Die Ölfunde in der Nordsee –
Ihre Perspektiven und ihre Verwertung

Wolfgang Müller-Michaelis

Nachdem die Naturgasfunde bereits Mitte der sechziger Jahre gemacht worden sind, beginnt nunmehr auch das Nordseeöl zu sprudeln. Die ersten Tonnen des neuen Lebenselixiers wurden 1975 an der britischen Ostküste angelandet: im Juni per Tanker aus einem relativ kleinen Feld, „Argyll“, im November per Unterwasserpipeline aus dem größten bislang im britischen Nordseebereich entdeckten Feld, dem „Forties“-Feld. Um das Öl an Land zu bringen, bedurfte es seitens der Ölgesellschaften mehr als eines .Jahrzehnts intensiver Explorations- und Erschließungsarbeiten.

Die ersten Bohrungen wurden bereits 1964 abgeteuft, zunächst im südlichen Teil des Nordseeschelfs, da man annahm, dass sich die geologischen Strukturen des Ende der fünfziger Jahre in den Niederlanden entdeckten riesigen Groninger Gasfeldes in die Nordsee hinein fortsetzen würden. Diese Hoffnung trog nicht: schon 1965 stieß man auf ein kommerziell verwertbares Erdgasvorkommen, das „West Sole“-Feld, das zwei Jahre später in Produktion ging. „West Sole“ sollte nicht der einzige Gasfund in diesem Bebiet bleiben, die Entdeckung einer Reihe noch größerer Felder schloss sich bald an.

Als der südliche Teil weitgehend erforscht war und die Erfolgschancen hier sanken, verlagerte sich die Suche immer weiter nach Norden, in tiefere, noch unwirtlichere Gewässer. Trotz ununterbrochener Ausweitung der Explorationsaktivitäten dauerte es bis Ende 1969, ehe mit „Montrose“ der erste Ölfund im britischen Sektor gelang. Danach rissen dann allerdings die Erfolgsmeldungen nicht mehr ab. Die Reserveschätzungen mussten aufgrund neuer Funde von Jahr zu Jahr nach oben korrigiert werden.

Nach neuesten Angaben sind im britischen Nordseebereich insgesamt etwa 2 Milliarden Tonnen Öl nachgewiesen worden, mehr als selbst Optimisten unter den Erdölgeologen noch vor wenigen Jahren zu hoffen gewagt hatten.

Die Förderung aus den Ölfeldern in der britischen Nordsee wird in den kommenden Jahren rasch ansteigen. Den großen Durchbruch erwartet man für 1978/79, wenn die Mehrzahl der Felder in Betrieb gegangen ist. Ab 1980 dürften nach übereinstimmender Schätzung der britischen Regierung und der Ölgesellschaften bereits mindestens 100 Millionen Tonnen erreicht werden, eine Menge, die ausreichen würde, den für dann erwarteten gesamten britischen Ölbedarf voll zu decken und so das bislang auf Lieferungen aus dem OPEC-Raum angewiesene Land von Ölimporten theoretisch unabhängig zu machen. Jedoch eben „nur“ theoretisch, denn das Nordseeöl ist ein qualitativ hochwertiges, leichtes Öl, das sich nicht für alle Konsumzwecke (etwa für den Einsatz in der Elektrizitätswirtschaft) ohne weiteres verwenden lässt, sondern im Raffinerieeinsatz einer Ergänzung durch schwerere Rohöle bedarf. Sie müsste Großbritannien weiterhin aus den traditionellen Liefergebieten beziehen, hätte damit andererseits aber auch gewisse Mengen Nordseeöl für den Export frei.

Das Land könnte zum Nettoexporteur von Öl werden, wenn es gelänge, über die zur Abdeckung des Eigenbedarfs benötigten 100 Millionen Tonnen hinaus noch weitere Mengen zu fördern. Dies wäre möglich durch Erschließung schon entdeckter, aber relativ kleiner und deshalb unter den gegenwärtigen Bedingungen noch unrentabler Felder oder das Auffinden neuer Öllagerstätten.

Es bestehen gute Aussichten, bei der Exploration auf weitere Felder zu stoßen, denn die Nordsee ist - insbesondere was den äußersten Norden angeht - noch lange nicht voll erforscht. Die Chancen, erneut Riesenfelder in der Größenordnung von 200 bis 300 Millionen Tonnen förderbarer Reserven zu entdecken, sind nach Aussagen des britischen Erdölgeologen Harry Warman jedoch sehr gering. Nach seiner Ansicht wird die weitere Suche nur noch kleinere Felder erbringen.

