Wege aus der Jugendarbeitslosigkeit -
Neue Gedanken zu einem alten Thema

Wolfgang Müller-Michaelis

1. Erweiterung des rotarischen Dienste-Kanons

Geht man vom traditionellen Verständnis des rotarischen Berufsdienstes aus, das auf Mitwirkung der Rotarier an der Entwicklung berufsethischer Standards in ihren jeweiligen Berufsfeldern gerichtet ist und das ihnen die Verpflichtung auferlegt, ihr berufliches Fachwissen anderen, gerade auch nicht-rotarischen und insbesondere jugendlichen Berufstätigen zur Verfügung zu stellen, die einer solchen Unterstützung bedürfen, scheint das Thema Jugendarbeitslosigkeit auf den ersten Blick den Rahmen dieses rotarischen Aufgabenbereichs zu sprengen.

Bedenkt man aber, dass es zum harten Kern der rotarischen Idee von Beginn an gehörte, dass sich Rotarier überall dort in den Dienst der Gemeinschaft stellen, wo sich schwerwiegende Probleme auftun, die mit herkömmlichen Mitteln kaum lösbar erscheinen, dürfte ihr vereinter Einsatz gerade auch in dieser Sache allemal gerechtfertigt sein. Denn es bedarf keiner weiteren Erörterung, dass die Probleme und Herausforderungen, denen sich Rotary und die internationale Gemeinschaft heute gegenübersehen grundlegend anderer Natur sind als jene, mit denen sich unsere rotarischen Vorfahren vor hundert Jahren auseinanderzusetzen hatten. Insbesondere die Umbruchtriade am übergang vom 20. in das 21. Jahrhundert: Globalisierung in der Wirtschaft, digitale Revolution in der Technik und demographische Verwerfungen in der Gesellschaft stellen mit ihren sich gegenseitig kumulierenden Wirkungen die Weltgemeinschaft und damit auch Rotary vor ganz neue Aufgaben.

Rotary International hat auf diese Umbrüche und auf die damit einhergehenden neuen Aufgaben mit einem richtungsweisenden Schritt reagiert, indem es seine traditionellen vier Dienste Clubdienst, Berufsdienst, Gemeindienst und Internationaler Dienst seit diesem Jahr auch offiziell um den Jugenddienst erweitert hat, der in der Praxis des deutschsprachigen Raumes bekanntlich schon seit längerem zum rotarischen Aufgabenspektrum gehört. Hinzu kommt, dass RI mit dem neuen Future Vision Plan, der sechs Schwerpunktbereiche zukunftsgerichteter rotarischer Arbeit herausstellt, die Förderung der Elementarbildung zu einem übergeordneten rotarischen Arbeitsziel erklärt hat.

In diesem Sinne greift die Berufsdienst-Tagung 2010 des Distrikts 1890 diese neue Dimension rotarischer Aufgabenstellung auf, die den Fokus verstärkt auf den Jugendbezug und das Bildungselement richtet und die im Motto des Berufsdienst-Beauftragten des Deutschen Governorrats PDG Harald Bos "Jugend – Bildung – Beruf" treffend Ausdruck findet.

2. Jugendarbeitslosigkeit – Problem der Politik oder Politik als Problem?

Zweifellos ist Jugendarbeitslosigkeit zunächst ein Problem, dessen sich die Politik anzunehmen hat. Das geschieht aber schon so lange und ohne durchgreifenden Erfolg, dass man sich fragen muss, ob hier nicht inzwischen die Politik selbst zum Problem geworden ist. Dabei ist es "nicht ganz ohne", wenn wir uns beim Befassen mit diesem Thema auf politisches Gelände, genauer in den vor allem in Deutschland ideologisch umkämpften Bereich der Arbeitsmarktpolitik begeben.

