Wolfgang Müller-Michaelis

Neuerscheinung 2006 (in Vorbereitung)

Wege aus der Krise
Ein Beitrag zur AGENDA ARBEIT 21
  
  Worum es geht

"Stellt Euch vor, wir bewegen uns in dem Bewusstsein auf den Abgrund zu, es erwarte uns wie all die Jahre zuvor das Tal der Sommerfrische."

Muss man sich so die Lage in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts, durch die ökonomische Röntgenbrille betrachtet, vorstellen? Sicher wäre das arg überspitzt. Aber Problemverdrängung, die in einem bemerkenswerten Realitätsverlust und in einem tiefsitzenden Wahrnehmungsphlegma begründet ist, dürfte als Befund zur Beschreibung der Bewusstseinslage nicht übertrieben sein, aus der heraus in Deutschland seit geraumer Zeit Politik gemacht wird.

Obgleich unser Land im Verlauf seiner langen Kultur- und Technikgeschichte immer zu den Vorreitern in Innovation und Entwicklung gehörte, lassen wir uns heute (im Unterschied zu manchen unserer reaktionsschnellen kleineren Nachbarn) von dem Irrtum leiten, Wirtschaft und Gesellschaft seien im Grunde noch immer Strukturen verhaftet, wie sie vor 125 Jahren bestanden. Damals zu Beginn des Industriezeitalters wurde unter Bismarck die in ihren Grundzügen bis heute geltende Sozialgesetzgebung eingeführt.

Wie die Schildbürger wundern wir uns darüber, dass wir mit der Anwendung von Regelwerken aus längst vergangenen Zeiten die Dinge unserer nachindustriellen Gegenwart nicht mehr in den Griff bekommen. Die Lösung liegt auf der Hand: Nicht wundern, sondern aufwachen. Wir werden unserer Probleme nicht Herr, wenn wir fortfahren, sie durch die Schablonen überholter Dogmen zu betrachten, sondern so, wie sie in "Echtzeit" hier und heute wirklich sind.

Die spannende Geschichte der AGENDA ARBEIT 21 beginnt mit dem 18. September 2005, 18:00 Uhr. Das Spektakuläre des Ausgangs der Bundestagswahl lag in einem eher unspektakulären Patt. Ein klares Votum für eines der beiden politischen Lager, bei den überfälligen Reformen unserer Sozialsysteme das Heft des Handelns alleinverantwortlich in die Hand zu bekommen, wurde vom Wähler nicht vergeben. Es schallt eben, so eine alte Volksweisheit, aus dem Walde heraus, wie man in ihn hineinruft. Zögerliches Taktieren und Tabuisieren in Kernfragen unserer Misere, die über weite Strecken die Wahlkampfführung bei der Union wie bei den Sozialdemokraten bestimmten, wurde vom Wähler „Eins zu Eins“ quittiert.

Während die Union darauf bedacht war, zukunftsweisende Themen des beim Düsseldorfer Parteitag 2004 erarbeiteten Manifestes „Wachstum – Arbeit – Wohlstand“ aus dem öffentlichen Disput herauszuhalten, um statt dessen kurz vor Toresschluss mit widersprüchlichen Steuerkonzepten Verwirrung zu stiften, tat die SPD auf ihre Art desgleichen. So erweckten Gerhard Schröder und seine Mannschaft zeitweilig den Eindruck, die Nation müsse in eine Abwehrschlacht gegen die Ziele der von ihnen selbst auf den Weg gebrachten Agenda 2010 geführt werden. Im Aufflackern der Ergebnissäulen auf den Bildschirmen am Wahlabend spiegelte sich auf diese Weise jene Unschlüssigkeit beider Wahlkontrahenten wider, die von der großen Mehrheit der Bürger mit Ratlosigkeit beantwortet worden war.

Dass die von beiden Volksparteien eingeforderte Bekundung von Vertrauen in die zu wählende politische Führung wie das Horneberger Schießen endete, war unter diesen Umständen nicht verwunderlich. Wichtiger war, welche Schlüsse Union und SPD daraus ziehen würden, dass sie vom Wähler eine strategische Entscheidung verlangten, während sie selbst sich bei ihren angebotenen Entscheidungshilfen auf taktische Manöver zurückzogen. SPD und CDU/CSU haben das politische Patt und damit eine zu befürchtende Verstetigung der Reformblockade herbeigeführt, weil sie sich, jeder auf seine Weise, unter Wert verkauft haben. Wer in kampfentscheidender Situation seine Pfeile im Köcher behält, darf sich nicht wundern, wenn er keine Treffer landet.

