Einrichten in der Dauerkrise –
oder beherztes Anpacken der Probleme

Wolfgang Müller-Michaelis

Vor dem Hintergrund der Natur- und Energiekatastrophe in Japan, des Bürgerkrieges in Libyen, der kriegsähnlichen Zustände in Afghanistan und der Stammeskriege und Hungerkatastrophen in weiten Teilen Afrikas fällt es schwer, sich über die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in einem der wohlhabendsten Länder der Welt im Sinne einer krisenhaften Zuspitzung auszulassen.

Und doch ist es berechtigt, von einer Strukturkrise unseres deutschen Sozialsystems zu sprechen, soweit und solange es uns nicht gelingt, für Millionen von Kindern eine ausreichende Unterbringung in vorschulischen Einrichtungen, für Hunderttausende von Studenten vernünftige Studienbedingungen und für fünf Millionen Mitbürger und ihre 1,5 Millionen Kinder, d.h. in der Summe für fast sieben Millionen Hartz-IV-Empfänger eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu organisieren.

Die Gründe für dieses Unvermögen, das wir im übrigen mit vielen unserer europäischen Nachbarn teilen - denken wir nur an die hohen Jugendarbeitslosigkeitsquoten in Spanien mit über 40 Prozent, Irland 28 Prozent, Frankreich und Polen 25 Prozent, Schweden 23 Prozent usw. -, sind dieselben, die auch für die starken wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichte in vielen Teilen der Welt verantwortlich sind. Insofern kann unsere nationale Misere als Teil einer globalen Krise verstanden werden, auch wenn diese in den einzelnen betroffenen Ländern in unterschiedlicher Ausprägung und Schärfe zutage tritt.

Von der Fragestellung ausgehend, warum die Versuche der Politik, unseren Sozialstaat zeitgemäß zu reformieren, immer wieder fehlschlagen, habe ich mich mit der Entstehungsgeschichte unserer heutigen politischen Regelwerke und Sozialgesetze befasst. Da sie in ihren Grundzügen unter den Bedingungen der frühkapitalistischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entstanden sind, sollte es eigentlich niemanden verwundern, dass sie bei ihrer Anwendung auf die grundlegend veränderten Verhältnisse des 21. Jahrhunderts kaum mehr geeignet sind, eine regulierende und gestaltende Kraft zu entfalten.

Zum besseren Verständnis der radikalen Umwälzungen, die insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten stattgefunden haben und die ganz neue Politikansätze unabdingbar machen, habe ich das Bild der "Umbruchtriade" in die Diskussion eingebracht, deren Zusammentreffen den Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert prägt: Globalisierung in der Wirtschaft, digitale Revolution in der Technik und demographische Schere in der Gesellschaft. Jeder dieser Umbrüche würde es für sich erfordern, unsere herkömmlichen politischen Regelwerke an die veränderten Verhältnisse anzupassen. Die kumulierte Wirkung des Zusammentreffens aller drei Umbrüche haben unsere Lebensbedingungen derart durcheinandergewirbelt, dass sie die "Passfähigkeit" (Biedenkopf) unserer tradierten Politiksysteme vollends infrage stellen. Um wieder auf Augenhöhe mit den grundlegend veränderten Arbeitsbedingungen und Lebensverhältnissen unserer Zeit zu kommen, brauchen wir eine Gestaltung unserer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die diesen veränderten Verhältnissen Rechnung trägt.

Ein Rückblick auf die Entstehungsgeschichte unseres Sozialstaates in die Bismarckzeit des 19. Jahrhunderts macht deutlich, dass er einer vordemokratischen, paternalistischen Epoche entstammt, die die Masse der Bürger für unfähig hielt, ihr Schicksal aus eigener Kraft zu bewältigen. Daher musste zur Existenzsicherung der bevormundende Vater Staat einspringen. Diese Vorstellung sollte in einer freiheitlichen Demokratie mit sozialer Marktwirtschaft, die auf Selbstverantwortung des Bürgers für seine Lebensgestaltung beruht, eigentlich passé sein. Und doch beherrscht sie das Denken und Handeln eines Großteils unserer heutigen Sozialpolitiker in einem Maße, dass unsere auf freiheitliches Entscheidungshandeln der Bürger angelegte Ordnung wie durch ein inhärentes Blockiersystem in ihrer Leistungskraft immer wieder eingeschränkt wird mit der Folge, dass diese Behinderung inzwischen in eine Überforderung unserer Kräfte umgeschlagen ist und sich in einer eskalierenden Staatsverschuldung niederschlägt.

