Greencards für Bluechips
Die Neue Ökonomie braucht eine neue Politik

Wolfgang Müller-Michaelis

Die Art der Diskussion um die Öffnung des Arbeitsmarktes für den befristeten Zuzug von 20.000 ausländischen Computerfachleuten ist ein Beleg für die verbreitete Reformunwilligkeit hierzulande. Sie ist, wie die jüngste VDE-Umfrage zeigt, in tiefsitzenden Ängsten der Bevölkerung gegenüber den Herausforderungen der Informationsgesellschaft begründet.

Eher beiläufig hatte Bundeskanzler Schröder bei der Eröffnung der CeBIT 2000 auf die Notrufe der IT- und TK-Aussteller reagiert. Selbstverständlich müsse der Markt geöffnet werden, wenn das interne Facharbeiterangebot ausgeschöpft sei, so der Kanzler. Sein befreiend pragmatischer Politikansatz ist an den Erfordernissen der Neuen Ökonomie orientiert, die weltweit im Aufbau begriffen ist. Die digitale Revolution mit rasant wachsender Internetwirtschaft, mit boomender IT- und TK-Industrie und anschwellender Gründungswelle von Startup-Softwarefirmen ist mit der alten Vogel-Strauß-Politik nicht mehr zu steuern.

Daß die IG Medien protestierte, kann man zur Not aus ihrer tradierten Position der Besitzstandswahrung noch nachvollziehen. Nicht zu verstehen ist, daß der ehemalige Forschungsminister Rüttgers, der es eigentlich besser wissen müßte, in den Chor der ewiggestrigen Greencard-Gegner einstimmt. Der Mann hatte zwar der inzwischen drei Jahre alten "Berliner Rede" von Altbundespräsident Roman Herzog beigewohnt. Aber ihre Botschaft hat er offenbar nicht verstanden. Weder bei ihm noch bei der großen Mehrheit der Bevölkerung ist der von Herzog im April 1997 angemahnte "Ruck" zur Reformbereitschaft eingetreten. Daß dies so ist, muß sich am allerwenigsten die Wirtschaft ankreiden lassen. Sie ist der gesellschaftliche Motor, der den Umbau in Richtung digital-vernetzter Produktionsstrukturen unter dem Druck des internationalen Wettbewerbs vorantreibt. In weiten Teilen von IT- und TK-Industrie sowie Software-Wirtschaft gehört Deutschland auf diese Weise trotz aller Behinderungen unserer Sozial-Bürokratie zur Weltspitze.

Die Facharbeiterlücke ist in unserem Bildungssystem begründet, das noch immer einer zukunftsorientierten Bildungsreform ermangelt. Die Wurzel des Übels liegt in einer verfehlten Bildungspolitik, die mit einer das Problem vernebelnden Sozialpolitik einhergeht. Da die Aussichten, daß dieses Übel an der Wurzel wirklich angepackt wird, mittelfristig eher gering sind, ist die Greencard für IT-Spezialisten als Notbehelf unverzichtbar. Dabei muß in Kauf genommen werden, daß die Bluechips der digitalen Wirtschaft von diesem Entlastungsschnitt bevorzugt profitieren. Sie sind als Vorreiter der Globalisierung in jenen Märkten als erste am Ball, aus denen die ausländischen Fachkräfte angeworben werden. Wer will, daß der Wettbewerbsnachteil der unter dem Facharbeitermangel mindestens ebenso leidenden kleinen und mittelständischen Unternehmen überwunden wird, muß aktiv dazu beitragen, daß das Ruder in der Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik endlich herumgerissen wird.

Das Neue an der Neuen Ökonomie ist das Prinzip, daß sich die Wirtschaft einem globalen Trend folgend zusätzlich zur Verarbeitung materieller Rohstoffe neue Wachstumsspielräume durch Verarbeitung der immateriellen Ressource Wissen erschließt. Dabei wandelt sich das, was wir herkömmlich "Arbeit" nennen, zunehmend in Formen moderner Kommunikation. Daraus folgt, daß das, was wir "Arbeitslosigkeit" nennen, in Wirklichkeit überwiegend Ausbildungsdefizite in der Beherrschung moderner Kommunikationstechniken sind. Die Klärung dieses Zusammenhangs und seine Transformation in das Bewußtsein der Öffentlichkeit ist das kardinale Problem, das es als erstes anzupacken gilt, wenn wir uns aus unserer desolaten Lage befreien wollen. Dabei darf sich der Gemeinschaftspakt von Politik und Wirtschaft nicht im Aushandeln von Greencardquoten erschöpfen, so unverzichtbar diese Maßnahme kurzfristig auch sein mag.

Was als Einstieg in die eigentliche Problemlösung nottut, ist eine gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit von Bundesregierung und Wirtschaftsverbänden zur Offenlegung der Lage am Arbeitsmarkt, wie sie wirklich ist. Dazu sollten aus den rund vier Millionen Arbeitslosen die rund zwei Millionen nicht ausgebildeten und damit nicht voll erwerbsfähigen Personen (die einem neu aufzubauenden Berufsbildungssektor zuzuführen wären) sowie alle aus formalen Gründen (Anwartschaften) als arbeitslos Registrierten herausgenommen werden. Der verbleibenden Zahl von schätzungsweise bis zu zwei Millionen sowohl erwerbsbedürftiger als auch vermittlungsfähiger Personen sollte eine monatlich von den Wirtschaftsverbänden zu veröffentlichende Bedarfszahl der insgesamt "echt" verfügbaren Jobs gegenübergestellt werden. Diese dürfte ein Vielfaches der heute bei den Arbeitsämtern gemeldeten offenen Stellen betragen. Das Ergebnis dieser verbesserten Transparenz sollte sein, daß sich in der Öffentlichkeit eine Vorstellung von der wahren Natur des Ungleichgewichts am Arbeitsmarkt herauskristallisiert: Nicht an ausreichender Arbeit besteht unser Mangel sondern an genügender Ausbildung.

© B-I-K Consulting

Mai 2000