"Mit geborgter Zeit in gefährdeter Welt"
Eintreten für Gerechtigkeit und für Frieden
Wolfgang Müller-Michaelis
Gute Vorsätze sollten möglichst oft auf die Probe gestellt werden, wenn sie etwas bewirken sollen. Wir haben uns für das neue Jahr vorgenommen, alte Fehler nicht zu wiederholen, gute Entwicklungen nach Kräften zu unterstützen und dazu beizutragen, daß den Übeln dieser Welt der Boden entzogen wird. Die Frage ist allerdings, ob sich dadurch die Zustände auch tatsächlich zum besseren wenden. Aus Erfahrung haben wir Zweifel, daß dies geschieht, würden sich doch schon bald paradiesische Verhältnisse einstellen, wenn sich die Menschen in großer Gemeinschaft dazu verstünden, gute Vorsätze in edle Taten umzusetzen. Aber soll man sich aus dem ständigen Erleben von Fehlverhalten, Abgleitungen und Unvollkommenheiten zur Resignation hinreißen lassen? Nein, im Gegenteil: Wer die Kraft zum guten Handeln hat, sollte reichlich davon Gebrauch machen, schon um den mangelnden Beitrag derjenigen zu kompensieren, die nicht mitwirken können oder wollen. Unter den vielen guten Zielen, für die es sich einzusetzen lohnt, steht das Eintreten für Gerechtigkeit und Frieden sicher ganz oben an. Es gilt für die kleinen Dinge des Alltags in Familie, Beruf und Gemeinde genauso wie für die ungelösten Fragen der großen Politik. Nicht zuletzt fühlen sich in dieser Zielsetzung auch die ost- und mitteldeutschen Landsmannschaften mit ihrer Arbeit eingeordnet.
Eigenartigerweise wird diese Zuordnung landsmannschaftlicher Arbeit mit dem Menschheitsziel Gerechtigkeit und Frieden nicht überall akzeptiert. Schlimmer noch : Oft genug wurde und wird die Arbeit der Landsmannschaften als entspannungsfeindlich und als friedensstörend umgedeutet. Da dies mit erheblichem Propaganda-Aufwand geschehen ist, hat es entsprechende Wirkung gezeigt. Viele wenden sich ab, wenn sie auf die Frage der Vertreibung der Ostdeutschen aus ihrer Heimat angesprochen werden. Viele zählen diesen Vorgang nicht mehr zum Komplex der ungelösten deutschen Frage. Für viele ist das Thema durch Zeitablauf erledigt. Und zunehmend mehr Menschen aus der nachwachsenden Generation fehlt ganz einfach der informative Hintergrund, um zu verstehen, worum es geht : sie haben weder von Pommern noch von Ostpreußen je etwas in der Schule gehört. Die Aufgabe derjenigen, die für eine gerechte und friedvolle Lösung der Frage der deutschen Ostgebiete eintreten, wird daher in Zukunft nicht einfacher werden. Sie sollten aber versichert sein, daß sie für eine gute Sache kämpfen.