Die aus dem linken politischen Spektrum immer wieder erhobene Forderung, das Problem der Überschuldung mit einer Höherbesteuerung der Reichen zu lösen, hört sich zwar gut an, erweist sich bei näherer Betrachtung aber als Illusion. Denn zum einen ist diese Methode ja bereits seit langem in Gebrauch, wenn wir einen Blick auf das Steueraufkommen nach Einkommensklassen werfen:

Danach erbringen die 10 Prozent Bezieher der höchsten Einkommensklassen 60 Prozent des Steueraufkommens, die nachfolgenden 40 Prozent der nächsthöheren Einkommensstufen tragen 30 Prozent zum Steueraufkommen bei, während die unteren 50 Prozent der Einkommensstufen entsprechend dem unserem Steuersystem zugrunde liegenden Prinzip der sozialen Belastbarkeit insgesamt nur 10 Prozent zum Steueraufkommen beitragen.

Übersehen wird in diesem Zusammenhang der sogenannte Multiplikatoreffekt. Würde man den 10.000 größten Einkommensbeziehern des Landes eine Sondersteuer von pro Kopf 100.000 Euro auferlegen, ergäbe das ein zusätzliches Aufkommen von einer Milliarde Euro. Das ist für sich genommen eine Menge Geld. Der Umverteilungseffekt auf 80 Millionen Einwohner liefe aber auf pro Kopf mickrige 12 Euro hinaus. Wollte man statt 12 Euro lieber 1000 Euro pro Kopf der Bevölkerung durch Umverteilung locker machen, müsste man die kleine Gruppe der Höchstverdienenden mit 80 Milliarden Euro zur Kasse bitten.

Unterstellt, sie würden dann überhaupt noch im Land bleiben, müssten zur Liquidation dieses Betrages Kapitalanlagen aufgelöst und in Konsumgeld umgewandelt werden, was volkswirtschaftlich betrachtet einer Vernichtung von Produktivkapital gleichkäme, die notwendigerweise mit einem Verlust von Arbeitsplätzen verbunden wäre.

Die von einer ausufernden Sozialpolitik seit Jahrzehnten gezüchtete Anspruchsmentalität hat den von seiner Idee her einst vorbildlichen deutschen Sozialstaat längst in eine ihn überfordernde Schieflage gebracht. Mit 150 Milliarden Euro verschlingen allein die staatlichen Sozialausgaben die Hälfte des Bundeshaushalts und sind damit zur treibenden Kraft der Staatsverschuldung geworden. Nimmt man die Lasten für die Bedienung der Staatsschuld in Höhe von 40 Milliarden Euro, die ja ihre Ursache im ausufernden Sozialstaat haben, sowie die Ausgaben der Staatsverwaltung hinzu, kommt man auf zusammen 75 Prozent der Ausgaben des Bundes, die der Finanzierung der eigentlichen Staatsaufgaben entzogen sind.

Es gehört keine höhere Mathematik dazu sich auszumalen, wie die dynamisch weiter wachsenden Größen von Soziallast und Schuldendienst den Spielraum für die essentiellen Zukunftsaufgaben des Staates eines Tages soweit einengen werden, dass seine Funktionsfähigkeit vollends infrage steht, wenn nicht endlich der Hebel herumgerissen wird. Einem Teil unserer politischen Klasse ist ganz offensichtlich das Gefühl für das rechte Maß bei seinem Entscheidungshandeln abhanden gekommen. Dass man das Saatgut nicht verfrühstücken darf, wenn man auch im nächsten Jahr die Ernte in die Scheuern einfahren will, ist als zeitlose Überlebensregel im Deutschland des 21. Jahrhunderts in Gefahr, seine Gültigkeit zu verlieren.