Für einen Rotarier ist das leichter gesagt als getan. Leuchtet doch, wenn es um politische Themen geht, sofort die rote Lampe auf, die uns an die althergebrachte Regel gemahnt: Keine Politik bei Rotary! Wir wissen natürlich, dass es sich bei dieser Maxime um eines der Erfolgsgeheimnisse Rotarys handelt, trägt sie doch zur Festigung der Freundschaft untereinander bei, was erfahrungsgemäß dann am besten gelingt, wenn man das Austragen politischer Meinungsstreitigkeiten aus dem Clubleben verbannt.

Wie also finden wir aus dem Dilemma heraus, uns mit einem der heißesten Eisen der Politik zu befassen, ohne dabei die Regeln des rotarischen Miteinanders zu verletzen? Der Ausweg könnte das Modell des akademischen Diskurses sein, bei dem ja die emotio per definitionem vor der Tür bleibt, weil nur der von der ratio geleitete Gedankenaustausch zum Kern der Sache vorzudringen vermag.

Wenn jedes Jahr 60.000 Hauptschüler ohne Abschluss in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, wo sie auf ein Heer von mehreren hunderttausend Schicksalsgenossen stoßen, die sich aus früheren Abschlussjahrgängen stammend als von Hartz IV finanzierte jugendliche Konsumbeamte, nicht selten mit Migrationshintergrund, dort bereits eingerichtet haben, kann das niemanden unberührt lassen, der sich als engagierter Bürger für Wohl und Wehe von Staat und Gesellschaft mitverantwortlich fühlt.

Es ist hier weder Ort noch Zeit in eine Ursachenforschung nach den Gründen dieser Misere einzutreten. Da aber eine heilende Therapie, wenn sie denn überhaupt noch möglich erscheint, ohne Diagnose nicht zu haben ist, sollen einleitend einige Stichworte zur Ausleuchtung des diffusen Hintergrundes unserer Problemlage beitragen.

Wie kaum ein anderer Politikbereich ist die Arbeitsmarktpolitik von Ungereimtheiten, Paradoxien und Mythen umlagert und durchdrungen:

Wie passt der wachsende Arbeitskräftemangel mit einem nach wie vor hohen Stand der Arbeitslosigkeit zusammen?

Was ist vom Mythos vom Ende der Arbeit zu halten, wenn wir uns gleichzeitig einem dynamischen Gründungsgeschehen vor allem bei mittelständischen Unternehmen der wissensbasierten Dienstleistungsökonomie gegenüber sehen, deren Arbeitskräftebedarf am heimischen Arbeitsmarkt nicht gedeckt werden kann?

Wie passt die boomende Schattenwirtschaft, in der nach Expertenaussagen am Fiskus und an den Sozialkassen vorbei von schätzungsweise sechs bis acht Millionen Teilzeit-Jobbern eine jährliche Wertschöpfung in der Größenordnung von fünfzehn Prozent des Sozialprodukts erwirtschaftet wird, mit der Behauptung zusammen, es gäbe in Deutschland nicht genügend Arbeit im Bereich einfacher Dienstleistungen?

Wie ist es möglich, dass der ausufernde Sozialstaat, in dem Jahr für Jahr über die Hälfte unseres Staatshaushalts versenkt wird, darunter die Finanzierung von rund sieben Millionen Hartz IV-Empfängern, mit der These verteidigt wird, diese riesige Population müsse vom Staat versorgt werden, weil sie keine Beschäftigung finde?

Es ist offensichtlich, dass sich diese Widersprüche auflösen, wenn man die seit zwei Jahrzehnten unvertretbar hohe strukturelle Unterbeschäftigung hierzulande statt auf ein mangelndes Arbeitsangebot auf Ausbildungsdefizite gerade bei jugendlichen Arbeitslosen einerseits und auf verfehlte Anreizsysteme zur Arbeitsaufnahme für einen Großteil der geringqualifizierten Langzeitarbeitslosen zurückführt.

