Aussöhnung durch Wahrheit -
Gedanken zur EU-Osterweiterung aus deutscher Sicht
Am 1. Mai 2004 sind der Europäischen Union zehn neue Mitgliedsländer beigetreten. Die Union umfasst jetzt 25 Staaten, die sich nach ihren Verfassungen zur Demokratie und zum Schutz der Menschenrechte bekennen, zu den Grundrechten der eigenen Bürger und zur Bewahrung dieser Rechte für die Menschen überall auf der Welt.
Obwohl die Europäische Union in ihrer neuen Fasson mit 450 Millionen Menschen mehr als doppelt soviel Einwohner wie die USA hat, ist sie nur halb so mächtig wie Amerika, wirtschaftlich wie militärisch betrachtet. Angesichts dieser Lage und unter Berücksichtigung des machtbesessenen Auftretens des Welthegemon in der Nahostpolitik, in der Irak-Frage und in anderen globalen Problemfeldern wie der ökologischen Zukunftssicherung sollte man von der EU erwarten, ihre Verstärkung durch Erweiterung auch für mehr Geschlossenheit im Handeln auf der weltpolitischen Bühne einzusetzen.
Davon ist aber bei den Proklamationen in den 25 Hauptstädten anläßlich der Feierlichkeiten zur EU-Erweiterung am 1. Mai keine Rede gewesen. Auch ein anderes Thema, von dem hierzulande Millionen von Bürgern betroffen sind, wurde in den deutschen Politiker-Reden, die aus diesem Anlass gehalten wurden, ausgespart: Dass die deutschen Ostgebiete und das Sudetenland, aus denen die deutsche Bevölkerung nach dem Krieg vertrieben wurde, wieder unter das gemeinsame Dach des europäischen Hauses zurückgekehrt sind.
Was bei der Rückkehr Mecklenburg-Vorpommerns, Brandenburgs, Sachsens, Thüringens und Sachsen-Anhalts in die Gemeinschaft der freien Völker Europas 1990 bejubelt wurde, war, zumindest in Deutschland, im Falle des Wiedereintritts Pommerns, Westpreußens, von Teilen Ostpreußens, Schlesiens und des Sudetenlandes in die Europäische Gemeinschaft mit einem Schweigegebot belegt.
Statt dessen gab es in den Monaten vorher von Polen und Tschechien ausgehende Ausbrüche eines übersteigerten Nationalismus, die zuweilen hysterische Züge annahmen. Stoßrichtung dieser Angriffe waren jene Deutschen, die nach Kriegsende aus ihren Heimatgebieten vertrieben worden waren. Auch wenn diese sich inzwischen mit ihrem Schicksal grosso modo abgefunden haben und in ihrer großen Mehrheit die Politik der Aussöhnung ge-genüber den ehemaligen Vertreiberstaaten mittragen, wollen sie die an ihnen praktizierte Politik der ethnischen Säuberungen, gerade auch als wegweisendes Mahnzeichen für die Zukunft, durch ein Denkmal gegen Vertreibungen geächtet sehen.
Die politische Führung Deutschlands, vom Außenminister über den Bundeskanzler bis zum Bundespräsidenten, sah sich in dieser Auseinandersetzung genötigt, dem wohlbegründeten Anliegen der eigenen Landsleute eine Absage zu erteilen und statt dessen Partei für die nationalistischen Stimmen der Gegenseite zu ergreifen. Besonders die Tschechen fühlten sich, sicher nicht zuletzt durch diese von der deutschen politischen Führungselite eingenommenen Haltung ermutigt, dem für die Austreibung der Sudetendeutschen hauptverantwortlichen ehemaligen Staatspräsidenten Benes postum eine nationale Ehrung zuteil werden zu lassen.
Auch vor dem Hintergrund der tragischen Verläufe der jüngeren europäischen Geschichte ist schwer zu verstehen, wie die Europäische Union mit derart entgegengesetzten Grundhaltungen jene innere Kräftigung erlangen soll, derer sie bedarf, um ihre nach innen gemeinschaftsbildende und nach außen friedenssichernde Rolle auf der weltpolitischen Bühne spielen zu können. Es ist offenbar noch ein hartes Stück Arbeit zu bewältigen, um die hier zum Ausdruck kommenden unvereinbaren Positionen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.