Die Idee des modernen Sozialstaats beruht auf der Eigenverantwortung des Bürgers, der nach Volker Gerhardt die "Partizipation" als Prinzip der Politik zugrunde liegt. Volker Gerhardt, Philosophieprofessor an der Humboldt-Universität Berlin und bekennender Sozialdemokrat, hat in diesem Zusammenhang die von-der-Leyensche Linie der Hartz IV-Regelsatzerhöhung um fünf Euro mit der Begründung verteidigt: Soziale Kälte liege darin, dem Menschen nicht zu helfen, seine Lage aus eigener Kraft zu verbessern.

Mit dieser Einstellung wendet sich Volker Gerhardt gegen ein Verständnis von Sozialpolitik, das allein im Anmelden von Ansprüchen zu Lasten der Gemeinschaft besteht, ohne durch eigenes Zutun zur Überwindung der eigenen Schwierigkeiten beizutragen. Volker Gerhardt liegt mit dieser Haltung auf gleicher Wellenlänge mit seinem (noch) Parteifreund Thilo Sarrazin, der im übrigen auch ein rotarischer Freund ist.

Thilo Sarrazin wird in diesem Zusammenhang vor allem auch vorgeworfen, dass er das eklatante Staatsversagen thematisiert hat, viel zu lange die ungeordnete Unterschichteneinwanderung in die hiesigen Sozialsysteme geduldet zu haben. Im Unterschied zu seinen Kritikern belässt er es allerdings nicht beim Lamentieren, sondern weist anhand einschlägiger vor allem auch internationaler Untersuchungen nach, wie das Problem einer Lösung zugeführt werden könnte.

So beschreibt er anhand einer Migrationsstudie, wie sich arabische Zuwanderer aus ein und demselben Clan in unterschiedlichen Einwanderungsländern hinsichtlich ihres Einsatzes für den eigenen Lebensunterhalt sehr differenziert verhielten. Während der Teil der Sippe, der nach Schweden einwanderte, das ein ähnlich freigiebiges Sozialsystem wie Deutschland hat, nach 20 Jahren noch immer frustriert und arbeitslos in einer Parallelgesellschaft lebte, haben der Druck des Arbeitsmarktes und der Zwang zum Broterwerb, dem die andere in die USA eingewanderte Gruppe ohne Sozialhilfe ausgesetzt war, dafür gesorgt, dass sie sich nach kurzer Zeit in die US-amerikanische Gesellschaft integrierte.

Eben dieser Vorstellung liegt auch das sozialpolitische Reformwerk der Schröderschen Agenda 2010 zugrunde, die die Idee der Partizipation mit dem Begriff der "aktivierenden Sozialpolitik" aufnahm. Von dieser Agenda-Idee ist auch mein Reformansatz bestimmt, der allerdings über die rein sozialpolitische Fragestellung hinausgeht und die benachbarten Politikfelder Arbeitsmarkt, Bildung, Gesundheit und Alterssicherung in einem integrativen Lösungskonzept einschließlich einer sie verbindenden, den Bürger entlastenden Steuerreform zusammenfasst.

Mein Reformkonzept habe ich in den beiden Büchern "Kein Mangel an Arbeit" (1999) und "Neue Wege zu mehr Beschäftigung" (2007) entwickelt und es ist in komprimierter Form als Aufsatz unter dem Titel "Wie man den Korken aus der Flasche bekommt" im Sammelband der edition suhrkamp "Die Zukunft des Kapitalismus" erschienen, der auch Beiträge u.a. von Peter Sloterdijk, Paul Kirchhoff, Meinhard Miegel und Martin Walser enthält.

Worum geht es mir in erster Linie?
Zur Bewahrung unseres Wohlstands und zur Sicherung unserer Zukunft als Bürger und als Gesellschaft geht es meines Erachtens zunächst nicht um wirtschaftliche sondern um politische Ziele. Nur mit aktivem Eintreten für unsere freiheitlichen Grundrechte wird es uns gelingen, die Bedingungen zu schaffen, jene produktiven Kräfte freizusetzen, die über das Fortkommen des Einzelnen hinaus dafür sorgen, dass auch Staat und Gesellschaft gedeihen, und dies ungleich kräftiger als es ein kollektivistisches System je vermöchte.

Wobei der archimedische Punkt, auf dem die soziale Kraft dieses Ordnungsmodells beruht, im Freiraum für die Leistungsfähigen liegt, den zum Teilen erforderlichen Mehrwert überhaupt erst zu erwirtschaften, bevor er der solidarischen Einbindung der sozial Schwächeren zugute kommen kann.

