Neue Medien und Arbeitswelt -
Kommunikation als Wirtschaftsfaktor


erschienen in: Eichholz Brief - Zeitschrift für politische Bildung, 34. Jg., H. 3/97

Wolfgang Müller-Michaelis

Es gibt kaum einen Bereich unseres täglichen Lehens, der nicht seit langem durch die Veteranen des elektronischen Informationszeitalters Rundfunk, Fernsehen, Telefon und Computer beherrscht würde. Dennoch wird ihrer durch Digitalisierung und globale Vernetzung herbeigeführten Integration unter dem Begriff der Neuen Medien die Kraft zugesprochen, unsere Arbeits- und Lebensbedingungen dramatischer zu verändern, als dies die industrielle Revolution im Verlauf des 19. Jahrhunderts getan hat. Dass die Neuen Medien wie alter Wein in neuen Schläuchen daherkommen und sich in ihrem Erscheinungsbild kaum von dem ihrer vertrauten Vorgänger unterscheiden, mag ein Grund für die verbreitete Fehleinschätzung ihrer epochalen Bedeutung sein. Unaufhaltsam sind sie im Begriff, in Beruf, Freizeit und Bildung, kurz in unserem gesamten kulturellen und gesellschaftlichen Leben, neue Strukturen zu schaffen und insbesondere die Karten für die Verteilung von Arbeit neu zu mischen. Die Wirkung dieser Neuerungen bekommen wir bereits tagtäglich zu spüren: ständige Neuorganisation in den Betrieben, veränderter Zuschnitt der Arbeitsplatzanforderungen, intensives Gründungsgeschehen bei Unternehmen rund ums Internet, strategische Allianzen zur Besetzung von Positionen am internationalen Telekommunikationsmarkt, Ausbreitung der E-Mail-Adressen auf den Visitenkarten, Aufstieg von PC oder Laptop zum Universalhandwerkszeug praktisch jeden Berufsstandes.

Es verwundert bei dieser alle gesellschaftlichen Bereiche erfassenden Umwälzung nicht, dass sie in diesem Jahr neben dem Euro Top-Thema des Davoser Weltwirtschaftsforums war und dass auch die niederländische Regierung sie zu einem Schwerpunkt ihrer EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 1997 gemacht hat. Angesichts der Konzentration der US-amerikanischen Innenpolitik auf dieses Thema, seit Bill Clinton und Al Gore es 1993 zu einem ihrer Big Issues im Wahlkampf um ihre Präsidentschaft gemacht hatten und nachdem die zielgerichtete Umsetzung in beschäftigungspolitische Maßnahmen inzwischen hervorragende Ergebnisse gezeitigt hat, macht die in Deutschland hierzu herrschende abwartende Haltung umso mehr betroffen.

Abwarten statt Handeln

Er dürfte in Verbindung mit dem Immobilismus gegenüber Veränderungsnotwendigkeiten in unserer Sozialarchitektur und gegenüber fälligen Innovationen zur Modernisierung unserer gesellschaftlichen Strukturen zu den wichtigsten Gründen unserer Schwierigkeiten gehören. Bundespräsident Roman Herzog hat sich in seiner großen Berliner Rede vom 26. April 1997 dieser Sache angenommen. Im Windschatten seiner Mahnung an unsere Eliten in Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften und Medien, den Übergang ins 21. Jahrhundert nicht zu verschlafen und sich den Herausforderungen des Übergangs in das Informationszeitalter endlich zu stellen, sind die Chancen vielleicht etwas gewachsen, Aufmerksamkeit auch einmal für die positiven Beschäftigungswirkungen der Neuen Medien zu erlangen.

Vielleicht hängt die hierzulande verbreitete Skepsis gegenüber den Segnungen des Informationszeitalters damit zusammen, dass an seinem Beginn keine dem 19. Jahrhundert vergleichbaren "großen" Erfindungen wie Dampfmaschine und Elektrizität stehen. Elektronik, Computer, Telefon, Rundfunk und Fernsehen, Satelliten- und Raumfahrttechnik gehören zu den Innovationen der traditionellen Industrieepoche. Der Übergang in die Informationsgesellschaft bricht sich statt dessen durch ein ganzes Bündel im einzelnen vergleichsweise bescheidener technologischer Innovationen Bahn, die aber in den 90er Jahren dieses Jahrhunderts nahezu gleichzeitig zur Anwendungsreife gelangen: Übergang von Mikro- auf Nanoprozession in der Elektronik, Quantensprünge bei Menge und Geschwindigkeit der Daten-, Ton- und Bildübertragung durch Digitalisierung, Überwindung der Kapazitätsgrenzen beim Datentransport durch Ersetzung der Kupfer- und Koaxial- durch Glasfaserkabel, ubiquitäre Nutzung von Satellitentechnik und Mobilfunk.