Es ist interessant und unterstreicht die politische Relevanz und Bedeutung unseres Themas, dass der diesjährige Wirtschaftsnobelpreis an drei US-amerikanische Wissenschaftler ging, die sich gerade auch mit den hier skizzierten Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage auf den Arbeitsmärkten beschäftigt und u.a. falsche bzw. fehlende Anreizsysteme als ursächlich für diese Ungleichgewichte ermittelt haben.

Die Ergebnisse dieser Forschungen stimmen jedenfalls mit meiner These überein, die ich dem folgenden Hauptteil meines Vortrags unterlegen möchte, dass nämlich recht verstandene Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik im 21. Jahrhundert in ihrem Kernbereich nur eine weitgefasste und neu aufgestellte Bildungspolitik sein kann.

3. Strategie des LebensLangenLernens

In einer gelebten Demokratie sollte Leitlinie nicht nur der Politik sondern auch des für das Gemeinwohl Verantwortung mittragenden Bürgers sein, zur Erreichung der gesteckten Ziele im Großen wie im Kleinen mit den verfügbaren Mitteln sorgsam zu haushalten. Die Bundeskanzlerin hat für dieses verantwortungsbewusste Handeln von Bürger und Staat vor Jahren als Vorbild die schwäbische Hausfrau herangezogen.

Tatsächlich verstößt aber gerade der Staat massiv gegen diese Maxime, wenn er, wieder nach einem Wort der Bundeskanzlerin (beim Wirtschaftstag der Union im Juni 2010 in Berlin) 75 Prozent des Staatshaushalts für konsumtive Zwecke insbesondere auch für Sozialsubventionen einschließlich der Bedienung der nicht zuletzt durch diese mit verursachte Staatsschuld ausgibt, die damit den eigentlichen auf die Zukunftsplanung unserer Gesellschaft gerichteten investiven Zwecken entzogen sind. Auf Bildung und Forschung entfallen im aktuellen Bundeshaushalt gerade mal drei Prozent der Staatsausgaben.

Wollen wir dieser unverantwortlichen Praxis staatlicher Ausgabenpolitik ein Ende bereiten, die ja im übertragenen Sinne bedeutet, dass wir gedankenlos unser Saatgut verfrühstücken, müssen wir den Hebel an der Stelle herumreißen, wo er mit größtmöglicher Hebelwirkung Umkehr und Umschwenken auf den von allen gewünschten Pfad der Konsolidierung verspricht. Aus diesem Grund ist der Rückbau des ausufernden Sozialstaats das allem übergeordnete Gebot der Stunde.

Dieser Umbau ist nach Lage der Dinge nur zu bewerkstelligen, wenn es gelingt, die strukturelle Unterbeschäftigung in nachvollziehbaren Schritten in Beschäftigung zu überführen. Nur auf diesem Wege erscheint es möglich, jene Mittel zu mobilisieren, die durch sukzessive Umschichtung der den Staatshaushalt heute bestimmenden konsumtiven Sozialausgaben in Richtung investiver Ausgaben für Bildung, Forschung und infrastrukturellen Ausbau zu erschließen sind.

Welchen Nachholbedarf Deutschland, das mit seinem Bildungswesen einst Maßstäbe setzte, im internationalen Vergleich inzwischen hat, zeigt die jüngste europäische Bildungsstudie der Bertelsmann Stiftung. Danach bleibt die Bundesrepublik bei dem 36 Einzelindikatoren umfassenden Lernklima-Index deutlich hinter Dänemark, Schweden, den Niederlanden, Finnland und weiteren Nachbarn zurück und nimmt beim Gesamt-Ranking nur noch einen Platz knapp über dem europäischen Durchschnitt ein.

