Vom Zukunftsaspekt der Geschichte
Wir müssen uns dem zeitlosen Auftrag der Erhaltung unserer Nation stellen
Wolfgang Müller-Michaelis
Es muß wohl die rigorose und erdrückende Einmaligkeit des militärischen und politischen Zusammenbruchs des Deutschen Reiches im Mai 1945 gewesen sein, die in der seither vergangenen Generationsphase von dreieinhalb Jahrzehnten einer Regeneration Deutschlands zur Wiedererlangung seiner nationalen Einheit entgegenstand.
Zwar haben die den beiden westlichen und östlichen Bündnissystemen zugehörigen deutschen Teilstaaten seit dem Zusammenbruch auf allen wichtigen Gebieten des politischen Lebens jeder für sich eine erhebliche Reputation gewonnen, aber das Wiederanknüpfen an die 1945 unterbrochene einheitliche deutsche Nationalgeschichte ist dadurch mehr beeinträchtigt als gefördert worden. Aus heutiger Sicht muß die moralische Kraft von Politikern wie Ernst Reuter, Kurt Schumacher, Jakob Kaiser, Ernst Lemmer - um nur einige zu nennen - bewundert werden, mit der sie sich im ersten Jahrzehnt der deutschen Teilung der befürchteten Dauerhaftigkeit dieses Zustandes entgegenstemmten. Seither hat die ideologisch geführte Ost-West-Auseinandersetzung die "deutsche Frage" zunehmend überwuchert und ihre Behandlung war zudem stets mit dem Trauma der nationalsozialistischen Verbrechen belastet.
Dadurch ist es zusehends schwieriger geworden, in der nachwachsenden Generation jenes Selbstverständnis im Verhältnis zur Geschichte des eigenen Volkes wiederherzustellen, das unabdingbare Voraussetzung für die Erhaltung eines bindenden Nationalgefühls ist.
Unter dieser Hypothek steht das politische Leben in der Bundesrepublik Deutschland heute in einem so umgreifenden Maße, daß man um die Stabilität unserer staatlichen Ordnung fürchten muß. Ziellosigkeit und Passivität einerseits, Labilität und Erregbarkeit andererseits sind charakteristische Merkmale, mit denen der Zustand eines nicht unerheblichen Teiles unserer Jugend umschrieben werden kann. Der Mangel an staatsmännischer Führung in der Nach-Adenauer-Ära, die sich der Aussöhnung mit der deutschen Geschichte, insbesondere mit ihren positiven Hauptlinien und großen Leistungen in Philosophie, Kultur und Wissenschaften hätte zuwenden müssen, um neue moralische Maßstäbe für das Hinüberretten der deutschen Nation in eine zukünftige Dimension unserer Geschichte zu setzen, ist hierfür sicher eine wichtige Erklärung.
Für einen Großteil unserer Jugend war daher die Fernseh-Dokumentation "Flucht und Vertreibung", mit der erstmalig einer "nicht dabeigewesenen" breiten Öffentlichkeit die größte erzwungene Vö1kerwanderung der Menschheitsgeschichte ins Bewußtsein gebracht wurde, sicher ein erhellender Beitrag zur Ergänzung ihres Bildes von der jüngeren deutschen Geschichte.
Die Ost- und Mitteldeutschen Landsmannschaften wären gut beraten, das durch diese Fernsehdokumentation wiedergeweckte Interesse an der deutschen Nationalgeschichte in Zusammenarbeit mit anderen staatstragenden Organisationen zum Anlaß verstärkter Informationstätigkeit über die geschichtlichen Zusammenhänge und die fortwirkende nationale Zusammengehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland mit Mittel- und Ostdeutschland zu nehmen. Vortragsveranstaltungen, Seminare, Kongresse und die Herausgabe von Dokumentationen und historischen Schriften sollten intensiver als bisher die Lücke mangelhafter Bildungsarbeit zur Vermittlung von Wissen über die deutsche Geschichte ausfüllen. Dabei sollte auch die Übersetzung von Arbeiten zur deutschen Geschichte in die wichtigsten Fremdsprachen gezielter als bisher betrieben werden.
Denn so wichtig eine verstärkte Hinwendung zur eigenen Geschichte für die Erhaltung des Anspruchs auf die nationale Einheit ist - ohne eine dauerhafte Informationstätigkeit hierüber auch im internationalen Bereich, ist eine Aufrechterhaltung und gar Durchsetzung dieses Anspruchs zur Erfolglosigkeit verurteilt.
Gerade vor dem Hintergrund der Erfahrung, daß die deutsche Nachkriegsentwicklung kaum ermutigende Ansatzpunkte für eine Wiedervereinigung Deutschlands geboten hat, sollte uns ein oft vernachlässigter Aspekt wieder stärker bewußt werden : auch die Zukunft ist ein - durch Geschehen bisher nicht ausgefüllter - Teil unserer Geschichte; diese auf uns zuwachsende Geschichte wird nicht zuletzt durch unser eigenes Tun und Unterlassen mitgeprägt werden, mit dem wir uns dem zeitlosen Auftrag der Erhaltung unserer Nation stellen.
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erschienen in: "Die Pommersche Zeitung", Jahrgang 31, Folge 12, 21. März 1981