Der umwälzende technische Fortschritt aus der Kumulationswirkung dieser Innovationen besteht nicht allein darin, dass Bilder, Töne und Daten über ein weltumspannendes Netzwerk zu jeder Tages- und Nachtzeit sekundenschnell zwischen Personen ausgetauscht werden können. Die eigentliche epochemachende Neuerung ist, dass praktisch jede Leistung, die in dieser medialen Form übertragbar ist, mit Hilfe dieses Systems nicht nur verschickt und empfangen, sondern in Gegenläufigkeit interaktiv, d.h. "dialogisch behandelt" werden kann.

Unbegrenzte Nutzungsvielfalt

Das es kaum einen Arbeits- oder Dienstleistungsvorgang gibt, bei dem die neue Technik nicht zu nutzen wäre, entsteht auf diese Weise ein einzigartiges mediales Instrumentarium von praktisch unbegrenzter Nutzungsvielfalt. Ob in der industriellen Fertigung oder bei Verkehrsleitsystemen, in der Flugzeugwartung über große Distanzen oder bei Bankgeschäften, ob in Telearbeit oder Telemedizin, ob im Bildungsbereich, in der Seelsorge, im Tourismus, in der Beratungswirtschaft, Verwaltung, im Privathaushalt oder im Handwerk: Überall ist es im Einsatz, verändert und erleichtert die Leistungsprozesse und schafft völlig neue Strukturen des Miteinanders, nunmehr des Net-working. Seine Bedeutung für die Lösung der uns bedrängenden sozialen Probleme besteht über den Einsatz in herkömmlichen Prozessen hinaus vor allem darin, dass sein Potential für neuartige Nutzungen und Anwendungen und damit für neue Berufsbilder und Beschäftigungsmöglichkeiten zwar unbekannt, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit unermesslich ist. Dieser für die Bewertung der Neuen Medien wichtige Aspekt wird in der öffentlichen Diskussion bisher weitgehend übersehen, obgleich in Fachpublikationen in zunehmender Dichte darüber berichtet wird.

So wird in dem Standardwerk "Arbeitswelt Datenverarbeitung. Zukunft und berufliche Orientierung in der DV" von Stefan Rohr die neue Berufswelt unter besonderer Berücksichtigung ihrer Ausbildungswege ausführlich dargestellt. Dabei werden die zukunftsträchtigen Tätigkeiten des Informationssektors etwa in den im Aufbau begriffenen Online-Diensten sowie in den Anwendungs- und Nutzungsbereichen der neuen Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) besonders hervorgehoben. In diesem Bereich schätzt man, dass in den nächsten Jahren über 50 000 neue Arbeitsplätze entstehen. Den Chancen zur Begründung freiberuflicher Existenzen unter Nutzung der Neuen Medien widmet sich das gerade erschienene "Handbuch für den DV-Freiberufler" von Stefan Rohr und Heinz Streicher. Vom Hans-Bredow-Institut ist kürzlich ein Führer zur Aus- und Weiterbildung im Bereich der Medienberufe in Hamburg erschienen. In ihm sind die Inhalte und Ausbildungsprofile von 135 Berufsbildern dokumentiert, von denen ein Großteil vor fünf Jahren noch gar nicht existierte und etliche erst in den letzten beiden Jahren entstanden sind. Der Zentralverband Elektrotechnik und Elektroindustrie (ZVEI) hat in Zusammenarbeit mit der IG Metall und dem Bundesinstitut für Berufsbildung (Berlin) die fachlichen Voraussetzungen für neue Ausbildungsberufe im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik geschaffen. Nach Schätzung des ZVEI werden in diesen neuen Ausbildungsberufen für Systemelektroniker, Fachinformatiker, Systemkaufleute und Informatikkaufleute in den kommenden Jahren 25 000 neue Ausbildungsplätze entstehen.

