An der deutsch-polnischen Verständigung führt kein Weg vorbei

von Wolfgang Müller-Michaelis

Vor dem tragischen Hintergrund der jüngeren deutsch-polnischen Geschichte mag es verständlich erscheinen, dass die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern nach wie vor von massiven Vorurteilen bestimmt sind. Sinnvoll und vernünftig für die Gestaltung eines guten Nachbarschaftsverhältnisses in der erweiterten Europäischen Union ist die Art und Weise dieser Diskussion sicher nicht.

Vielleicht hilft es in dieser Lage weiter, durch den Pulverdampf des letzten Jahrhunderts in die ältere Vergangenheit zurückzublicken, um Anknüpfungspunkte für ein friedliches Miteinander zu finden. Nehmen wir die unbehelligte Nachbarschaft zwischen Polen und dem historischen Pommern, die vom Aufstieg des pommerschen Grei-fengeschlechts im 12. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges eine erstaunli-che Dauer von acht Jahrhunderten erreicht hat. Selbst als Pommern, an Umfang größer als die Niederlande, nach dem Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert verwüstet darniederlag, wurde es von seinem östlichen Nachbarn in Ruhe gelassen. Oder nehmen wir das 18. Jahrhundert, als Polen unter August dem Starken im Kondominium für einige Jahrzehnte von Dresden aus regiert wurde. Oder nehmen wir das 19. Jahrhundert, als beim Hambacher Fest 1832 die polnischen und deutschen Farben einträchtig nebeneinander wehten, während Bürger aus beiden Ländern für freiheitliche Verfassungsrechte demonstrierten. Wäre es angesichts dieser historischen Gemeinsamkeiten nicht an der Zeit, den kleinkarierten Zank im Geiste eines rückwärtsgewandten Nationalismus zu den Akten zu legen? Warum sollte man zum Beispiel nicht ein deutsch-polnisches Komitee einberufen, um eine gemeinsame Gedenkfeier anlässlich der 175jährigen Wiederkehr des Hambacher Festes im Jahre 2007 vorzubereiten. Zukunftsgerichtete emotionale Zeichen zu setzen wäre das eine, um Hitze aus der um das "Denkmal gegen Vertreibungen" ent-brannten Debatte zu nehmen. Intellektuelle Redlichkeit unter den Disputanten wäre das andere. Auch sollte es im Geiste gemeinsamer christlicher Überlieferungen nicht zuviel verlangt sein, bei aller Heftigkeit des Streites das achte Gebot einzuhalten. Wer falsch Zeugnis wider seinen Nächsten redet und ihm böse Absichten oder Missetaten unterstellt, die er gar nicht im Schilde führte oder begangen hat, dessen Beitrag sollte kein Gehör finden.

Bei Anlegung dieser einfachen Regeln käme schnell zum Vorschein, worum es bei der Sache tatsächlich geht. Jedenfalls nicht um materielle Dinge wie Grenzrevisionen, Ansprüche auf Land oder Geld, wie nicht wenige polnische und tschechische Stimmen der deutschen Seite ankreiden wollen. Das Vertreibungsdenkmal steht für Wichtigeres: für immaterielle Werte wie menschliche Würde, kulturelle Identität und Gedenken der Opfer einer beispiellosen Barbarei. Kurzgesagt geht es um Werte, ohne deren Bewahrung der Aufbau einer Europäischen Union überhaupt keinen Sinn machen würde.

In diesem Zusammenhang spielt die alle Grenzen sprengende Dimension der Vertreibung der Deutschen aus ihren Heimatgebieten eine in der Diskussion bisher vernachlässigte Rolle. Man muss sich bei dieser erzwungenen Völkerwanderung von 15 Millionen Menschen, von denen 2,5 Millionen auf zum Teil brutale Weise ums Leben kamen, eine Größenordnung vorstellen, die der Entvölkerung ganz Schwedens und Dänemarks zusammen gleichkäme. Denn mehrere gewaltige Vertreibungsbewegungen überlagern sich in diesem in der Geschichte beispiellosen Strom: die Austreibung der Deutsch-Böhmen aus ihrer jahrhundertealten Heimat, wobei zum Verständnis der Geschichtsunkundigen daran erinnert sei, dass im mittelalterlichen Prag des 14. Jahrhunderts die erste deutschsprachige Universität gegründet wurde; sodann die ethnischen Säuberungen in ganz Südosteuropa, denen die dort seit urdenklichen Zeiten siedelnden deutschen Minderheiten zum Opfer fielen, darunter zum Beispiel die Banater Schwaben in Rumänien, von denen Außenminister Joschka Fischer abstammt; schließlich der bei weitem größte Strom aus den östlichen Reichsprovinzen, die wie Pommern auf 800 Jahre oder wie Schlesien auf 700 Jahre eigener Landesgeschichte zurückblicken und die an Fläche insgesamt ein Viertel des alten Reichsgebietes ausmachten. Erst mit der Wahrnehmung dieser Dimension der Vertreibung erlangt man ein Verständnis für die Motive, die BdV-Präsidentin Erika Steinbach und ihre Mitstreiter zu ihrem Projekt veranlassten.