Der im Rahmen meines langjährigen Forschungsprojekts Agenda Arbeit 21 entwickelte beschäftigungspolitische Ansatz trägt diesem Aspekt Rechnung und weicht in diesem entscheidenden Punkt von der bisher in Deutschland praktizierten Arbeitsmarktpolitik ab. Entgegen der hier angewandten pauschalierenden Methode, mit der alle Arbeitslosen vom Hauptschüler ohne Abschluss bis zum Akademiker mit Qualitätsexamen in einen Topf geworfen werden, setze ich auf bildungspolitische Differenzierung der beschäftigungspolitischen Maßnahmen für die unterschiedlichen Gruppen Betroffener, als da sind: arbeitslose Facharbeiter und Akademiker, Langfristarbeitslose mit geringer Qualifikation, jugendliche Arbeitslose sowie Seniorenarbeitslose. Es liegt nahe, dass sich auf diese Weise ganz andere Spielräume für auf die einzelnen Gruppen zugeschnittene Lösungsansätze ergeben, die die pauschalierende Methode nicht zu bieten vermag.

Im Rahmen der 3-L-Strategie, der Strategie des LebensLangenLernens, mit der ich auf dauerhafte und nachhaltige Eingliederung vor allem arbeitsloser Facharbeiter und Jugendlicher in den Arbeitsmarkt setze, konzentriere ich mich in meinem heutigen Vortrag auf die Problemgruppe der Hauptschüler ohne Abschluss, natürlich auch im Hinblick auf Mitwirkungsmöglichkeiten unserer um Jugenddienst und Elementarbildungsförderung erweiterten Berufsdienstarbeit.

Nachdem Globalisierung und Digitalisierung die Anforderungen an berufliche Tätigkeit in praktisch allen Berufszweigen radikal verändert haben, erwächst daraus ein neues Verständnis von herkömmlicher Erwerbsarbeit in dem Sinne, dass Aus- und Weiterbildung über ihre Funktion als beschäftigungssichernder Begleiter des Berufslebens hinaus zu einem begrifflichen Bestandteil von Arbeit schlechthin wird.

Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass wir vom notwendigen Umbau des überkommenen Sozialstaats in eine moderne zukunftsgerichtete Informations- und Wissensgesellschaft sprechen. Die einzelnen Bausteine dazu liefert die Strategie des LebensLangenLernens. Das Ergebnis wird eine zunehmende Verwebung von Bildung und Arbeit sein, wie sie in der englischen Fassung "Roping Lab & Ed" treffend zum Ausdruck kommt. In diesem neuen bildungsorientierten Verständnis von beruflicher Arbeit klingt bereits der Lösungsansatz zur Schaffung geschlossener Erwerbsbiographien und damit zu einer generellen überwindung von Arbeitslosigkeit an. Das setzt allerdings systematische Anpassungen in der Organisation unserer traditionellen Bildungswege und Weiterbildungsverfahren voraus:

Erstens liegt es nahe, die Schul- und Ausbildungszeiten vor Einstieg in die Berufstätigkeit in ihrer Dauer abzukürzen, wenn diese selbst in regelmäßigen Abständen von Lernintervallen unterbrochen wird. Das Abitur nach dem zwölften Schuljahr und die Reduzierung der Lehrzeit im dualen System von drei auf zwei Jahre sind die logische Konsequenz aus lebenslanger Einheit von Bildung und Arbeit.

Welche politische Brisanz in diesem Reformansatz steckt, zeigt die aktuelle Auseinandersetzung um den Ausbildungspakt, den die Bundesregierung mit den Wirtschaftsverbänden und dem Deutschen Gewerkschaftsbund zu schließen beabsichtigt. Der DGB verweigert seine Mitwirkung u.a. wegen der von den Wirtschaftsverbänden geforderten Verkürzung der Ausbildungszeiten von drei auf zwei Jahre.

Zweitens erfordert diese neue Sicht der Dinge, dass die nach der Berufsausbildung das Berufsleben begleitende Weiterbildung, gerade auch in den Zwischenphasen beim Wechsel von einem Beschäftigungsverhältnis in ein anderes, zu einem integralen Bestandteil von Erwerbsarbeit wird.