Nach meiner Vorstellung sollen alle Leistungsträger auskömmlich und einigermaßen gerecht entlohnt werden, entweder über den Markt oder – wo das (noch) nicht funktioniert, wie in weiten Bereichen des Gemeinnützigkeitssektors – über steuerliche Entlastungen bzw. "positive Steuern". Dabei ist entscheidend, dass der Zugang zu geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen von den heutigen Barrieren befreit wird, die maßgeblich in Inkompetenz und Machtmissbrauch der in diesem Bereich bestimmenden Kräfte begründet sind. Den Geringqualifizierten, die in diesem Zusammenhang als entscheidende strategische Größe anzusehen sind, weil ihre Ausschließung zum eigentlichen Motor der eskalierenden Staatsverschuldung geworden ist, soll die Möglichkeit zur Teilhabe (Partizipation) eröffnet werden, mittels multipler Dienstleistungsschecks aus abgabenbefreiten Teilzeitjobs ein auskömmliches Vollzeit-Erwerbseinkommen zu verdienen, wie dies in vielen Ländern der Welt den dortigen Verhältnissen angepasst erfolgreich praktiziert wird.

Der auf diese Weise ermöglichte rigorose Rückbau der uns über den Kopf gewachsenen Soziallasten würde die Abgaben- und Steuerlast aller Bürger markant senken und Raum für eine grundlegende Umschichtung der Staatsausgaben weg von den uns erdrückenden konsumtiven Sozialausgaben und hin zu Bildungsinvestitionen schaffen. Das entscheidende Ergebnis der Reduzierung von Abgaben- und Steuerlast sollte eine breite Realeinkommenserhöhung sein, die über steuerliche Anreize verstärkt zu erhöhter Sparneigung und zum Aufbau eines vor allem der Alterssicherung zusätzlich dienenden "Bürgerkapitals" führen soll. Dies wäre nach meiner Vorstellung Ausdruck eines Gesellschaftsmodells, das nicht auf zentral verwalteter Glückszuteilung, wie nach der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens, das gar nicht finanzierbar wäre, sondern auf praktizierter Eigenverantwortung freier Bürger beruht. Die Bürger sollten nicht länger durch staatliche Gängelung behindert, sondern durch einen politischen Ordnungsrahmen gefördert werden, der die großen Umwälzungen unserer Zeit: Globalisierung, digitale Revolution und demographische Schere angemessen reflektiert.

Arbeitsmarktregulierungen mit schwerfälligen und flächendeckenden Tarifsystemen, die einst aus guten Gründen zur Zähmung industrieller Großkonzerne eingeführt wurden, haben ihren Sinn in unserer heutigen Wirtschaftslandschaft verloren, die derartige Großkonzerne kaum mehr kennt, weil die Wertschöpfung unserer Volkswirtschaft heute zu Dreivierteln aus nicht-industrieller Leistung stammt, die von überwiegend mittelständischen, kleinteilig organisierten und forschungsintensiven Nischenproduzenten sowie Handels- und Logistikunternehmen einschließlich der erst in den letzten beiden Jahrzehnten am Markt erschienenen wissensbasierten Dienstleistern erbracht wird und für die überregulierte Arbeitsmärkte hausgemachte Wettbewerbsbehinderungen darstellen, weil in der Globalisierung praktisch jedes Unternehmen, ob klein, ob groß, auf weltweit offenen Märkten agiert. Diese neue Wirtschaftswelt hat sich bisher offenbar weder in Teilen der Politik noch bei einigen Gewerkschaften herumgesprochen.

Die neuen auf flexibles Reagieren eingestellten Märkte vertragen die alten verstaubten Regulierungen nicht mehr, die bei ihrer Anwendung zur Selbstfesselung der Wirtschaftskräfte führen. Schwächung des Binnenwachstums, Beschäftigungseinbrüche und Einkommensverluste sind unter diesen Umständen eine hausgemachte Folge unterbliebener Anpassung der wirtschaftspolitischen Regelwerke an die grundlegend veränderten Wirtschaftsverhältnisse in der Globalisierung.

