Woran es in Deutschland gegenwärtig "hakt"
Ohne Patriotismus sind die aktuellen Probleme nicht lösbar
Wolfgang Müller-Michaelis
Im Bundesrat, der deutschen Länderkammer, wurde festgelegt, wie der Tag der deutschen Vereinigung gefeiert werden soll: Der 3. Oktober wird in wechselnder Aufeinanderfolge in den einzelnen Bundesländern, jeweils am Amtssitz des jährlich wechselnden Präsidenten des Bundesrats begangen.
Nachdem im letzten Jahr Hamburg der Ort der Feier war, ist in diesem Jahr zum zweiten Vereinigungstag Schwerin als Hauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern an der Reihe. Ministerpräsident Seite wird als amtierender Bundesratspräsident, damit zugleich Stellvertreter des Bundespräsidenten und zweiter Mann im Staat, als Gastgeber die Feier ausrichten.
Der zweite Geburtstag des vereinigten Deutschlands wird von einer schlechten Stimmungslage überschattet. Das gilt aus unterschiedlichen Gründen im alten wie im neuen Teil der Bundesrepublik. Selbst die eher bedächtigen und zurückhaltenden Mecklenburger und Pommern brachten ihren Unmut zum Ausdruck. Ministerpräsident Seite machte sich zum Sprecher nicht nur seiner nordostdeutschen sondern aller Landsleute aus den neuen Bundesländern, als er an die Bundesregierung und an den Bundeskanzler persönlich appellierte, mehr Engagement für den Aufbau und für die Probleme der Menschen in dem vom DDR-Regime geschundenen Teil Deutschlands zu zeigen.
In Bonn wurden diese und andere kritische Stimmen als unberechtigt zurückgewiesen. Es wurde an die erheblichen Anstrengungen erinnert, die bereits unternommen wurden, um die schlimmen Folgen der 40jährigen sozialistischen Mißwirtschaft heilen zu helfen. Diese Anstrengungen werden von den mitteldeutschen Landsleuten nicht bestritten, sie werden anerkannt und mit Dankbarkeit aufgenommen.
Es hilft aber nichts: Zwischen dem, was getan wurde und auch weiterhin getan wird, und dem, was noch zu tun bleibt, klafft eine bedrohliche Lücke. Auf das Bedrohliche dieser Lücke, die erheblichen sozialen Sprengstoff in sich birgt, wollte Ministerpräsident Seite das Augenmerk von Bundesregierung und Bundestag lenken, so wie dies seine mitteldeutschen Kollegen, allen voran der sächsische Ministerpräsident Professor Kurt Biedenkopf, seit längerem schon nicht müde werden zu tun.
So ist der eigentliche Nährboden für die Katerstimmung nach der ersten Vereinigungseuphorie ein gegenseitiges Unverständnis für die Art und Weise, wie die jeweils andere Seite an die Betrachtung der Dinge herangeht. Manches spricht dafür, daß dieses wechselseitige Mißverstehen noch einige Zeit andauern und die Lösung der Probleme weiter behindern wird.
Das liegt daran, daß sich weder in West noch in Ost eindeutige Positionen gegenüberstehen, sondern es sich auf beiden Seiten eher um "Positions-Paare" handelt: In den neuen wie in den alten Bundesländern wird das Unbehagen an der Vereinigung aus jeweils sowohl einer eher rechts- wie einer linksorientierten politischen Grundposition - insgesamt also vier unterschiedliche "Lager" - genährt.
Aus westlicher Sicht erscheinen die beiden unterschiedlichen östlichen Positionen als Gemisch übertriebener "Ossi-Wehleidigkeit". Aus östlicher Sicht erscheinen die beiden unterschiedlichen westlichen Positionen demgegenüber als ein Gemisch überheblicher "Wessi-Arroganz", womit der Zugang zum Verstehen der westlichen Haltung ebenfalls verschlossen bleibt.
Es wäre für die Lösung der anstehenden Fragen schon viel getan, wenn in der politischen Diskussion die vier eingenommenen Grundpositionen deutlicher voneinander unterschieden und wenn dann die in allen vier Positionen enthaltenen Vourteile soweit wie möglich abgebaut würden. Nur dann wird es zu einem stärkeren Aufeinanderzugehen als Voraussetzung für ein gemeinsames Anpacken der Probleme kommen können.
Worin unterscheiden sich die vier Positionen?
Alle vier dargestellten politischen Positionen im Osten wie im Westen sind in der mangelnden Bereitschaft vereint, über den eigenen Tellerrand hinaus auf das Gemeinsame im neuen Deutschland zu sehen. Dieses Gemeinsame kann nur ein aufgeklärter, an den inneren und äußeren Problemen unseres Landes und unserer Zeit orientierter Patriotismus sein. Damit soll keiner Renaissance des Nationalismus das Wort geredet werden, was angesichts der übergeordneten Aufgabe zum Aufbau des "europäischen Hauses" kontraproduktiv wäre. Aber wenn nicht begriffen wird, daß die glückliche Fügung der Geschichte, die uns die Vereinigung Deutschlands bescherte, einer veränderten Geisteshaltung bedarf, werden wir unserer Probleme nicht Herr werden. Ohne einen opferbereiten Patriotismus der Deutschen in den alten wie in den neuen Bundesländern wird die deutsche Vereinigung nicht erfolgreich zu vollenden sein.
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erschienen in: "Die Pommersche Zeitung", Jahrgang 42, Folge 34, 22. August 1992