War Bildung in vordemokratischen Zeiten ein Privileg der Oberschicht, änderte sich dies im Zuge des Frühsozialismus im 19. Jahrhundert zum Beispiel mit der Gründung von Arbeiterbildungsvereinen. Das mit der Industrialisierung verbundene Aufkommen technischer Berufe förderte das Bewusstsein, dass Bildung auch eine emanzipatorische Kraft innewohnt. Der Satz "Wissen ist Macht" war in diesem Sinne eine durchaus auch klassenkämpferische Parole.

So ist die in der Vorstellung vom LebensLangenLernen angelegte fünfgliedrige Bildungskette von Kita über Schule, Berufsausbildung und Uni bis zur beruflichen Weiterbildung Ergebnis unserer Kultur- und Bildungsgeschichte, die weit zurückreicht. "Kindergarten" ist nicht von ungefähr ein seit langem in den englischen Sprachschatz aufgenommener Begriff. Die Volksschule ist eine Erfindung des alten Preußen, wo die allgemeine Schulpflicht vor fast dreihundert Jahren, genau am 28. September 1717, eingeführt wurde. Interessanterweise wurden die ersten Volksschullehrer vom Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. aus den Reihen nicht mehr wehrdiensttauglicher Unteroffiziere rekrutiert, die nach seiner extensiven Auffassung von Pflichterfüllung für ihren Ehrensold eine Gegenleistung für die Gemeinschaft zu erbringen hatten. Auch die duale Berufsausbildung ist eine unserer großen Kulturleistungen, die sicher zu den Erfolgsgeheimnissen unserer Wirtschaft zählt.

Der Kraftakt, den wir heute unter den veränderten Bedingungen unserer modernen Arbeitswelt zu leisten haben, ist es, diese so erfolgreich in der dualen Berufsausbildung umgesetzte Idee der Symbiose von Bildung und Arbeit in ähnlich verbindlicher Form auch für die berufsbegleitende Weiterbildung nutzbar zu machen. Zusammen mit dem erforderlichen Ausbau dieses fünften Gliedes unserer Bildungskette bedürfen aber, wie wir alle wissen, auch die erstgenannten Glieder, insbesondere unser Schulsystem einschließlich der Vorschule, eines großangelegten Investitionsprogramms, damit unser Bildungssektor seine segensreichen Wirkungen für das Wohl der Gesellschaft, für die Zukunft unserer Kinder und Enkel auch wirklich entfalten können. Dass diese gigantische Aufgabe nach Lage der Dinge nur durch sukzessive Umschichtung aus dem so gefährlich aufgeblähten Sozialbudget finanziert werden kann, ist eingangs ausführlich begründet worden.

Aber nicht nur Geld, auch eine veränderte gesellschaftliche Werteorientierung erscheint unerlässlich, wenn diese anstehende kombinierte Sozial- und Bildungsreform zum Erfolg gebracht werden soll. Hier können und müssen alle gesellschaftlichen Gruppen, auch die Service-Clubs und natürlich auch Rotary ihren Beitrag leisten. Das gilt besonders für die Anstrengungen, einem der tragenden Pfeiler des Bildungssektors, der Haupt- und Realschule, den ihm gebührenden Stellenwert wieder zu verschaffen.

4. Haupt- und Realschule im Fokus moderner Bildungspolitik

Nicht zuletzt geht es dabei um eine kräftige Imageverbesserung dieses tragenden Schultyps unseres Bildungssystems, um seine innere Akzeptanz bei den Schülern zu fördern. Damit verbunden ist ein Motivationsschub zur Freisetzung von Lernbereitschaft, um die in vielen Fällen unzureichenden Ergebnisse bei Sprachfertigkeit und mathematischen Grundkenntnissen zu verbessern. Das für das Lernklima so wichtige Gemeinschaftsgefühl an den Schulen sollte durch Aufwertung des Sport- und Musikunterrichts gefördert werden. Sportwettkämpfe, Musikwettbewerbe und Aufsatzwettbewerbe unter den Schulen sollten den Sportsgeist anstacheln, um auf diese Weise, gerade auch unter Berücksichtigung der multiethnischen Zusammensetzung vieler Klassenverbände, das für den Erhalt der Gesellschaft so wichtige soziale Miteinander einzuüben.