Unverdrossen werden diese aus den Verhältnissen des 19. Jahrhunderts entstandenen Regelwerke auf Wirtschaftszweige angewandt, die es vor zwanzig Jahren in dieser Form zum großen Teil noch gar nicht gab, in denen aber heute die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung beschäftigt ist, wie Kreativ- und IT-Wirtschaft, Kulturökonomie, Gesundheitswirtschaft, Lifestyle-Industrie, Tourismuswirtschaft, Wissensökonomie, Onlinewirtschaft, etc., etc.. Der heute mit 4,5 Millionen Beschäftigten und 12 Prozent Anteil am Bruttosozialprodukt größte Wirtschaftszweig unserer Volkswirtschaft, die Gesundheitswirtschaft, wird in seinem Kernbereich, der Gesundheitsversorgung, mit einem als Gesundheitsreform kaschierten planwirtschaftlichen System derart in seiner Entfaltung behindert, dass daraus große Wachstumseinbußen für die Gesamtwirtschaft resultieren und erhebliche Beschäftigungspotenziale unausgeschöpft bleiben (Beispiel eines Besuchs in einer Orthopädie-Praxis am 14. März 2011).

Helmut Schmidt wäre beim letztjährigen DGB-Kongress sicher ausgebuht worden, wenn er seinen bekannten Satz über die uns gerade am Weltmarkt überholenden Chinesen zum Besten gegeben hätte: "Die Chinesen haben denselben IQ wie wir. Aber sie sind fleißiger als wir und arbeiten länger."

Über die wichtige Frage, wie wenigstens ein nennenswerter Teil der über fünf Millionen erwachsenen Hartz IV-Empfänger aus ihrer die Volkswirtschaft belastenden Lage herausgeholt und in eine Eigenerwerbssituation überführt werden könnte, wurde beim DGB-Kongress kein Wort verloren. Mit gesetzlichem Mindestlohn und weiteren Arbeitszeitverkürzungen wurden im Gegenteil weitere Regulierungen gefordert, die allenfalls geeignet sind, Geringqualifizierte noch stärker aus dem Arbeitsmarkt zu drängen und damit sowohl die Hartz IV-Population weiter zu erhöhen als auch die Schattenwirtschaft kräftig zu düngen.

In diesem "Liechtenstein des kleinen Mannes" praktiziert ein Großteil der offiziell arbeitslosen Hartz IV-Empfänger per Abstimmung mit den Händen als emsiges Millionenheer genau das, was ihnen der bevormundende Sozialstaat nicht zumuten mag: Freie Marktwirtschaft mit flexiblen Arbeitszeiten und Stundenlöhnen, dass die Schwarte kracht.

Die hier in den "Katakomben der Volkswirtschaft" unter scheinheiliger Duldung der um ihre Wählerstimmen buhlenden politischen Parteien von schätzungsweise sechs bis acht Millionen Teilzeitjobbern erwirtschaftete Wertschöpfung von jährlich 300 bis 400 Milliarden Euro (15 Prozent des BIP) hat allerdings den Schönheitsfehler, dass weder der strapazierte Fiskus noch die ausgepowerten Sozialkassen an ihr partizipieren.

Wenn es gelänge, auch nur die Hälfte der schattenwirtschaftlichen Wertschöpfung in das offizielle Volkseinkommen zu überführen, hätte das einen kombinierten Wachstumseffekt für die Wirtschaft und Entlastungseffekt für den Staatshaushalt, wie er höher kaum auszudenken ist. Voraussetzung wäre allerdings, die Richtung des Arbeitsmarkthebels im Niedriglohnsektor von der heutigen Einstellung auf "Austritt" um 180 Grad auf "Eintritt" zu drehen.

Mit der Einführung eines multiplen Teilzeitarbeitsmodells (400 Euro pro Monat bei 12,5 Stunden je Woche, was einem systemischen Mindestlohn von 8 Euro pro Stunde entspräche), wäre es möglich, dem Produktivitätshandicap des Niedriglohnsektors durch Komprimierung des Arbeitseinsatzes beizukommen, wenn der Anreiz zur Aufnahme dieser Tätigkeiten durch Freigabe von Mehrfachbeschäftigung nach eigener Wahl verbunden mit belastungsgerechtem Zuschnitt bei Steuern und Abgaben (bis hin zu brutto gleich netto) geschaffen würde.