Vielleicht hilft es in dieser Lage weiter, durch den Pulverdampf des letzten Jahrhunderts in die ältere Vergangenheit zurückzublicken, um Anknüpfungspunkte für ein friedliches Miteinander als Basis einer europäischen Einigung, die diesen Namen auch wirklich verdient, zu finden. Nehmen wir die unbehelligte Nachbarschaft zwischen Polen und dem historischen Pommern, die vom Aufstieg des pommerschen Greifengeschlechts im 12. Jahrhundert bis zum Aus-bruch des Zweiten Weltkrieges eine erstaunliche Dauer von acht Jahrhunderten erreicht hat. Selbst als Pommern, an Umfang größer als die Niederlande, nach dem Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert zerteilt und verwüstet darniederlag, wurde es von seinem östlichen Nachbarn in Ruhe gelassen. Oder nehmen wir das 18. Jahrhundert, als Polen unter August dem Starken im Kondominium für einige Jahrzehnte von Sachsen aus regiert wurde. Oder nehmen wir das 19. Jahrhundert, als beim Hambacher Fest 1832 die polnischen und deutschen Nationalfarben einträchtig nebeneinander wehten, während Bürger aus beiden Ländern für freiheitliche Verfassungsrechte demonstrierten.
Wäre es angesichts dieser historischen Gemeinsamkeiten nicht an der Zeit, den kleinkarierten Zank im Geiste eines rückwärtsgewandten Nationalismus zu den Akten zu legen? Warum sollte zum Beispiel nicht die Deutsche Burschenschaft die Initiative ergreifen, um gemeinsam mit polnischen Studentenverbänden ein deutsch-polnisches Komitee einzuberufen, um eine gemeinsame Gedenkfeier anlässlich der 175jährigen Wiederkehr des Hambacher Festes im Jahre 2007 vorzubereiten, Zeit genug wäre dafür noch vorhanden. Zukunftsgerichtete emotionale Zeichen zu setzen wäre das eine, um Hitze aus der um das "Denkmal gegen Vertreibungen" entbrannten Debatte zu nehmen. Intellektuelle Redlichkeit unter den Disputanten wäre das andere. Auch sollte es im Geiste gemeinsamer christlicher Überlieferungen nicht zuviel verlangt sein, bei aller Heftigkeit des Streites das achte Gebot einzuhalten. Wer falsch Zeugnis wider seinen Nächsten redet und ihm böse Absichten unterstellt, die er gar nicht im Schilde führt, dessen Beitrag sollte in der öffentlichen Auseinandersetzung kein Gehör finden.
Bei Anlegung dieser einfachen Regeln käme schnell zum Vorschein, worum es bei der Sache tatsächlich geht. Jedenfalls nicht um materielle Dinge wie Grenzrevisionen, Regressansprüche auf Land oder Geld, wie nicht wenige polnische und tschechische Stimmen der deutschen Seite ankreiden wollen, auch wenn es tatsächlich eine kleine radikale Minderheit gibt, auf die diese Vorwürfe zutrifft, die aber selbst vom Bund der Vertriebenen nicht ernst genommen wird. Das Vertreibungsdenkmal steht für Wichtigeres: für immaterielle Werte wie menschliche Würde, kulturelle Identität und Gedenken der Opfer einer beispiellosen Barbarei. Kurzgesagt geht es um Werte, ohne deren Bewahrung der Aufbau einer Europäischen Union überhaupt keinen Sinn machen würde.
In diesem Zusammenhang spielt die alle Grenzen sprengende Dimension der Vertreibung der Deutschen aus ihren Heimatgebieten eine in der Diskussion bisher vernachlässigte Rolle. Man muss sich bei dieser erzwungenen Völkerwanderung von 15 Millionen Menschen, von denen 2,5 Millionen auf zum Teil brutale Weise ums Leben kamen, eine Größenordnung vorstellen, die der Entvölkerung ganz Schwedens und Dänemarks zu-sammen gleichkäme.