In den letzten beiden Hauptschuljahren sollten berufsvorbereitende Kurse, die an der Nutzung und Förderung der praktischen Intelligenz der Hauptschüler orientiert sind, in den Unterrichtskanon aufgenommen werden. Hier gibt es bereits vielfältige Beispiele sowohl staatlicher Modellversuche als auch zivilgesellschaftlichen Engagements, die es zu einer obligatorischen ausbildungsorientierten Unterrichtsgestaltung an den deutschen Hauptschulen auszubauen gilt.

Ein zukunftsträchtiges Pilotprojekt war das nach einer Idee von Loki Schmidt, der verstorbenen Frau des Altbundeskanzlers, in Zusammenarbeit von ZEIT-Stiftung und Hamburger Schulbehörde vor Jahren auf den Weg gebrachte LERN-WERK Hamburg, von dem auch Impulse für ähnliche Initiativen in Rostock und in der Altmark ausgingen. Dabei ging es um berufsvorbereitende übungen, die in den letzten beiden Hauptschuljahren in den Unterricht integriert werden. In dafür eingerichteten, von der Wirtschaft gesponserten Werkräumen wurden die Schüler mit handwerklichen Tätigkeiten vertraut gemacht. Ergänzend fanden einmal pro Woche außerschulische Praktikanten-Workshops in Unternehmen statt, die im Verbund mit dem LERN-WERK zusammenarbeiteten. Initiativen dieser Art sind in einer Reihe weiterer Bundesländer in Zusammenarbeit von Schulen, Unternehmen und örtlichen Handwerkskammern gestartet worden. Die Deutsche BP AG hat, um ein weiteres Beispiel zu nennen, für das von ihr geförderte Projekt der Berufsvorbereitung benachteiligter Jugendlicher eine eigene Stiftung gegründet.

Aus ähnlichen Modellprojekten, die ebenfalls die Einbeziehung einer auf die Möglichkeiten der Hauptschüler abgestellten berufsvorbereitenden Bildung in den Unterricht zum Ziel hatten, ist in Baden-Württemberg der neue Schultyp der "Werkrealschule" hervorgegangen, der sich gegenwärtig in der Einführungsphase befindet. Von den aus dem ganzen Land eingegangenen Gründungsanträgen für Werkrealschulen sind für das Start-Schuljahr 2010/2011 bereits 490 Anträge genehmigt worden.

Mit dem Ziel, den hohen Anteil von Jugendlichen, die heute die Schule ohne Abschluss verlassen, zu senken, indem sie bereits während der Schulzeit mit handwerklichen und pflegerischen Berufen vertraut gemacht und ihnen aus eigenem Kennenlernen Berufsperspektiven aufgezeigt werden, hat die Bundesregierung Mitte des Jahres eine bundesweite Berufsbildungsinitiative für Hauptschüler gestartet. Mit diesem Programm sollen lernschwachen Schülern im vorletzten Schuljahr, in der Regel in der 8. Klasse, Bildungslotsen zur Seite gestellt werden. Dieses zusätzliche Lehrpersonal soll aus geeigneten Fachleuten zunächst der Bundesagentur für Arbeit, aber auch aus Praktikern der Wirtschaft, die sich für diese Aufgabe ehrenamtlich zur Verfügung stellen, rekrutiert werden.

Mit dieser Bildungslotsen-Initiative, für die der Bund bis 2013 95 Millionen Euro bereitstellt, sollen im ersten Ansatz 100.000 Hauptschüler erreicht werden. Vorgeschaltet werden soll das Berufsorientierungsprogramm BOP, mit dessen Hilfe bereits in den 7. Hauptschulklassen Stärken, Schwächen und berufliche Neigungen gefährdeter Schüler ermittelt werden sollen. Für dieses bereits in Probeläufen eingeführte Evaluierungsprogramm sollen im laufenden Jahr 50 Millionen Euro ausgegeben werden.