Wer es als Gnade empfindet, ein Menschenleben lang auf dieser Welt sein zu dürfen, der sollte diese ihm von Gott geborgte Zeitspanne zu menschenwürdiger Lebensgestaltung nutzen. Dazu gehört auch der aufrechte Gang in moralischer Hinsicht. Wer sich als Bürger unter einem politischen Gewaltregime, das ohne sein Zutun von fremder Macht über ihm etabliert wurde, den Umständen entsprechend einzurichten versucht, muß unseres Mitgefühls und unseres Verständnisses sicher sein dürfen. Wer sich aber in politischer Freiheit lebend den Unterdrückern seiner Landsleute andient und sich aus freien Stücken zum Handlanger der Unfreiheit macht, vergeht sich an den Rechten, die er zugleich genießt und mißbraucht. Wenn der "Stern" mit Stolz das Ergebnis einer von ihm in der DDR durchgeführten Umfrage verkündet, nach dem sich angeblich nur vier Prozent der Deutschen in der DDR ein wiedervereinigtes Deutschland nach dem Vorbild der Bundesrepublik wünschen, fragt sich nach der Geistesverfassung der für diese Mitteilung verantwortlichen Redateure. Sich aus dem Bereich politischer Freiheit dem Regime der Unfreiheit und des Unrechts anzubiedern, ist ein schlimmes, aber leider verbreitetes Merkmal unserer politischen Kultur. Man könnte es als Heloten-Syndrom deutscher Publizistik kennzeichnen, eine moralische Hypothek aus der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. Es markiert Unfähigkeit, zwischen tatsächlicher deutscher Schuld und den machtpolitischen Folgen der militärischen Niederlage mit allen ihren negativen Nachwirkungen für die politischen Verhältnisse der Gegenwart zu unterscheiden. Die Massenaustreibung der Deutschen aus Ostdeutschland und die territoriale Zerstückelung des Deutschen Reiches wird von dieser "Schule" als unabänderliche und hinzunehmende Bestrafung für die Untaten des Hitler-Regimes gesehen. Diese Betrachtungsweise wird auch in Zukunft auf den erbitterten Widerstand der unmittelbar Betroffenen und ihrer politischen Freunde stoßen, zumal an diesem Punkt ein ethischer Grunddissenz deutscher Nachkriegspolitik festzumachen ist. Als Nagelprobe auf die zu dieser Frage eingenommene Position kann die Reaktion auf die Aussage des Wiesbadener Oberbürgermeisters Exner gelten, die er anläß1ich der Unterzeichnung der Städtepartnerschaft Wiesbaden/Breslau jüngst gemacht hat : "Breslau war eine deutsche Stadt. Breslau ist eine polnische Stadt, Breslau wird eine polnische Stadt bleiben." Oberbürgermeister Exner weiß nicht, was er mit dieser öffentlich geäußerten Auffassung seinen ostdeutschen, insbesondere schlesischen Landsleuten antut. Er spricht und handelt hier als Vertreter eines politischen "Establishments", das vom Dominikater-Pater Heinrich Basilius Streithofen kürzlich in treffender Schärfe angeprangert wurde : "Politiker dürfen bei aller Flexibilität nicht nur Hampelmänner des Zeitgeistes sein. Sie müssen Grundsatzfestigkeiten in christlichen Prinzipien, Vertrauen und Kompetenz vermitteln."
Angesichts der vielen Gefährdungen, denen wir heute im Innern unseres Landes und in der äußeren Welt ausgesetzt sind, wird der Ruf nach Kompetenz und moralisch einwandfreier Führung wieder lauter. Zu dieser Führung gehört eine Vorstellung von Gerechtigkeit und Frieden, die auch das Rechtsgefühl der eigenen Landsleute in bezug auf Wahrung angestammter Grundrechte achtet. Die Einsicht, daß wir mit geborgter Zeit in gefährdeter Welt leben, ist einerseits von der Demut bestimmt, daß unsere Möglichkeiten auf dieser Welt begrenzt sind. Aber sie ist auch ein moralischer Appell an unseren Mut, nicht durch Kleingeisterei und Anbiederei an Unrecht und Gewalt die bestehenden Gefährdungen noch zu verstärken. Wir tun etwas Rechtes, wenn wir für die Unaufgebbarkeit unserer Heimat eintreten. Da wir dies ohne Androhung von Gewalt tun, dienen wir dem Frieden mehr als jene, die die heutigen unrechtmäßigen Zustände nur durch militärische Besatzung, durch Drangsalierung der Menschen, durch Außerkraftsetzung menschlicher Grundrechte aufrechterhalten können.
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erschienen in: "Die Pommersche Zeitung", Jahrgang 38, Folge 2, 9. Januar 1988