Komplementarität zwischen Informations- und Industriegesellschaft

Da diese IKT-orientierten Berufsbilder und Beschäftigungsmöglichkeiten nicht vorrangig in der industriellen Erzeugung, sondern überwiegend im Dienstleistungsbereich liegen, schließt man daraus voreilig, dass die Informationsgesellschaft mit einem Ausstieg aus der Industriewirtschaft verbunden sei. Dies ist falsch. Informationsgesellschaft und Industriewirtschaft stehen nicht in einer Substitutions-, sondern in einer Komplementärbeziehung zueinander. Naturwissenschaft und Technik haben irreversible Produktionsstrukturen für die Erzeugung von Gütern geschaffen, die auch in der aufbrechenden Informationsgesellschaft die Funktion zu erfüllen haben, die Versorgung mit Investitions-, Gebrauchs- und Verbrauchsgütern sicherzustellen. Nicht zuletzt bedarf die Informationsgesellschaft existenznotwendig der industriellen Basis der Mikroelektronik und der von ihren Zulieferungen abhängenden chipverarbeitenden Produktionsbereiche, wie Datentechnik, Telekommunikationsausrüstungen, Industrieanlagen, Unterhaltungs- und Kfz-Elektronik.

Die bleibende Bedeutung des industriellen Sektors auch in der Informationsgesellschaft geht allerdings mit markanten Positionsveränderungen in der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung einher. Dazu gehört, dass der Beitrag der industriellen Produktion zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung zugunsten des tertiären Dienstleistungssektors weiterhin rückläufig sein wird. Entsprechend ist mit einer weithin zunehmenden Ausweitung des Anteils des tertiären Sektors am Sozialprodukt, der in Deutschland heute schon bei 64 Prozent liegt, zu Lasten des Industriebeitrags zu rechnen. In den USA liegt dieser Anteil bereits bei fast 75 Prozent.

Ein weiterer Punkt ist, dass diese Umwandlung der volkswirtschaftlichen Leistungsstruktur mit einer "Entstofflichung" des Sozialprodukts einhergeht. Der neue Wirtschaftsfaktor Kommunikation mobilisiert Geist und Wissen für das Wirtschaftswachstum und drängt gleichzeitig die physischen Ressourcen zurück - selbstverständlich ohne auf ihren auch weiterhin notwendigen Einsatz verzichten zu können. Damit sprengt die Informationsgesellschaft die Grenzen des Stofflichen, die dem Wachstum der überwiegend industriell geprägten Volkswirtschaft Fesseln auferlegen, nämlich: Verfügbarkeitsgrenzen der natürlichen Ressourcen auf der Angebotsseite und Marktsättigung für Ge- und Verbrauchsgüter auf der Nachfrageseite.

Daher erhalten neuartige Dienstleistungen der "weißen Wirtschaft", die nicht "dunkle Materie" in physische Güter, sondern "hellen Geist" in dienstbare Leistungen umwandeln, eine für die Informationsgesellschaft symptomatische Bedeutung. Diese Dienstleistungen zeichnen sich durch eine autonome, von den Entwicklungen des industriellen Sektors unabhängige Produktivität aus. Dem einer herkömmlichen Denkweise verbundenen Wirtschaftsbürger fällt es schwer, die Bedeutung dieses neuartigen Leistungstyps für Beschäftigung, Einkommen und Wachstum zu verstehen.

Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Olaf Henkel, dem traditionellen Wirtschaftsverständnis noch voll verhaftet, sprach das klassische Vorurteil, dass die Dienstleistungen angeblich keine autonome Produktivität aufweisen, an, als er überpointierend anmerkte, wir könnten uns schließlich nicht alle gegenseitig die Haare schneiden. Nimmt man das Haareschneiden als Synonym für Dienstleistungen generell, lautet aus der Sicht des neuen ökonomischen Denkens die Antwort auf Henkels Aussage: Alle können wir unser Einkommen sicher nicht damit verdienen, dass wir uns gegenseitig Dienstleistungen anbieten. Aber der größte Teil der Beschäftigten in unserer Volkswirtschaft tut dies, wie wir gesehen haben, heute bereits. Was spricht dann dagegen, dass dieser Anteil in der Zukunft noch weiter ansteigt, zumal wenn im Dienstleistungssektor durch neuartige IKT-Anwendungen immer mehr Berufsbilder entstehen - und zwar auf der gesamten Skalenbreite von eher anspruchslosen bis zu äußerst anspruchsvollen Tätigkeiten?