Für Rotary ergeben sich im Rahmen unserer Berufsdienstarbeit interessante Mitwirkungsmöglichkeiten in einem solchen Programm. So könnte ich mir vorstellen, dass als eines der Ergebnisse der heutigen Berufsdiensttagung des Distrikts 1890 die Empfehlung an den Berufsdienst-Beauftragten des DGR hervorgehen könnte, in einem Rahmenabkommen zwischen dem DGR und dem Bundesbildungsministerium Eckwerte für ehrenamtliche Mitwirkung interessierter Rotarier im Bildungslotsenprogramm der Bundesregierung zu vereinbaren.

Die Hauptschule verstärkt für berufsorientierte übungen in den Fokus zu nehmen, ist sicher ein erster notwendiger Schritt, um im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit Geländegewinne zu erzielen. Aber weil es sich hier um eine langfristig angelegte Strategie handelt, wird sich die Erfolgsquote beim Hauptschulabschluss in realistischer Betrachtung und bei noch so engagierten Initiativen kurzfristig kaum nennenswert steigern lassen. Es ist daher, um dem massenhaften Abgleiten erfolgloser Hauptschüler in die Arbeitslosigkeit auf kurze Frist einen Riegel vorzuschieben, eine ergänzende arbeitsmarktpolitische Maßnahme erforderlich, die im Zwischenbereich von Schulabgang und Eintritt in den Arbeitsmarkt anzusiedeln ist.

Gesucht wird eine Art Ausbildungsschleuse, die nach dem Schulabgang schwer vermittelbare junge Leute, statt sie gleich am Beginn ihres Erwachsenenlebens ins Abseits zu stellen, was in Deutschland konkret heißt, sie in eine die Gemeinschaft teuer zu stehende kommende soziale Hängematte zu entsorgen, ihnen eine auf ihre Situation zugeschnittene Auffangposition zu verschaffen. Im Rahmen der Agenda Arbeit 21 wurde für diese Gruppe von Schulabgängern, die keinen Ausbildungsvertrag erhalten, quasi als Brückenpfeiler in der Nachschulphase die Einführung eines der Berufsschulpflicht vergleichbaren arbeitsrechtlichen Instituts einer "Praxisausbildungspflicht" entwickelt.

Hierbei handelt es sich um eine der besonderen Lage dieser Jugendlichen und ihren Möglichkeiten angepasste Form der Ausbildung, die in neu einzurichtenden "Ausbildungswerkstätten für Praktische Berufe (AfP)" abzuleisten wäre. Die Finanzierung dieser als Public-Private-Partnership-Einrichtungen in Kooperation der Sozialpartner mit der Bundesagentur für Arbeit zu betreibenden Ausbildungswerkstätten wäre aus Einsparungen im Sozialbudget und aus Beiträgen der Wirtschaft denkbar.

Nicht zuletzt Handwerksbetriebe und mittelständische Dienstleistungsunternehmen, die sich schwertun, die kostenträchtige Ausbildung unter eigenem Dach durchzuführen, könnten bei der Rekrutierung ihres beruflichen Nachwuchses auf derartige Ausbildungswerkstätten zurückgreifen. Auf diese Weise entstünde eine für alle Beteiligten attraktive Win-Win-Situation. Nicht nur die mit diesem Projekt geförderten Jugendlichen, auch die sich zusehends engeren Arbeitsmärkten gegenübersehende Wirtschaft und schließlich die von ausufernden Hartz IV-Zahlungen entlasteten Sozialkassen würden von diesem nachhaltigen Lösungsansatz zur überwindung der Jugendarbeitslosigkeit profitieren.

Vortrag Berufsdienst-Tagung 2010 Rotary International Distrikt 1890, Haus Rissen Hamburg
Oktober 2010