not zu gestalten." (Wolfgang Müller-Michaelis "Neue Wege zu mehr Beschäftigung", 2007, S. 7)

Unmittelbar unter dieser Zielansprache hört der Gemeinschaftsgeist bei den Reformbemühungen in Deutschland aber schon auf. Im Unterschied zu einer Reihe kleinerer europäischer Nachbarländer, z.B. Dänemark, Niederlande, Österreich, Schweiz, die durchweg und offenbar dauerhaft ihre Anpassungsprobleme in den Griff bekommen haben mit (im Vergleich zu Deutschland) hälftigen Arbeitslosenquoten, doppelten Wachstumsraten und weitgehender Konsolidierung ihrer Staatshaushalte (Yvonne Heiniger, Thomas Straubhaar et al. "Ökonomik der Reform: Wege zu mehr Wachstum in Deutschland", 2004; Stefanie Wahl und Martin Schulte "Arbeitslosigkeit abbauen - von Besseren lernen!" 2005).

Worauf ist die arrogante Nichtbeachtung dieser Erfolgsmodelle in der deutschen Reformdebatte zurückzuführen? Auffällig ist, dass in der Globalisierungskritik hierzulande Soziologen, Politikwissenschaftler und Diplomphysiker das Feld bestimmen. In Ermangelung kreislauftheoretischer Analysetechnik, wie sie dem Ökonomen zu Gebote steht, weichen sie nicht selten in Populismus und Emotionen aus. Bei Ulrich Beck und anderen ist es der ungehemmt waltende Turbokapitalismus, der als Herd allen Übels ausgemacht ist (Ulrich Beck "Was ist Globalisierung?" 1997).

Folglich wird die Agenda-Politik als "politischer Zynismus" diffamiert (Joachim Weinert "Leitbilder der Gegenwart", Reihe Essay und Diskurs, Deutschlandfunk, 20.Januar 2008). Oskar Lafontaine findet auf diese Weise beängstigenden Massenzulauf mit staatsschuldtreibendem Post-Keynesianismus. Zu allem Überfluss geht der DGB dem naiven Soziologenmythos vom Ende der Erwerbsarbeit auf den Leim und will mit kontraproduktiver Arbeitszeitverkürzung Arbeit für alle schaffen. Derweil klinkt sich die Wirtschaftswissenschaft mit formaler Modellschreinerei aus der Debatte aus: mit Abwertungsszenarien (die in Zeiten einer Europäischen Währungsunion keinen Bezug zur Realität haben) bzw. mit einem zehnprozentigen Lohnstillhalte-Moratorium, das am Kernproblem eines strukturellen Binnennachfrage-Gaps völlig vorbei geht (Herbert Giersch "Die Rolle der Löhne" in: "Arbeit und Beschäftigung", Sonderdruck Orden pour le Mérite, aaO).

Die Konsequenz alles dessen ist, dass die Leitlinien der Politik zunehmend weniger von rationalen Erwägungen und zunehmend mehr von Neurosen bestimmt werden (Wolfgang Herles "Neurose D", 2008). Hatte Roman Herzog in seiner Berliner "Ruck"-Rede vom April 1997 angesichts dieses Befundes Recht, als er postulierte: wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben nur ein Umsetzungsproblem? Mir scheint, er lag bei aller Brillianz seiner Analyse in diesem Punkt daneben.

Ist es nicht vielmehr so, dass unsere politische Elite noch immer ein Wahrnehmungsproblem insofern hat, als sie die Tragweite jener Umbruch-Triade an der Jahrtausendwende - Globalisierung in der Wirtschaft, digitale Revolution in der Technik und demographische Schere in der Gesellschaft - offenbar nicht zu ermessen in der Lage ist? Ein Aufbruch zu "Neuem Denken" im Sinne des Herzogschen Rucks, mit dem die industriewirtschaftlich determinierten sozialen Regelwerke vom Ausgang des 19. Jahrhunderts als nicht mehr "passfähig" (Biedenkopf) für die Lösung der Probleme der nachindustriellen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts erkannt würden, hat jedenfalls bei uns nicht stattgefunden.

Was nicht wahrgenommen wird, ist, dass Globalisierung Neuverteilung der globalen Einkommensströme zugunsten Südostasiens und zu Lasten des Westens bedeutet; dass Globalisierung auf Deutsch übersetzt "Teilen" heißt. O-Ton Helmut Schmidt: Die Chinesen haben keinen größeren IQ als wir in Deutschland, aber sie sind fleißiger als wir und arbeiten länger.

