Die europäische Mission deutscher Politik
Plädoyer für eine umfassende Europa-Orientierung - Maastrichter Verträge planmäßig umsetzen

Wolfgang Müller-Michaelis

Als die Regierungschefs Frankreichs, Italiens, Deutschlands, Hollands, Belgiens und Luxemburgs im Juli 1957 auf dem Kapitol in Rom die Gründungsverträge für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft unterschrieben, haben sie sicher nicht für möglich gehalten, was schon nach einer guten Generation aus dieser wohl mutigsten Initiative der jüngeren europäischen Geschichte werden würde. Es ist ein Wirtschaftsraum mit gemeinsamer Außenhandelspolitik gegenüber der übrigen Welt und mit vereinheitlichter Politik in wichtigen Lebensbereichen entstanden. Er hat sich im Laufe von 35 Jahren in zwei Zwischenstufen von der ursprünglichen Sechser-Gemeinschaft zur zwölf Mitglieder umfassenden EG entwickelt. Weitere Kandidaten für die Mitgliedschaft stehen Schlange, obgleich sich die Anforderungen immer weiter verschärft haben und noch verschärfen werden.

Mit dem 1. Januar 1993 ist durch den Eintritt in den "Europäischen Binnenmarkt" eine Vielzahl neuer Gemeinsamkeiten in der EG wirksam geworden, die zukünftig den Alltag jedes einzelnen europäischen Bürgers mitbestimmen werden. Der Ende letzten Jahres vom Deutschen Bundestag und Bundesrat mit großer Mehrheit angenommene Maastricht- Vertrag über den weiteren Ausbau der EG zu einer politischen Union mit gemeinsamer europäischer Währung unterstreicht darüber hinaus die Dynamik des weiter voranschreitenden europäischen Einigungsprozesses. Manche Zurückhaltung oder sogar Irritation gegenüber dieser fortschreitenden "Europäisierung" , die auch in Beiträgen in der "Pommerschen Zeitung" Ausdruck fand, ist angesichts der großen Vorteile, die die bisherige Entwicklung gerade auch für die Europäer "deutscher Nation" gebracht hat, ganz und gar unbegründet.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist eine zielstrebige Ausrichtung der deutschen Politik auf den Aufbau eines geeinten Europas, mit dem allein auch eine Überwindung der deutschen Teilung denkbar erschien, ohne vernünftige Alternative gewesen. Die politischen Umwälzungen in Europa seit 1989 mit dem Vollzug der deutschen Einigung 1990 haben die Richtigkeit dieser Zielsetzung auf das Eindrucksvollste bestätigt. Angesichts dieser Erfolgsbilanz kann die Leitschnur deutscher Europa-Politik nur lauten: Alle Kraft voraus für ein politisch und wirtschaftlich starkes Europa, um den großen Herausforderungen einer von Unsicherheiten bestimmten Weltpolitik begegnen zu können.

Wichtig dabei ist, daß die deutsche Politik in ihrer Europa-Orientierung berechenbar bleibt. Je mehr die deutsche politische und wirtschaftliche Kraft europäisch "kanalisiert" bleibt und dem Bau des europäischen Hauses unmittelbar zugute kommt, desto weniger haben unsere Nachbarn Grund, sich vor einer deutschen Hegemonialstellung im künftigen Europa zu fürchten. Unter diesem Gesichtspunkt der Europa-Orientierung ist die Forderung nach selbstbewusster deutscher Einflußnahme auf die gemeinsamen politischen Entscheidungsprozesse kein Widerspruch, sondern durchaus eine wesentliche Bedingung für die erfolgreiche Durchsetzung gesamt-europäischer Ziele in den diversen Konfliktfeldern der Weltpolitik. In der Prioritäten-Liste zukünftiger Europapolitik, die den Zielen der wirtschaftlichen Entwicklung, politischen Friedenssicherung und ökologischen Erneuerung verpflichtet bleibt, gibt es insbesondere sechs Bereiche, auf die sich die Anstrengungen im neuen Jahr konzentrieren sollten, nicht zuletzt auch aus deutscher Sicht:

Regionalisierung
Da die kulturelle und wirtschaftliche Kraft Europas in seinem föderalen Aufbau liegt, sollte - auch. als Gegengewicht zu manchen Ansätzen einer zentralen "Eurokratie" - die Stärkung der europäischen Regionen und die weitgehende Erhaltung ihrer kulturellen Eigenständigkeit ein vorrangiges Ziel der Gemeinschaftspolitik sein.

Kommunikation
Der deutschen Sprache sollte - gerade auch im Hinblick auf die erwartete EG-Erweiterung um ost- und südosteuropäische Mitglieder - die Stellung als dritte europäische Verkehrssprache neben Englisch und Französisch zugestanden werden.

Sicherheit
Die unerträgliche Passivität der Europäer bei militärischen Konflikten - angesichts des mörderischen Krieges im früheren Jugoslawien eine Schwachstelle, die an den Lebensnerv der Europäer rührt - sollte schnellstens in eine angemessene eigenständige Rolle innerhalb westlichen Allianz überführt werden. Europa muß, eingefügt in NATO-Struktur und UNO-Auftrag über eine unter WEU-Kommando stehende militärische Eingreiftruppe (entsprechend der europäischen Flaggen-Farbe: "Dunkelblau-Helme") verfügen, um seiner Verantwortung in der Welt, auch den Erfordernissen seiner eigenen Sicherheit gerecht zu werden.

Institutionen
Eine Reform der europäischen Institutionen "an Haupt und Gliedern" ist überfällig. Sie muß bei einer Vitalisierung des Europa-Parlaments beginnen. Der Erfolg einer institutionellen Reform wäre erst dann erreicht, wenn die Heftigkeit des Wahlkampfes um EP-Parlaments-Mandate stärker ausfällt, als diejenige bei Kampagnen um nationale Parlaments-Sitze.

Symbole
Europa muß seine Lebenskraft und Identität nach innen und außen durch Gemeinschafts-Symbole verdeutlichen. Neben die Europa-Flagge muß die Einheitswährung - wie im Maastricht-Vertrag vorgesehen - und der für alle EG-Bürger neben dem nationalen Paß gleichberechtigte einheitliche Europa-Paß treten. Europa wird erst dann Realität sein, wenn diese Gemeinschafts-Symbole für seine Bürger zu Selbstverständlichkeiten geworden sind.

Einwanderung
Angesichts der in Gang gekommenen globalen Süd-Nord-Wanderung wird Europa seine - auch für die Dritte wichtige - Wirtschaftskraft nur bewahren können, wenn es eine gemeinsam abgestimmte Einwanderungspolitik festlegt und wirkungsvoll durchsetzt. Die Aufgabe, die über den Tag hinaus für die Zukunft der EG eine strategische Bedeutung hat, wird durch die im nationalen Alleingang durch Deutschland nicht zu lösende Asylanten-Problematik überaus deutlich.

Wie dieser Aufgabenkatalog zeigt, ist Europa heute und in Zukunft längst keine Angelegenheit von Schwarmgeistern mehr, sondern eine Sache existenzieller Interessen, für die es den gemeinschaftlichen Einsatz lohnt - gerade auch im engagiertem deutschen Beitrag.

erschienen in: "Die Pommersche Zeitung", Jahrgang 43, Folge 2, 16. Januar 1993