Weder die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf der einen noch die Verteidigung des Kündigungsschutzes auf der anderen Seite waren geeignete Strategien, Deutschland aus der tiefsten Krise seiner Nachkriegsgeschichte zu führen. Worum es geht, ist eine Strukturreform unserer Sozialsysteme an Haupt und Gliedern, zu der mit diesem Buch ein Beitrag geleistet werden soll. Auch wenn viel zu lange viel zu viel falsch gelaufen ist in diesem Land, guter Rat kommt nie zu spät. Und Einsicht ist der erste Weg zur Besserung.

Scheitern der Agenda 2010

Als die Regierung Schröder nach der zweiten gewonnenen Bundestagswahl ihr Reformprogramm Agenda 2010 auflegte, konnte sie sich nicht nur des Beifalls in den eigenen Reihen, sondern auch des Zuspruchs einer breiten Öffentlichkeit erfreuen. Hatte doch erstmalig in der deutschen Nachkriegsgeschichte eine Regierung den Mut aufgebracht, das Wählervolk mit der ungeschminkten Wahrheit zu konfrontieren, dass der Sozialstaat an seine Grenzen gestoßen war.

Auch wenn nicht überall, vor allem nicht im altlinken Politspektrum, begriffen wurde, dass der neue Reformansatz auf die strukturellen Umbrüche in Wirtschaft und Gesellschaft zielte und statt dem Abbau der Anpassung sozialer Sicherheit auf neue Standards galt, lag gerade in dieser Positionsbestimmung der Grund für ihre lagerübergreifend positive Bewertung. Respekt und Anerkennung für das Reformvorhaben in weiten Teilen der Wirtschaft und bei der Rechten waren zudem von dem Bewusstsein getragen, dass die Initialzündung nur von einer Mitte-Links-Regierung mit Aussicht auf Erfolg zu leisten war.

Auch die abgesteckten Grundziele der Reform fanden breite Zustimmung. Problembewusst waren die neuralgischen Politikfelder gebündelt worden, auf denen eine Wende zum Besseren ingangzusetzen war: auf dem Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen, im Gesundheits- wie im Bildungswesen, in der Alterssicherung und in der Steuerpolitik. Entsprechend groß war die Zuversicht, dass es mit Hilfe dieses kompakten Reformpaketes gelingen würde, ein positives Wählervotum für eine dritte Amtsperiode zu erringen. Was war geschehen, dass das genaue Gegenteil von dem eingetreten ist, was die rot-grüne Bundesregierung mit ihrem Programm herbeizuführen erhoffte?

„Deutschland ist eine Wissensgesellschaft, die eigentlich nichts wissen will, und eine Risikogesellschaft, die das Wagnis moralisch tabuisiert.“ Gibt dieser Satz von Volker Gerhardt, Philosophieprofessor an der Berliner Humboldt-Universität eine erste Antwort auf die Frage nach dem Scheitern der Agenda 2010?

Tatsächlich sind im Geleitzug mit dem bekundeten Reformwillen der Regierung Schröder und der grundsätzlichen Bereitschaft großer Teile des Wählervolkes, eine Anpassung der Sozialsysteme an die veränderten Verhältnisse mitzutragen, Gegenkräfte zur Wirksamkeit gelangt, die den Reformvorstoß, kaum dass er sich entfalten konnte, zur Implosion brachten. Der erste Widerhaken bildete sich aus dem Kreis jener, denen die Umsetzung der Reformschritte zu ungleichgewichtig zu Lasten unterprivilegierter Gruppen erschien.

Wäre es dabei nur um den Unmut der unmittelbar Betroffenen gegangen, die sich um ihre vermeintlich unantastbaren Sozialleistungsansprüche gebracht sahen, hätte das den Lauf der Geschichte kaum aufhalten können. Nachdem sich aber aus der linken Protestbewegung eine politische Partei zu formieren begann, die es in Meinungsumfragen aus dem Stand auf ein Wählerpotential von über zehn Prozent brachte, war klar, dass damit das rot-grüne Reformprojekt unversehens gegen die Wand gefahren war.