Die ausreichende Verfügbarkeit derartiger Tätigkeiten unter der Bedingung flexibler Teilzeitarbeit bei einfachen Dienstleistungen, in Kommunen und gemeinnützigen Einrichtungen sowie in Privathaushalten ist mehrfach nachgewiesen worden. Dadurch könnte ein Großteil der heute das Sozialbudget belastenden Transferzahlungen in Eigenerwerbseinkommen überführt werden mit allen sich daraus ergebenden positiven Wirkungen nicht nur auf das gesellschaftliche Klima sondern auch für die Haushalts- und Sozialkassen.

Die Plünderung der Zukunft durch die Gegenwart darf so nicht weitergehen, hat der Philosoph Peter Sloterdijk unser zu einer Sozialbürokratie deformiertes Sozialsystem gegeißelt. Und Kurt Biedenkopf hat in seinem bekannten Buch "Die Ausbeutung der Enkel" das fachliche Material beigesteuert. Es geht schlicht darum, die unsere Zukunftschancen erdrückenden konsumtiven Soziallasten sukzessive zurückzuführen und die dadurch freiwerdenden Mittel auf Investitionen in Bildung und Forschung umzuschichten. Denn die wahre Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts heißt Bildungspolitik.

Zusätzlich geht es darum, durch diese Umschichtung der Mittel, über die wir ja Gott sei Dank noch verfügen, zu einer breiten steuerlichen Entlastung des Mittelstands, seiner Unternehmen und Privathaushalte, zu kommen. Denn die prekäre Unterkapitalisierung des deutschen Mittelstands, die nachwirkende Folge zweier verlorener Kriege, ist unser eigentliches soziales Strukturproblem – nicht die bloß eingebildete sogenannte Massenarbeitslosigkeit. Nicht fehlende Arbeit sondern mangelnde Ausbildung ist das von Politik und Gewerkschaften gern kaschierte Kernproblem der Arbeitsmarktpolitik.

Zu seiner Überwindung wurde die Strategie des LebensLangenLernens entwickelt, die eine fünfgliedrige Bildungskette von Kita über Schule, Berufsausbildung und Uni bis zur beruflichen Weiterbildung umfasst. Die einzelnen Glieder der Kette müssen nicht neu erfunden werden. Sie sind noch immer vorzeigbare Juwelen unserer Jahrhunderte alten deutschen Kulturgeschichte, sie müssen nur mit kräftigen Finanzspritzen wieder so weit herausgeputzt werden, dass sie ihre segensreichen Wirkungen auf das Wohl der Gesellschaft, für die Zukunft unserer Kinder auch wirklich entfalten können.

In die Finanzierung sollen sich Staat, Wirtschaft, Eltern und Berufstätige in einem "Bildungspakt 21" teilen, wobei die Eltern für die Kita-Finanzierung nach dem Kriterium sozialer Belastbarkeit herangezogen werden und die Berufstätigen sich mit eingebrachter Freizeit für berufsbegleitende Fortbildungslehrgänge an den Weiterbildungskosten beteiligen sollen. Im Facharbeitssektor wäre das Thema Arbeitslosigkeit ein für allemal abgehakt, wenn mit Hilfe einer Umwandlung der Arbeitslosenversicherung in eine Berufliche Weiterbildungsversicherung beschäftigungslose Phasen in aktive, der Fortbildung dienende Berufszeiten überführt und auf diesem Wege geschlossene Erwerbsbiographien geschaffen würden.

Wie der Korken aus der Flasche, der den systemrettenden Geist eingeschlossen hält, wäre mit Reformschritten wie diesen eine Blockade aus dem Arbeitsmarkt genommen, die maßgeblich dazu beiträgt, einen Durchbruch bei den großen Reformvorhaben der Politik zu behindern. Eine Umschichtung des Großteils der im Sozialbudget für konsumtive Zwecke gebundenen Mittel auf Investitionen in Bildung und Forschung sowie in eine breite steuerliche Entlastung mittelständischer Betriebe und Privathaushalte würde die Umkehr bringen. Sie würde jenen Treibsatz für Wachstum, Beschäftigung und gerechtere Einkommensverteilung zünden, dessen unser System zur Wiedergewinnung seiner Zukunftsfähigkeit so dringend bedarf.

Vortrag im Rotary Club, Großhansdorf
März 2011