Wanderung von Arbeitsplätzen

Eine mit diesem Strukturwandel einhergehende Entwicklung stellt die Wanderung der Arbeitsplätze aus der industriellen Erzeugung in die Dienstleistungswirtschaft dar. So sind z.B. im wirtschaftsstrukturell fortschrittlichen Baden-Württemberg über 90 Prozent aller seit 1980 neu geschaffenen Arbeitsplätze im tertiären Dienstleistungssektor entstanden. Dass diese Entwicklung, durch die verschärfte Rationalisierungswirkung des massenhaften Einsatzes der Mikroprozessoren gestützt, inzwischen die Industrie in ihrer gesamten Breite, aber auch mechanische Arbeitsprozesse in traditionellen Dienstleistungsbereichen wie Banken und Versicherungen erfasst hat, gehört zu den wirtschaftsstrukturellen Gründen der hohen Arbeitslosigkeit in den Industrieländern. Dies ist aber vor dem Hintergrund der aufgezeigten Strukturwandlungen kein unabwendbares Schicksal, sondern eine vorübergehende Erscheinung. Denn die Wirkungen des Chips auf die Arbeitsprozesse sind seiner Natur gemäß gegenläufig, so dass er eine sowohl arbeitsersetzende als auch arbeitsschaffende Funktion hat, je nachdem, ob er mechanische und monotone Arbeit als künstlicher Prozessor und Roboter ersetzt oder kommunikative Tätigkeiten qualitativ aufwertet und neue Beschäftigungsmöglichkeiten schafft, die des Menschen als Nutzer und Anwender, als Bestimmer und Entscheider unersetzbar bedürfen. Auch wenn es verständlich ist, daß in der öffentlichen Diskussion die Jobkiller-Eigenschaft des Chips im Vordergrund steht, sollte die andere Seite der Medaille nicht derart rigoros ausgeblendet bleiben, wie dies in den meinungsbildenden Medien in Deutschland bisher der Fall ist.

In Berlin ist vor kurzem eine Wirtschaftsinitiative gegründet worden, die alle jene Unternehmen zusammenzufassen beabsichtigt, die der IKT-Nutzung und -Anwendung am nächsten stehen. Bei dieser Wirtschaftsinitiative unter dem Namen ProTIME handelt es sich um den Zusammenschluss von Unternehmen der Telekommunikation (T), der Informationstechnologie einschließlich Software (I), von Multimedia (M) sowie der Unterhaltungselektronik (E = En tertainment). Nach einer ersten Bestandsaufnahme sind im Berliner IKT-Sektor bereits rund 6 000 Unternehmen tätig, davon 4 400 Medienunternehmen, 1 100 Software- und 35 Telekommunikationsanbieter. Sie haben insgesamt 70 000 Beschäftigte und erzielen einen Umsatz von 20 Mrd. DM.

Aber auch in den neuen Wertschöpfungsbereichen der "weißen Wirtschaft", wie z.B. Bildung, Kultur, den humanitären Diensten, Tourismus, Unterhaltung und Sport liegen bisher ungehobene Schätze zukunftsträchtiger wirtschaftlicher Entwicklung. Wenn Bundespräsident Roman Herzog darauf verweist, daß Bildung das Mega-Thema unserer Gesellschaft werden muss und wir dazu eines Aufbruchs in der Bildungspolitik bedürfen, um in der kommenden Wissensgesellschaft bestehen zu können, sind mit dieser perspektivischen Aussage zugleich auch neue Wege integraler Bildungs- und Beschäftigungspolitik mit erheblichen ökonomischen Wachstumspotentialen angesprochen. Erste Veröffentlichungen (Jeremy Rifkin: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, 1995; Wolfgang Müller-Michaelis: Die Informationsgesellschaft im Aufbruch, 1996) haben auf diese neuen Beschäftigungsfelder einer neu strukturierten Arbeitswelt in der künftigen Informationsgesellschaft hingewiesen, ohne bisher auf besondere Resonanz bei der etablierten Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gestoßen zu sein.

Angesichts des Befundes, dass fast die Hälfte der heute Arbeitslosen keine abgeschlossene Berufsausbildung hat, und unter Berücksichtigung notwendiger Neuorientierung zu lebenslangem Lernen auch derjenigen, die - egal ob beschäftigt oder arbeitslos - über eine Ausbildung verfügen, liegt es nahe, in der berufsbegleitenden Weiterbildung für sämtliche Bürger jeden Berufsstandes einen dauerhaften Impulsgeber wirtschaftlichen Wachstums in der künftigen Informationsgesellschaft zu sehen. Bei 180 Mrd. DM, die die Arbeitslosigkeit in Deutschland nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit 1997 kosten wird, sind die finanziellen Ressourcen vorhanden, den notwendigen Transformationsprozess von heutiger unproduktiver Arbeitslosenverwaltung zu zukünftiger wachstumsträchtiger Weiterbildungsökonomie ohne Inanspruchnahme zusätzlicher öffentlicher Mittel in Gang zu setzen. Es bedarf allerdings der vom Bundespräsidenten geforderten "Flexibilität zu neuem Denken", um entsprechende politische Reformen in Angriff zu nehmen.

erschienen in: Eichholz Brief - Zeitschrift für politische Bildung, 34. Jg., H. 3/97
September 1997