Einwendungen, die Deutschen würden mit einer Gedenkstätte, die nur als Symbol der Befriedung gedacht werden kann, die Landkarte Europas verändern wollen, sollten sich eigentlich von selbst erledigen. Viel wäre gewonnen, wenn Polen und Tschechien die Übernahme der Ostgebiete und des Sudetenlandes schlicht und einfach der Faktizität des Kriegsausganges zuschreiben würden. Die Deutschen ihrerseits haben im Hinblick auf ihr maßgebliches Mitverschulden am Ausbruch des Krieges zur völkerrechtlichen Sanktionierung der Grenzen alles zugestanden, was zuzugestehen war. Daran gibt es nichts mehr zu rütteln. Daher gehen Versuche fehl, den Vertriebenen zusätzliche geschichtspolitische Begründungen für ihren Heimatverlust zumuten zu wollen. Tatsächlich sind weder polnische Westgebiete noch ein ur-tschechisches Böhmen wieder zurückgewonnen worden. Auch hat es keine Westverschiebung Polens in dem Sinne gegeben, dass der polnische Staat auf seiner östlichen Seite nationales Territorium vergleichbarer Bedeutung an Russland verloren hätte, wie es das im Westen hinzugewonnen hat. Polen hatte diese östlichen Gebiete den Russen erst in dem in Vergessenheit geratenen polnisch-russischen Krieg von 1920/21 abgenommen, die Stalin sich im September 1939 wieder zurückholte. Und auch dies ist ein wichtiger Punkt: Okkupation von Land und Austreibung der Bevölkerung sind zwei grundverschiedene Dinge, deren Vermischung mit zum Kern des Vertreibungsproblems zählt.

Eine Heilung der noch schwelenden Vertreibungswunde sollte möglich sein, wenn Polen und Tschechien zugestehen, dass es sich dabei um Verbrechen handelt, die mit nichts zu rechtfertigen sind. Erst mit diesem Zugeständnis bekäme das Vertriebenendenkmal jenen Symbolcharakter, der ihm von seinen Initiatoren zugedacht ist. Seine heilende Wirkung wird es indessen erst entfalten, wenn es mit einem neuen Denken verbunden wird, das die Geschichtsmythen des 19. Jahrhunderts hinter sich lässt. Damit ist ein neuer Geist gemeint, der unverzichtbar ist, wenn die ganz normalen Alltagsprobleme einer Nachbarschaft im künftigen Haus Europa unbefangen angepackt werden sollen. Dann wird sich auch wie von selbst der Revanchismusvorwurf erledigen, wenn die 1945 aus ihrer angestammten Heimat Vertriebenen bei Anerkennung der bestehenden Grenzen eingeladen werden, zusammen mit den dort ansässigen polnischen Mitbürgern europäische Nachbarschaft zu pflegen. Das bedeutet, zu wohnen und zu leben wie dies heute für jeden Europäer unter Wahrnehmung des Grundrechts auf Freizügigkeit innerhalb der EU selbstverständlich ist. Wobei anzumerken bleibt, dass nach Lage der Dinge deutsche Bürger diese Möglichkeit wohl nur begrenzt nutzen würden.

Was wir in der gegenwärtigen Auseinandersetzung statt eines hitzigen Streites um Vergangenes brauchen, sind Offenheit und Wahrheit und Respektierung des Grundrechts auf Freizügigkeit in den beiderseitigen Beziehungen. Sie eignen sich besser als Zeugen der angestrebten Verständigung als rückwärts gewandte Wegmarken wie Verdrängung, Mythenbildung oder Zuwanderungsfurcht.

Der Autor war langjähriger Vorsitzender des Pommerschen Zentralverbandes, Miterbauer des Pommernzentrums mit Ostsee Akademie und Versöhnungskirche in Lübeck-Travemünde und bis zum Jahr 2000 Sprecher der Pommerschen Landsmannschaft

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Oktober 2003