Denn mehrere gewaltige Vertreibungsbewegungen überlagern sich in diesem in der Geschichte beispiellosen Strom: die Austreibung der Deutsch-Böhmen aus ihrer jahrhundertealten Heimat, wobei daran erinnert sei, dass im mittelalterlichen Prag des 14. Jahrhunderts die erste deutschsprachige Universität gegründet wurde; sodann die ethnischen Säuberungen in ganz Südosteuropa, denen die dort seit urdenklichen Zeiten siedelnden deutschen Minderheiten zum Opfer fielen, darunter zum Beispiel die Banater Schwaben in Rumänien, von denen Außenminister Joschka Fischer abstammt; schließlich der bei weitem größte Strom aus den östlichen Reichsprovinzen, die wie Pommern auf 800 Jahre oder wie Schlesien auf 700 Jahre eigene Landesgeschichte zurückblicken und die an Fläche insgesamt ein Viertel des alten Reichsgebietes ausmachten. Erst mit der Wahrnehmung dieser Dimension der Vertreibung erlangt man ein Verständnis für die Motive, die BdV-Präsidentin Erika Steinbach und ihre Mitstreiter zu ihrem Projekt veranlassten.
Für Völkerpsychologie gilt wie für das zwischenmenschliche Miteinander, dass man den Bogen der Zumutungen nicht überspannen darf, wenn man Bedingungen für dauerhaft verträgliche Verhältnisse schaffen will. Gerade wenn beim Auf- und Ausbau der Europäischen Union ein belastbares Nachbarschaftsverhältnis zwischen Deutschland, Polen und Tschechien als im gemeinsamen Interesse liegend gesehen wird, sollte diese Politik von einer auf Gegenseitigkeit beruhenden Rücksichtnahme auf nationale Empfindungen bestimmt sein.
So ist im Unterschied zum deutsch-polnischen das deutsch-französische Verhältnis seit Kriegsende von diesem gegenseitigen Respekt vor der nationalen Identität und Integrität des jeweils anderen Partners bestimmt gewesen. Auch hat Frankreich nach dem Krieg weder Gebiets-ansprüche an Deutschland gestellt noch Bevölkerungsteile aus grenznahen deutschen Gebieten vertrieben. Das zunächst französisch besetzte Saarland wurde nach einer Volksabstimmung an Deutschland zurückgegeben.
Der Vorwurf der Polen und Tschechen, die Deutschen würden mit einer Gedenkstätte, die nur als Symbol der Befriedung gedacht werden kann, die Landkarte Europas verändern wollen, sollte sich eigentlich von selbst erledigen. Dagegen wäre viel gewonnen, wenn Polen und Tschechien die Übernahme der Ostgebiete und des Sudetenlandes von chauvinistischen Mythenbildungen in der Tradition des 19. Jahrhunderts entkleiden würden. Die Deutschen ihrerseits haben in Anerkennung ihres maßgeblichen Mitverschuldens am Ausbruch des Krieges jedem Anflug eines revisionistischen Nationalismus abgeschworden und zur völkerrechtlichen Sanktionierung der Grenzen alles zugestanden, was zuzugestehen war. Daran gibt es nichts zu rütteln. Daher gehen Versuche fehl, den Vertriebenen fragwürdige geschichtspolitische Begründungen für ihren Heimatverlust zumuten zu wollen.
Tatsächlich sind weder polnische Westgebiete noch ein urtschechisches Böhmen wieder zurückgewonnen worden. Auch hat es keine Westverschiebung Polens in dem Sinne gegeben, dass der polnische Staat auf seiner östlichen Seite nationales Territorium vergleichbarer Bedeutung an Russland verloren hätte, wie es das im Westen hinzugewonnen hat. Polen hatte diese östlichen Gebiete den Russen erst in dem in Vergessenheit geratenen polnisch-russischen Krieg von 1920/21 abgenommen, die Stalin sich im September 1939 wieder zurückholte. Die im öffentlichen Meinungsbild Polens vorherrschende Rechtfertigung dieses Grenzkrieges gegen Russland läuft im Grunde auf eine Solidarisierung Polens mit der Revisionspolitik Hitlers gegen den Versailler Vertrag hinaus. Schon von daher sollte man den Verlust dieser vorübergehenden Eroberungen an der polnischen Ostflanke, die von 1921 bis 1939, also nur für die Dauer von 18 Jahren Bestand hatten, nicht gegen Provinzen mit einer, wie im Fall Pommerns, 800jährigen Geschichte aufrechnen. Wobei ein wichtiger Punkt hinzukommt, der bei der Diskussion systematisch ausgeblendet wird, dass Okkupation von Land und Austreibung der Bevölkerung zwei grundverschiedene Dinge sind, deren Vermischung mit zum Kern des Vertreibungsproblems gehört.
