Information und Kommunikation - Chance für den Norden

Wolfgang Müller-Michaelis

Die derzeitigen multimedialen Umwälzungen durch die Informations- und Kommunikations-Technologien (I+K) werden häufig mit der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts verglichen. Damit sind aber keine Basisinnovationen gemeint, wie sie zu jener Zeit der Dampfmaschine, Elektrizität und mechanisierten Produktionsverfahren das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben unserer Vorfahren grundlegend verändert haben. Fast alle zu den Kommunikationstechnologien ("Faktor K") gehörenden Komponenten sind seit längerem bekannt, und die wichtigsten begleiten unser Leben im partiellen Einsatz bereits seit Jahrzehnten. Das Umwälzende der multimedialen Neuerungen besteht in der Zusammenführung von Computer, Telefon und TV zu einem weltweit vernetzten und interaktiv einsetzbaren Medium.

Das dabei zu bewältigende doppelte Kapazitätsproblem der zu übertragenden gigantischen Datenmengen und der zu realisierenden hohen Übertragungsgeschwindigkeiten wird durch die Digitalisierungstechnik und das Breitbandglasfaserkabel gelöst. Auf diese Weise entsteht eine globale Infrastruktur für ein an jedem Ort und zu jeder Zeit einsetzbares Universalhandwerkszeug, das darüber hinaus für jedermann erschwinglich ist und von allen arbeitsteilig genutzt werden kann. Vor allem klein- und mittelständischen Unternehmen wachsen mit Hilfe der Telematik-Dienste Organisations- und Kostenvorteile zu, über die früher nur Großkonzerne verfügten. Selbst der Privathaushalt wird mit Hilfe von Multimedia über Nacht zu einer Stätte, an der Arbeitsplatze entstehen.

Zunächst gehen die für die "dienstleistende" Informationsgesellschaft vorausgesagten starken Wachstumsimpulse von der Industrie, der Halbleiterproduktion aus. Diese Konjunkturspritze bleibt in ihrer wirtschaftsbelebenden Wirkung nicht auf die Mikroprozessoren und auf ihre Zulieferindustrien begrenzt. Wirtschaftliche Impulse, die die gesamte Volkswirtschaft erfassen, gehen im nächsten Schritt von den chipverarbeitenden und mit ihnen arbeitsteilig verbundenen Industriezweigen aus: Datentechnik, Telekommunikation, Kfz-Elektronik, Unterhaltungselektronik.

Obwohl der Einsatz der multimedialen High-Tech-Produkte in der übrigen Industrie sowie in den industrienahen Dienstleistungsbereichen zur Modernisierung, Leistungssteigerung und Stärkung der Wettbewerbskraft erheblich beiträgt, haben sie auch eine soziale Schattenseite. Sie führen häufig genug zum Abbau von Arbeitsplätzen, wie dies beim Teleshopping und Telebanking am deutlichsten zutage tritt. Durch diese Rationalisierungswirkungen von Multimedia in Industrie und industrienahen Dienstleistungen ist in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, dass es sich hier um eine Neuauflage des arbeitssparenden technischen Fortschritts handelt, von dem für die Bewältigung unserer großen sozialen Probleme, insbesondere ausreichende Beschäftigung für die nachwachsende Generation zu schaffen, keine Hilfe zu erwarten ist.

Dabei wird übersehen, dass die I+K-Technologien über die Rationalisierungseffekte in der traditionellen Wirtschaft hinaus aufgrund ihrer Anwendungs- und Nutzungsvielfalt in praktisch allen Lebensbereichen das Entstehen medialer Leistungen "neuer Dimension" ermöglicht, die es vor Einführung dieser Technik gar nicht geben konnte. In diesen neuen Service-Funktionen schafft der Faktor "K" langfristig neue Berufsbilder in gleicher Intensität, mit der er als Industrieroboter Arbeit in herkömmlicher Form vernichtet. Wer das Wirtschaftsgeschehen aufmerksam verfolgt, wird registrieren, dass sich diese Entwicklung bereits seit geraumer Zeit in einem lebhaften Gründungsgeschehen bei klein- und mittelständischen Unternehmen niederschlägt, die sich trabantenhaft um jene Funktionsbereiche gruppieren, die sowohl mit Einsatz und Pflege von Hardware als auch mit Anwendung und Nutzung von Software der I+K-Technologien zu tun haben. Praktisch täglich kommen in diesen Bereichen neue Berufsbilder hinzu. Die mittelständisch geprägte Wirtschaftsstruktur Schleswig-Holsteins schafft besonders günstige Voraussetzungen dafür, dass der Trend zum Einsatz multimedialer Techniken in den einzelnen betrieblichen Funktionsbereichen zu konjunktureller Belebung führt. Flexible Anpassung an Marktveränderungen, durch die sich gerade klein- und mittelständische Unternehmen auszeichnen, schließt in aller Regel auch die Aufgeschlossenheit für die Einführung technischer Neuerungen ein. Mit technologischem Wissen ausgestatteten Jungunternehmern bieten sich daher gute Perspektiven beim Angebot von Beratungs- und Serviceleistungen rund um betriebliche Informationssysteme, Bürokommunikation und Netzeinbindung. Die im Aufbruch befindliche Informationsgesellschaft löst Wachstumsimpulse eben nicht nur in der Halbleiterproduktion, in den chipverarbeitenden Industrien oder bei Nutzern und Anwendern der daraus komponierten multimedialen Techniken aus.