Zumindest im vergangenen Jahr hat Warman mit seiner Prognose recht behalten, denn für 1975 kann die Bilanz der Neuentdeckungen nicht als besonders ermutigend bezeichnet werden, wenngleich sich für die Mehrzahl der über zwanzig neuen Funde noch kein abschließendes Urteil hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit fällen lässt. Nur soviel steht fest - ein neues „Forties“ ist nicht darunter gewesen.

Der dem Nordsee-Run ursprünglich zugrundeliegende Optimismus hat einer nüchternen, letztlich wohl auch realistischeren Betrachtungsweise Platz gemacht. Optimismus hatte sich bei den in der Nordsee tätigen Ölgesellschaften besonders um die Jahreswende 1973/74 ausgebreitet, als sich durch die sprunghafte Vervierfachung des Rohölpreises seitens der OPEC-Länder für das in der Nordsee investierte Kapital überdurchschnittliche Renditen abzeichneten. Dieser Optimismus wurde jedoch etwas gedämpft, zum einen durch ökonomische, zum anderen durch politische Faktoren. Kaum hatten die OPEC-Länder den Rohölpreis drastisch erhöht und den „Ölhahn“ vorübergehend zurückgedreht, erlebte die Nordsee-Exploration und damit die Nachfrage nach Ausrüstungen einen Boom, dem die traditionelle Lieferindustrie trotz aller Anstrengungen nicht gewachsen war. Die Folge waren erhebliche Preissteigerungen, die dazu führten, dass sich die Investitionskosten in der Nordsee binnen zwei Jahren mehr als verdoppelten und je Jahrestonne Förderkapazität 50 Pfund erreichten. Wie überdurchschnittlich hoch sie damit 1iegen, zeigt ein Vergleich mit anderen wichtigen Fördergebieten: im Golf von Mexico betragen die entsprechenden Investitionskosten gegenwärtig etwa 18 Pfund, in Nigeria 8 Pfund, im Mittleren Osten sogar nur 2 Pfund.

Für die Erschließung des „Forties“-Feldes wendete man das in den Vereinigten Staaten verbreitete „Production Payment Financing“ an, bei dem das in der Lagerstätte vorhandene, noch nicht geförderte Öl dem Kreditgeber verpfändet wird, der sich schadlos hält, indem er später das geförderte Öl an den Kreditnehmer verkauft. Bei dem 360-Millionen-Pfund-Kredit, den eine Ölgesellschaft 1972 bei einem aus 66 Banken bestehenden Konsortium aufnahm, handelte es sich seinerzeit um die größte Darlehenssumme, die je einem privaten Unternehmen zur Verfügung gestellt worden war. Die „Forties“-Investitionen konnten dieses gewaltige Darlehen dennoch nicht einmal zur Hälfte abdecken, denn die Erschließungskosten, ursprünglich mit 330 Millionen Pfund veranschlagt, stiegen schließlich auf fast 800 Millionen Pfund.

Um die trotz rasanten Kostenanstiegs noch verbleibenden, von ihr als zu hoch erachteten Gewinne abzuschöpfen, hat die britische Regierung nach langem Hin und Her im vergangenen Jahr eine Sondersteuer auf Nordseeöl eingeführt. Mit dem Förderzins (Royalty) und der Körperschaftssteuer (Corporation Tax) erreicht die Abschöpfung durch den Staat (der Government Take) demnach rund 60 % bei den kleineren und bis zu 80 % bei den größeren Feldern.

Bis 1980 werden durch die Besteuerung des Nordseeöls insgesamt 3 bis 4 Milliarden Pfund in die Kassen des britischen Fiskus fließen. Für den Beginn der achtziger Jahre erwartet man sogar - ausgehend von einem Produktionsniveau von etwa 150 Millionen Tonnen pro Jahr - jährliche Einnahmen von 2 bis 3 Milliarden Pfund. Welches Gewicht diese Steuerquelle damit erlangt, wird deutlich, wenn man ihre Erträge dem Aufkommen etwa der Körperschafts- oder der Mehrwertsteuer gegenüberstellt: sie erbringen gegenwärtig gerade die oben genannten 2 bis 3 Milliarden Pfund.