Eine Heilung der noch schwelenden Vertreibungswunde sollte möglich sein, wenn Polen und Tschechien zugestehen, dass es sich bei der Vertreibung der Deutschen um Verbrechen ihrer ehemaligen Regime handelt, die mit nichts zu rechtfertigen sind. So wie Deutschland die unter dem nationalsozialistischen Regime begangenen Verbrechen auf sich genommen und als nicht zu rechtfertigende Schuldtat der damaligen Staatsgewalt eingestanden hat. Erst mit diesem beiderseitigen Zu-geständnis bekäme das umstrittene Denkmal jenen Symbolcharakter, der ihm von seinen Initiatoren zugedacht ist.
Seine heilende Wirkung wird es indessen erst entfalten, wenn es mit einem neuen Denken verbunden wird, das die Geschichtsmythen des 19. Jahrhunderts hinter sich lässt. Damit ist ein neuer Geist gemeint, der unverzichtbar ist, wenn die ganz normalen Alltagsprobleme einer Nachbarschaft im künftigen Haus Europa unbefangen angepackt werden sollen. Dann wird sich auch wie von selbst der Revanchismusvorwurf erledigen, wenn die 1945 aus ihrer angestammten Heimat Vertriebenen bei Anerkennung der bestehenden Grenzen eingeladen werden, zusammen mit den dort heute ansässigen Mitbürgern europäische Nachbarschaft zu pflegen. Das bedeutet, zu wohnen und zu leben wie dies heute für jeden Europäer unter Wahrnehmung des Grundrechts auf Freizügigkeit innerhalb der EU selbstverständlich ist.
Wenn sich die Politiker in Deutschland, Polen und Tschechien ein Beispiel an dem nehmen würden, was die Menschen vor Ort und an der Basis schon seit langem an konkreter Zusammenarbeit praktizieren, wären viele Probleme längst gelöst. Inzwischen ist mehr als eine Generation vergangen, seit die ostdeutschen Landsmannschaften begannen, Reisen ihrer Mitglieder in die ehemaligen Heimatgebiete zu organisieren. Daraus sind im Laufe der Jahre Tausende von Freundschaften mit den heute dort lebenden Menschen entstanden. Unter Federführung des Pommerschen Kreis- und Städtetages wurden diese Nachbarschaftsverhältnisse sogar auf die kommunale Ebene ausgeweitet. Man fragt sich, worin die Zurückhaltung der Politiker eigentlich begründet ist, dass aus dieser "real existierenden" Nachbarschaftspflege an der Basis endlich auch Konsequenzen für den alltäglichen Rechtsverkehr im zwi-schenstaatlichen Verhältnis, zumal unter dem jetzt gemeinsamen Dach der Europäischen Union, gezogen werden.
Je besser die heute in den ehemaligen deutschen Ostgebieten lebenden Menschen verstehen lernen, dass das alte Kulturerbe den aus ihrer Heimat vertriebenen Deutschen und ihren Nachkommen noch immer viel bedeutet, wird dies auch ihre Liebe zu dem Land fördern, in das sie vor über einem halben Jahrhundert als ebenfalls Vertriebene kamen. Und dann wird es ihnen auch nicht mehr schwerfallen, die im Lande verbliebene deutsche Minderheit als gleichberechtigte Partner zu achten und zurückkehrende oder neu zusiedelnde Deutsche als neue Nachbarn willkommen zu heißen. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten wäre dies im übrigen die beste Entwicklungshilfe, die man sich für diese Region überhaupt denken könnte.
Was wir also in der gegenwärtigen Auseinandersetzung statt eines hitzigen Streites um Vergangenes brauchen, sind Offenheit und Wahrheit und Respektierung des Grundrechts auf Freizügigkeit in den beiderseitigen Beziehungen. Sie eignen sich besser als Zeugen der angestrebten Verständigung und der inneren Kräftigung Europas als rückwärts gewandte Wegmarken wie Verdrängung, Mythenbildung oder Zuwanderungsfurcht.
erschienen in: "Nachrichtenblatt der Rostocker Obotriten"
November 2004