Was nicht wahrgenommen wird, ist, dass die digitale Revolution einen Transformationsprozess von der alten Industriewirtschaft in die wissensbasierte Dienstleistungsökonomie in Gang gesetzt hat, die den Taktstock des gesamtwirtschaftlichen Wachstums inzwischen so sehr schwingt, dass im Vergleich zum real existierenden deutschen "Silicon Territory" das kalifornische Silicon Valley als museales Relikt erscheint. Die Tertiarisierung der deutschen Volkswirtschaft hat längst dazu geführt, dass die industrielle Wertschöpfung (inklusive Bauwirtschaft) auf einen Minderheitsanteil von 24 Prozent am Bruttoinlandsprodukt zurückgeführt wurde und dass drei Viertel der gesamtwirtschaftlichen Leistung aus nicht-industrieller Wertschöpfung stammen.

Was nicht wahrgenommen wird, ist, dass der unumgängliche Umbau unserer Sozialsysteme und die demographische Schere als zwei Seiten ein und derselben Medaille gesehen werden müssen. Nachdem wir die Alterung der Bevölkerung durch medizinischen Fortschritt und den Geburtenrückgang durch technischen Fortschritt (Kondom und Pille) bewusst herbeigeführt haben, dürfen wir uns nicht wie die Schildbürger darüber wundern, dass im fensterlos gebauten Rathaus das Licht fehlt.

Das Fatale an diesen Wahrnehmungsblockaden ist, dass sie eine Verdrängungsmentalität etabliert haben, die in einer Reihe von Denkfallen Ausdruck findet, in denen sich die reformpolitische Diskussion hilflos verheddert hat.

So führt die Denkfalle, Deutschland sei noch immer eine Industrienation, dazu, dass die aus der Industriewirtschaft überkommenen Regulierungssysteme (z.B. flächendeckende Tarifsysteme) in der kleinteilig und mittelständisch organisierten nachindustriellen Wirtschaft nicht nur nicht mehr greifen, sondern mit ihrer weiteren sturen Anwendung kontraproduktive Wirkungen hervorrufen (Biedenkopf, Kurt H. und Edmund Stoiber: "Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland", Bericht der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen 1997), die ihrerseits staatliche Interventionen auslösen etc. Es ist dieser Aktionismus, der für die zunehmenden Funktionsmängel des Systems verantwortlich ist. So mutiert mit zunehmender Überregulierung die Soziale Marktwirtschaft in eine Sozialbürokratie. Makabrer Ausfluss dieser Art Industriepolitik sind zum Beispiel Industrieansiedlungsprämien wie im Fall Nokia: milliardenschweren Unternehmen werden zur Vermehrung ihres Immobilienvermögens Geldgeschenke gemacht, die vom kargen Lohn von Marie und Otto Normalverbraucher, der Krankenschwester und dem Busfahrer abgezogen werden.

Bei der Denkfalle vom Ende der Erwerbsarbeit werden aus der zutreffenden Beobachtung der Freisetzung von Arbeit durch steigende Arbeitsproduktivität in der Industrie unzulässige Schlüsse auf die Beschäftigungsentwicklung der Wirtschaft insgesamt gezogen. Übersehen wird in der "jobless growth"-Debatte (s. Lord Dahrendorf: "Beschäftigung im Wandel" in: "Arbeit und Beschäftigung", Sonderdruck Orden pour le Mérite, aaO S.61ff), dass sich dieser Freisetzungsprozess in einem Wertschöpfungsbereich abspielt, der heute nur noch zu 24 Prozent zum BIP beiträgt. In der das Wachstum der Volkswirtschaft zunehmend bestimmenden wissensbasierten Neuen Ökonomie, deren Dynamik und Robustheit von Gerhard Casper am Beispiel des Silicon Valley eindrucksvoll beschrieben wird (Gerhard Casper: "Beschäftigung im Silicon Valley", Sonderdruck aaO, S. 73 ff), besteht demgegenüber in Deutschland ein empfindlicher Beschäftigungsnachfrageüberhang, der aufgrund von Ausbildungsdefiziten der Workforce nicht gedeckt werden kann. Nicht fehlende Arbeit sondern mangelnde Ausbildung scheint hier das Problem zu sein.

Bei der arbeitsmarktpolitischen Problemgruppe der Geringqualifizierten sind es demgegenüber mangelnde finanzielle Anreize, die den Zugang zum Arbeitsmarkt versperren. Earned Income Tax Credit in Kombination mit Zulassung von Mehrfach-Teilzeitjobs (entsprechend individuellem Bedarf) wären hier die zielführende Strategie, wenn es gelänge, sich von der unseligen Vorstellung zu verabschieden, dass nicht genügend Arbeit verfügbar sei (s. Müller-Michaelis "Geht uns wirklich die Arbeit aus?", in: Neue Wege zu mehr Beschäftigung aaO, S. 61 ff).