Dass das Prädikat „gut gemeint“ nicht automatisch mit „gut gemacht“ gleichzusetzen ist, müssen auch jene einräumen, die, ohne Sympathisanten der neuen Linkspartei zu sein, die administrative Umsetzung der damaligen Reformziele kritisch unter die Lupe nehmen. Die undifferenzierte Behandlung von Arbeitslosen, seien sie Facharbeiter und Akademiker einerseits oder Ungelernte andererseits; die Zumutung einer auf ein Jahr begrenzten Versicherungsleistung, für die ein Arbeitsleben lang Beiträge einzuzahlen waren; die staatliche Nötigung gegenüber Bürgern, ihre Altersvorsorge aufzulösen, um ihre vorübergehende Arbeitslosigkeit zu überbrücken; die unzutreffende Unterstellung, dass es nicht genügend geringfügige Beschäftigungsverhältnisse gäbe, die Ungelernten mit großzügig bemessenen Unterstützungsleistungen den Anreiz nahm, Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt aufzunehmen – alles dies waren keine Ruhmestaten eines Reformwerks, das unter dem Motto stand, das moderne Deutschland schaffen zu wollen.

So erwies sich als eigentlicher Auslöser des Reformversagens die Regierung selbst, indem sie sich beim Verfolgen ihrer unbestritten guten Absichten in einem Netz kontraproduktiver Regulierungen verfangen hatte.

Neue Weichenstellung – in welche Richtung?

Die Einsicht, dass etwas fehlgelaufen war, die schließlich zum Misstrauensantrag des Bundeskanzlers im Parlament und in der Folge zu dessen Auflösung durch den Bundespräsidenten führte, war das eine. Die Erkenntnis, was die Fehlentwicklung im Kern verursacht hatte, und in welche Richtung die Weichenstellung vorzunehmen war, um eine Kurskorrektur in Gang zu setzen, war das andere. Dabei stellte sich die Frage, ob sich die Lage in der Wirtschaft, auf dem Arbeitsmarkt, in den sozialen Sicherungssystemen und bei den Staatsfinanzen trotz oder wegen der Reformmaßnahmen noch weiter verschlechtert hatte, als sie es vor deren Einleitung bereits gewesen war.

Denn schließlich war Deutschland nicht allein den epochalen Herausforderungen ausgesetzt, die mit Globalisierung, digitaler Revolution und demografischen Umbrüchen die gesellschaftlichen Verhältnisse durcheinandergewirbelt haben. Den meisten, vor allem den kleineren unserer Nachbarn in Europa und vielen unserer Handelspartner in aller Welt war es immerhin gelungen, sich diesen Umwälzungen mit vorzeigbaren Erfolgen politischer Neuorientierung anzupassen.

Im Unterschied zu uns prosperieren etliche von ihnen so sehr, dass sie in den Grenzregionen, sei es gen Westen in Holland, sei es gen Süden in Österreich und selbst gen Osten in Polen zu Auffangbecken deutscher Arbeitssuchender geworden sind, die dort jene Jobs gefunden haben, die ihnen durch das hiesige Arbeitsmarktregime verwehrt sind. Das legt die Vermutung nahe, dass das Versagen der Reformpolitik nicht allein in der Wahl einer falschen Methode sondern in ihrem verfehlten ordnungspolitischen Ansatz im Ganzen lag.

Wie anders wäre zu erklären, dass unsere erfolgreichen Nachbarn mit ihren Konzepten nicht nur die Unterbeschäftigung besser in den Griff bekommen, sondern Deutschland auch aus seinen klassischen Führungspositionen beim Wirtschaftswachstum, in der sozialen Sicherung, bei der Konsolidierung der Staatsfinanzen und nicht zuletzt im Bildungswesen verdrängt haben.

Könnte der Grund dafür in ihrer Einsicht liegen, dass viele Vorstellungen von der Ordnung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, die früher einmal galten, auf die Wirklichkeit nicht mehr anwendbar sind, in der wir heute leben? Offenkundig ist jedenfalls, dass nicht nur weite Teile der Sozialgesetzgebung sondern auch das Arbeits- und Tarifrecht, das Planungs- und Baurecht sowie das Steuerrecht in ihren Grundzügen einem Regulierungsbedarf von Wirtschaft und Gesellschaft entstammen, der längst der Geschichte angehört. Die darauf beruhenden, von den Umbrüchen der Zeit überholten Politiksysteme unbeschadet ihrer erwiesenen Passunfähigkeit einfach beizubehalten, könnte demnach eine Erklärung des Misserfolgs sein.

