Helmut Schmidt in Dresden
Altbundeskanzler Helmut Schmidt war am letzten Sonntag im Februar des Jahres als Gast in die sächsische Metropole gekommen. Wer sich angesichts der entstandenen Schönheit der Stadt an ihre tragische Zerstörung von vor genau sechzig Jahren erinnert, dem drängt sich doch ein wenig die Wahrnehmung eines „real existierenden“ Wunders auf. Dieses Spannungsverhältnis von Niedergang und Wiederaufstieg war es wohl auch, das die Menschen an diesem Sonntagmorgen dazu antrieb, einem der Erbauer des modernen Deutschlands bei seiner „Dresdner Rede“ zuzuhören. Die Begrüßung Helmut Schmidts im mit 1.100 Besuchern überfüllten Staatsschauspiel durch den Hausherrn Folk Freytag galt zunächst dem genius loci folgend weniger dem Staatsmann als vielmehr dem Kunstliebhaber, praktizierenden Künstler und Literaten Helmut Schmidt. Einen Bundeskanzler, der öffentlich Mozart spielen kann, stellte Freytag fest, hat es vor Helmut Schmidt nicht gegeben und mittelfristig sei auch keiner in Sicht.
Auch der Politikchef der Sächsischen Zeitung, Dieter Schütz, machte seine Laudatio auf den berühmten Gast nicht ausschließlich an dessen politischem Lebenswerk fest. Er hob die große Popularität Helmut Schmidts hervor, der mit dem Aufkommen des Farbfernsehens zu seiner aktiven Zeit zum ersten Medienkanzler Deutschlands geworden sei. Die Bedeutung von Presse und Fernsehen sei ihm stets bewusst gewesen, obwohl er – oder gerade darum – seinerzeit einen fernsehfreien Tag gefordert hatte. Der Altkanzler sollte diesen Hinweis am Beginn seiner Rede mit einer launigen Bemerkung aufgreifen. Ihm sei es natürlich nicht um einen Angriff auf die Pressefreiheit, sondern um Jugendschutz und Familienpolitik gegangen. Es sollte an einem Tag der Woche zuhause nur mal der Stecker herausgezogen und das Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel herausgeholt werden. Die Einführung des Gastredners vor dem Dresdner Publikum geriet zu einer Würdigung des Staatsmannes wie des Menschen Helmut Schmidt, dessen Politikverständnis von den moralischen Eckpfeilern getragen sei, die Dinge stets zugleich mit Herz und mit Verstand anzugehen.
Im Sinne dieser pragmatischen Hinwendung zu den akuten Nöten der Menschen sei auch seine Kritik an der wirtschaftlichen Wiedervereinigung zu sehen. So hätte die vom Altkanzler vorgeschlagene Halbierung des Mehrwertsteuersatzes und eine vorübergehende Aussetzung der Anwendung westdeutscher Verwaltungsvorschriften im Wirtschaftsraum der alten DDR wahrscheinlich auf Dauer mehr für die Angleichung der Lebensbedingungen gebracht als die jährlich von West nach Ost fließenden Transferleistungen von 85 Milliarden Euro. Helmut Schmidt nahm diesen Faden in seiner Rede auf, die zwar vornehmlich seiner Einschätzung der „Weltpolitik im Laufe der nächsten zwanzig Jahre“ gewidmet war, aber an diesem Ort und zu dieser Zeit die ungelösten deutsch-deutschen Probleme gar nicht ausklammern konnte und wollte. Er vermittelte seiner Zuhörern ein Verständnis für den engen Zusammenhang zwischen der finanziellen Dauerlast der Transferleistungen und dem Umstand, dass Deutschland bei Wirtschaftswachstum und Beschäftigung in Europa die rote Laterne trage. Immerhin entspreche diese Summer vier Prozent des deutschen Sozialprodukts, in etwa dieselbe Größenordnung wie der Verteidigungshaushalt der USA während des Irakkrieges.
Der Irakkrieg und seine Folgen für das transatlantische Verhältnis war ein Thema, bei dem das Publikum besonders aufmerksam zuhörte. Der Redner machte keinen Hehl aus seiner Gegenposition zur Kriegspolitik der Bush-Regierung. Das ändere nichts an seiner Bewunderung für jenes Amerika, dem Europa und Deutschland unendlich viel zu verdanken hätten. Auch müsse man nüchtern sehen, dass es mit der Hegemonie der USA bis auf weiteres zu leben gelte. Aber im Umgang mit der letzten Weltmacht würde den Europäern etwas mehr Selbstbewusstsein und Würde nicht schlecht zu Gesicht stehen. „Im beiderseitigen Interesse“, wie er hinzufügte und plastisch ergänzte: „Die USA können allein fast jeden Krieg gewinnen – aber nicht allein Stabilität herbeiführen. Das bilden sie sich seit dem Bush-Besuch der letzten Woche auch nicht mehr länger ein.“
Die europäische Sicht der Dinge sei, dass der Kampf gegen den Terrorismus nicht in der Respektlosigkeit gegenüber der Kultur des Islam mit seinen 1,2 Milliarden Menschen ausarten dürfe. Das gelte um so mehr, als man die Möglichkeit eines Zusammenstoßes zwischen dem Westen und dem Islam heute nicht mehr ganz ausschließen könne. Auslöser könnten nicht nur fanatische Sekten oder der Terror von al-Quaida, sondern auch unkluge Reaktionen beteiligter Regierungen sein. Politisches Handeln auf diesem Felde müsse stets die Abhängigkeit der Welt vom Rohöl einiger weniger Islam-geprägter Staaten in Rechnung stellen. Käme es zu einem größeren Konflikt, wäre eine massive Wirtschaftskrise absehbar. Worauf sich die Europäer einzustellen hätten, sei das Erstarken von Weltmarktkonkurrenten in Asien. Allen voran das rasante Wachstum Chinas zur Wirtschaftsmacht, mit einigem Abstand auch Indiens. In jedem Satz schwingt das neue unabwendbare Gewicht der Globalisierung mit, das die Handels- und Finanzströme immer deutlicher und dynamischer bestimme. Helmut Schmidt hat China im Verlauf von dreißig Jahren fünfzehnmal besucht. „Die Chinesen haben denselben Intelligenzquotienten wie ihr in Sachsen und wir in Hamburg“, sagte der Altkanzler, um aber gleich zur Sache kommen: „Sie sind fleißiger als wir und arbeiten länger.“
Damit schließt sich der Kreis der Weltbetrachtung genau an jenem Punkt, an dem unsere eigenen Hausaufgaben offen liegen. „Kann Deutschland seine Leistungsfähigkeit und Erfindungsgabe zurückgewinnen?“ Wenn wir den Verlust an Vitalität bei uns und im übrigen Europa, vor allem durch Überalterung und Überregulierung der Gesellschaft, durch taktische Manöver weiter zu verdrängen versuchen, haben wir ein Problem. Die Dresdner dankten stehend mit lang anhaltendem Beifall.
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erschienen in: Almanach des 'Verein zur Förderung der Deutschen Nationalstiftung' Ausgabe 4, April 2005