Eine der folgenschwersten Denkfallen besteht in der Vorstellung, dass soziale Sicherung nur im Wege von Hochbesteuerung erreichbar sei. Unser tradierter Sozialbegriff impliziert, dass die Exklusion freigestellter Beschäftigter aus dem Erwerbsleben schicksalhaft hinzunehmen und durch staatliche Sozialtransfers zu finanzieren sei. Die daraus folgende Ausuferung des Sozialstaats hat eine Anspruchsmentalität erzeugt, die zum eigentlichen Motor von Hochbesteuerung, hoher Staatsquote und Überschuldung des Staates geführt hat.

Die Janusköpfigkeit von Hochbesteuerung besteht darin, dass sie zwar die Empfänger von Sozialsubventionen mehr schlecht als recht befriedigt, für die große Mehrheit aber Lasten mit sich bringt, denen mit Ausweichmanövern begegnet wird. Auf diese Weise ist mit der Schattenwirtschaft in den "Katakomben" (Meinhard Miegel) der offiziellen eine inoffizielle Parallelwirtschaft mit einer jährlichen Wertschöpfung von 300 bis 400 Milliarden Euro entstanden, die an den Steuer- und Sozialkassen vorbei nicht in die Volkseinkommensrechnung eingeht. In dieses "Liechtenstein des Kleinen Mannes" flüchten im übrigen nicht nur, wie es Herbert Giersch in einer Antwort auf eine Frage von Hans-Magnus Enzensberger sieht, sozialversicherungspflichtig Beschäftigte sondern natürlich in gleichem Maße auch von Sozialtransfers Begünstigte. Warum auch nicht? Die Politik fordert durch Unterlassen und Hinnahme dieses Verhalten geradezu heraus. Schließlich verbirgt sich hinter dem Millionenheer von Schattenwirtschaftlern (nach Schätzungen sechs bis acht Millionen) ein Millionenheer von Wählern.

Eine Umkehr ist auch in diesem Fall nur durch Umdenken zu bewerkstelligen, das einen Strategiewechsel von Exklusion zur Inklusion erfordert: Für Geringqualifizierte, wie dargestellt, über verbesserte Anreize, belastungsgerechte Eigenerwerbseinkommen zu erwirtschaften, für Facharbeiter Schaffung von durchgängigen Erwerbsbiographien mittels Verzahnung von Beschäftigung mit beruflicher Weiterbildung.

Abkehr von Hochbesteuerung ist möglich, wenn Einkommens-, Beschäftigungs- und Fiskalpolitik im Verbund miteinander gesehen werden. Angesichts der Wanderung der ehemals Industriebeschäftigten in die wissensbasierte Dienstleistungsökonomie mit ihren vergleichsweise "prekären" Einkommensverhältnissen ist eine Fiskalpolitik gefragt, durch die über Steuerentlastung in der Breite der mittleren Einkommensschichten Finanzierungsspielräume für Beteiligungsmodelle am volkswirtschaftlichen Kapitalstock geschaffen werden. Das auf diese Weise aus Eigensparen und staatlicher Sparförderung erzeugte kapitalgedeckte Zweiteinkommen für alle ("Bürgerkapital"), das insbesondere auch dem Aufbau einer zweiten Säule der Alterssicherung zu dienen vermag, ist so revolutionär nicht, entspricht es doch der alten Erhardschen Idee vom Volkskapitalismus. Mangel an intelligenten Finanzierungsmethoden zur Erreichung dieses Zieles herrscht im übrigen nicht (als Beispiel s. Herbert Giersch: "Arbeit durch Wachstum?", Sonderdruck aaO, S. 47, Ptk.4.9).

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass wir der Lösung der Beschäftigungsfrage dann näher kommen, wenn wir uns von dem Grundirrtum lösen, der der Reformdebatte hierzulande zugrunde liegt: dass die Lohnhöhe wie zu Zeiten der alten Industriewirtschaft auch in der wissensbasierten Dienstleistungsökonomie die entscheidende Steuerungsgröße für Einkommen und Beschäftigung sei. Bestimmungsfaktor des Nettobetrages, der am Monatsende in die private Haushaltskasse fließt, ist aber keineswegs allein die Höhe des Stundenlohns, sondern es sind gleichermaßen die Dauer der Arbeitszeit, die Höhe der Steuer- und Abgabenlast und schließlich die Anzahl der Einkommensquellen, über die jeder Haushalt mehr oder weniger verfügt. Alle diese Stellschrauben zusammengenommen müssen wir in den Fokus unserer Reformbemühungen nehmen, wenn wir unser Problem ernsthaft lösen wollen.

Mai 2008