Einkommensmöglichkeiten und Arbeitsplätze entstehen gerade auch im Bereich der Wissensvermittlung über das "Wo" und "Wie" systemgerechter und zweckentsprechender Einführung von I+K in allen Bereichen der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens. Dies ist einer der Gründe dafür, dass der Bildungs-, Weiterbildungs- und Beratungssektor absehbar zu einem Wachstumsträger des multimedialen Zeitalters avancieren dürfte.

Fast alle großen Universitäten und Fachhochschulen haben auf diese Entwicklung mit der Einrichtung informationstechnischer und kommunikationswissenschaftlicher Fakultäten und Fachrichtungen reagiert, die es in dieser Form vor fünf bis sechs Jahren noch nicht gab.

Dass sich die Wirtschaft im Hinblick auf den Einsatz der I+K-Technologien gerade jetzt in einer "Take-off" -Phase befindet, lässt sich an einer Fülle von Vorgängen, gerade auch in Schleswig-Holstein, ablesen. So hat sich die im Rahmen der diesjährigen "Flensburger Technologie Tage" stattfindende Fachmesse "Büro und Kommunikation" zum Ziel gesetzt, den vielfältigen Möglichkeiten des Faktors "K" im Netzwerk globaler Arbeitsprozesse nachzuspüren und vor allem Fachbesuchern aus Industrie, Handel, Handwerk und Freien Berufen Antwort auf das Warum sowie Anregung für das Wie des Einstiegs in das Internet und des Einsatzes moderner Bürokommunikation zu geben.

Kennzeichnend für diese Umbruchsituation ist auch, dass das aktuelle Veranstaltungsprogramm der Wirtschaftsakademie Schleswig-Holstein außer den traditionellen kommunikativen Seminaren zu Themen wie Marketing, Rhetorik, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit allein acht Seminarangebote enthält, die der Einführung in die I+K-Technologien, wie Textverarbeitung, Videokonferenz, PageMaker, Online-Dienste/Internet, Scannen und Bildbearbeitung gelten.

Es vergeht kein Tag, an dem nicht Firmen ihre neue Adresse im Internet annoncieren oder mitteilen, dass sie zur Verbesserung der Kommunikation mit den Kunden nunmehr auch über Electronic Mailing erreichbar sind. Die Industrie- und Handelskammern in Kiel und Flensburg sind hier mit gutem Beispiel vorangegangen.

Dass das multimediale Equipment nicht nur aus Computer, Desktop und Modem besteht, wird bei Betrachtung der Produktionslinien der Firma ORGA Kartensysteme GmbH in Flintbek im Kreis Rendsburg/Eckernförde deutlich. Ein Großteil der weltweit im Umlauf befindlichen Chipkarten für Telekommunikation und andere kartenabhängige elektronische Serviceleistungen stammen von der Firma ORGA. Mit Tochtergesellschaften in den USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und einem Büro in Singapur gehört ORGA zu den "Global Player" im Chipkartenmarkt: Sie ist weltweit die Nummer eins bei Mobiltelefonkarten und Nummer vier bei Telefonkarten. Seit Einführung der ersten Chipkarten für den Abruf elektronischer Serviceleistungen sind ständig neue Anwendungen für das "intelligente Plastik" dazugekommen - wie Bankkarten, Zeiterfassungs- und Krankenversicherungskarten. Als neue erfolgversprechende Marktsegmente gelten das Abonnementfernsehen sowie die "elektronische Geldbörse", mit der beispielsweise auch die Inanspruchnahme von Verkehrsleistungen bezahlt werden kann. Ähnlich wie das Nachbarland Dänemark ist Schleswig-Holstein für eine dynamische Entwicklung im Multimediazeitalter prädestiniert. Dänemarks Sozialprodukt wird ähnlich wie das der USA schon zu über 70 Prozent vom tertiären Dienstleistungssektor bestimmt, der durch eine hohe Affinität zur Nutzung und Anwendung multimedialer Techniken gekennzeichnet ist. Deutschland insgesamt und auch Japan hinken mit einem 60 Prozent-Anteil noch hinterher, was aber zugleich auf vorhandene Spielräume für zu erschließende Märkte hinweist. Hier tun sich insbesondere in Schleswig-Holstein gute Chancen für die Ansiedlung junger Service-Unternehmen rund um das breite Spektrum multimedialer Dienstleistungen auf.