Für Norwegen hat das Ölzeitalter schon vor einigen Jahren begonnen. Mitte 1971 wurde in „Ekofisk“, dem ersten überhaupt in der Nordsee entdeckten Ölfeld, die Förderung aufgenommen. Im vergangenen Jahr erreichte sie fast 10 Millionen Tonnen und übertraf damit - obwohl noch weit von der Plateaumenge entfernt - bereits den gesamten norwegischen Ölbedarf.

Die Suche nach Öl und Gas war im norwegischen Nordseeschelf bislang ähnlich erfolgreich wie vor der britischen Ostküste. Neben „Ekofisk“ , das etwa 200 Millionen Tonnen Öl und zusätzlich 200 Milliarden Kubikmeter Gas enthält, konnte noch eine ganze Reihe anderer bedeutender Öl- und Gasvorkommen ausgemacht werden, darunter das größte bisher in der Nordsee entdeckte Ölfeld, das weit im Norden gelegene „Statfjord“. „Statfjord“ allein soll Schätzungen zufolge Reserven von weit mehr als 300 Millionen Tonnen aufweisen. Insgesamt werden die Funde im norwegischen Nordseeteil auf nahezu 1 Milliarde Tonnen Öl und 700 Milliarden Kubikmeter Gas beziffert.

Im deutschen Sektor der Nordsee ist die Suche nach Öl und Gas bisher wenig erfolgreich verlaufen. Lediglich im sogenannten „Entenschnabel“ an der Grenze zum britischen Bereich sind im vergangenen Jahr offenbar nennenswerte Erdgasvorkommen entdeckt worden, doch bedarf es noch weiterer Untersuchungen, um Umfang und Förderwürdigkeit festzustellen. Mit den bisher in den Sektoren Norwegens und Großbritanniens entdeckten Öl- und Gasvorkommen, die noch durch verhältnismäßig geringe Funde im niederländischen und dänischen Bereich ergänzt werden, hat die Nordsee die Reserveposition Westeuropas erheblich gestärkt. Mit rund 3 Milliarden Tonnen Öl und über 2000 Milliarden Kubikmeter Gas liegen in diesem Gebiet mehr als 80 % der westeuropäischen Öl- und etwa 40 % seiner Gasreserven. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Nordseefunde im Weltmaßstab insgesamt noch relativ bescheiden ausnehmen. Gemessen an den Weltölreserven zum Beispiel, die gegenwärtig mit rund 90 Milliarden Tonnen angegeben werden, beträgt der Anteil der Nordsee trotz allem nur etwa 3 %, der Westeuropas insgesamt knapp 4 %. Demgegenüber ist Westeuropa mit rund einem Viertel am Weltmineralölverbrauch beteiligt. Insofern würde selbst eine durch neue Funde im Bereich des Möglichen liegende Verdoppelung der Nordseereserven noch keinen grundlegenden Wandel in der Versorgungsstruktur Westeuropas bringen, der diese Region von Ölimporten der nahöstlichen oder afrikanischen OPEC-Länder unabhängig machen könnte. Durch die Nordseefunde wird jedoch eine deutliche Entlastung der sehr hohen Importabhängigkeit beim Öl eintreten. 1980 könnte Westeuropa bei einem angenommenen Förderniveau von 150-200 Millionen Tonnen fast 25 % seines Ölbedarfs aus eigenen Quellen decken. 1985 könnten es bei einem Förderniveau von 250 Millionen Tonnen sogar mehr als 30 % sein.

Verbunden mit den Gasfunden in der Nordsee hätte das auch für die gesamte Energieimportabhängigkeit Westeuropas entscheidende Konsequenzen. Sie könnte sich von rund 55 % auf etwa 35 % verringern.

Welche Bedeutung eine derartige Entwicklung für die Sicherheit der europäischen Energieversorgung haben könnte, liegt auf der Hand. Ob sie eintritt, hängt nicht zuletzt von der zukünftigen Wirksamkeit jener Faktoren ab, die auch die Erschließung der bisherigen Nordsee-Vorkommen bestimmt haben: dem unternehmerischen Wagemut und der staatlichen Bestimmung seines Spielraums.

erschienen in: UNIVERSITAS - Zeitschrift für Wissenschaft, Kultur und Literatur
31. Jg., 1976, H. 5, S. 513 ff.