Nicht mehr die im Industriezeitalter eher nachteilige geographische Randlage, sondern andere Faktoren gewinnen in der Informationsgesellschaft an standortprägender Kraft. Dazu gehört nicht zuletzt ein gutes Bildungsklima mit einem reichhaltigen Angebot an Hochschulabsolventen sowie einem I+K-technologieorientierten Facharbeiternachwuchs. Hinzu kommen für junge anspruchsvolle Leute wichtige Standortpräferenzen wie kulturelle Angebote und vielfältige Freizeitwerte, an denen im "Land zwischen den Meeren" kein Mangel herrscht.

Diese Silicon-Valley-Atmosphäre ist gerade für den Aufbau neuer Märkte im Bereich der multimedialen Technik und Dienstleistungen eine wichtige Voraussetzung.

Ein Beispiel für erfolgreich praktizierte unternehmerische Beweglichkeit, sich von neuen technischen Innovationen nicht überrollen zu lassen, sondern sie für den eigenen Existenzerhalt zu nutzen, ist die Firma Stielow GmbH & Co KG in Norderstedt. Als ursprünglich führendes und weltweit tätiges Unternehmen für mechanische Adressiermaschinen mit 60 Prozent Exportanteil war Stielow Anfang der 80er Jahre angesichts der Umstellung der mechanischen Bürotechnik auf elektronische Bürokommunikation erheblichen Anpassungsproblemen ausgesetzt. Mit der unternehmerischen Idee, sich unter Nutzung der weltweit eingeführten Vertriebsorganisation zunächst im Marketing des technisch benachbarten Bereichs der Postbearbeitungsmaschinen zu engagieren, war der konstruktive Ansatz gefunden, neue Märkte im stürmisch wachsenden Segment der elektronischen Bürokommunikation zu erschließen. Es dauerte nicht lange bis eine zusätzliche Fertigungsstufe in einer Produktnische außerhalb der Produktpalette der von Stielow im Handel vertretenen Partner in der Eingangspostbearbeitung gefunden war. In diesem Fertigungsbereich hat die Norderstedter Firma, nachdem die Entwicklung einer adäquaten Mikroprozessorsteuerung gelungen war, nunmehr die Führerschaft auf dem Weltrnarkt errungen.

Die weltweit in Bewegung gesetzte Innovationswelle im Bereich der I+K-Technologien wird, wie Beispiele zeigen, zum Teil auch von Entwicklungen getragen, die ihren Ursprung in Schleswig-Holstein haben. Unternehmerische Erfolge dieser Art, die von einem fruchtbaren Innovationsklima zeugen, strahlen erfahrungsgemäß Attraktionskraft nach außen aus und fördern die Ansiedlung junger aufstrebender Unternehmen.

So verwundert es nicht, dass in Schleswig-Holstein auch eines jener Großunternehmen ansässig ist, die zu den wachstumsträchtigsten des Telekommunikationsmarktes gehören: die Talkline GmbH mit heute rund 1000 Mitarbeitern in Elmshorn, eine Tochtergesellschaft der RWE Telliance AG. Das Unternehmen ist nach der Kooperation mit der VEBACOM zum wichtigen Herausforderer der Telekom auf dem zur Liberalisierung anstehenden deutschen Telekommunikationsmarkt geworden. Die Talkline GmbH deckt mit drei Einzelunternehmen unterschiedliche Geschäftsfelder ab, von denen die Talkline PS PhoneService GmbH als einer der erfolgreichsten deutschen Mobilfunkanbieter in den beiden D-Netzen sowie im E-Netz am umsatzstärksten ist. Mit Hilfe der Unternehmensstrategie von Talkline ist Schleswig-Holstein auf dem Wege, zu einem wichtigen Kooperationspartner der skandinavischen Nachbarn beim Aufbau eines leistungsstarken nordeuropäischen Telekommunikationsmarktes zu werden.

So hat das Unternehmen jüngst eine Zusammenarbeit mit der Telekom Finnland vereinbart, deren Zukunftsträchtigkeit nicht zuletzt in der großen Aufgeschlossenheit der skandinavischen Nachbarn für I+K-technologische Innovationen begründet liegt. Beispielhaft kommt dies in der unterschiedlichen Dichte der Internet-Nutzung zum Ausdruck: Während Deutschland je tausend Einwohner bisher nur auf sechs Internet-Adressen (das heißt regelmäßige Nutzer) kommt, sind es in den USA zur Zeit 23 - Finnland erreicht die weltweite Spitzenposition von 41 Adressen.

abgedruckt in: Flensburger Tageblatt Wirtschafts-Journal Special, 16.November 1996.