Tatsächlich belegt eine Analyse der Konzepte, die in den uns umgebenden Reformländern zum Zuge kamen, dass es überall eine ordnungspolitische Kehrtwende war, die den Ausschlag für eine Besserung der Lage gegeben hatte. Durchweg hat, wie die Beispiele Hollands oder Österreichs, Dänemarks oder Finnlands, Polens oder der baltischen Staaten zeigen, der Abschied von staatswirtschaftlichen Regulierungen den Weg zu haushaltsneutralen Lösungen geöffnet. Dadurch konnte der fatale Dauerrückgriff auf die Staatsfinanzen vermieden werden, der zum eigentlichen Handicap der deutschen Reformpolitik geworden war.

Stopp der Staatsverschuldung

Dieser konzeptionelle Quantensprung hat als Erfolgsrezept unserer Nachbarn in den Programmen weder der alten noch der neuen Regierungsparteien Niederschlag gefunden. Als bezeichnend für dieses Wahrnehmungsphlegma in Sachen ordnungspolitischer Wegweisung mag in diesem Zusammenhang die mangelnde Publizität gelten, die Bundespräsident Horst Köhler mit Kernaussagen seiner Berliner Rede zur „Ordnung der Freiheit“ vom März 2005 zuteil wurde. So hatte er davon gesprochen, dass eine Reform unseres Steuer- und Sozialsystems an Finanzfragen nicht scheitern müsse. Da man angesichts der galoppierenden deutschen Staatsverschuldung ausschließen kann, dass er mit diesem Hinweis die ausreichende Verfügbarkeit finanzieller Mittel hätte andeuten wollen, konnten nicht Euro-Milliarden gemeint sein, mit denen die Krise allein zu bewältigen sei.

Der aktuelle nationale Schuldenstand in Höhe von 1,5 Billionen Euro und die Anwartschaften in den Sozialversicherungen in Höhe von 5,8 Billionen Euro belaufen sich auf insgesamt 7,3 Billionen Euro. Das entspricht 330 Prozent des Sozialprodukts der deutschen Volkswirtschaft, der drittgrößten der Welt. Machen wir uns wirklich klar, fragt der Bundespräsident, welche Erblast das für unsere Kinder und Enkel bedeutet? Mit dem Anhäufen dieser Zukunftslasten bedenkenlos fortzufahren, hieße doch nichts weiter, als unter uns heute Lebenden jene Ernte im Vorwege zu verteilen, die sich nachfolgende Generationen erst bemühen müssen, in die Scheuern einzufahren.

Angesichts der unübersehbaren Gebirge ungelöster Probleme in unserer Gesellschaft, die ökonomisch betrachtet ungetane Arbeit bedeuten, verfügen wir statt dessen tatsächlich noch immer über einen beträchtlichen Vorrat an Möglichkeiten, dieser Abwärtsspirale auf anderem Wege Einhalt zu gebieten. Vor allem, wenn wir uns dabei den Erkenntnisvorsprung zunutze machen, den uns unsere Nachbarn bei ihren erfolgreichen Reformbemühungen voraus haben.

Sie haben offenbar früher als wir erkannt, dass das schleichende Gewährenlassen des Anwachsens der Staatsschuld einem Aufladen moralischer Schuld durch Unterlassen gleichkommt. Das Abstellen des Schuldenmotors erschien ihnen in einem höheren Sinne sozialer als ihn stur einfach weiterlaufen zu lassen. Zumal absehbar ist, dass das weitere Rotierenlassen der Schulden- und Schuldspirale eine sich selbst nährende Dynamik in Richtung weiterer Eskalation der Misere in sich birgt. Wir verzichten mit der Beibehaltung dieses Weges, der vor allem Ausdruck einer verfehlten Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist, nicht nur auf die Produktivität der fünf bis sechs Millionen Arbeitslosen in unserer volkswirtschaftlichen Wertschöpfungsbilanz. Aus dem reduzierten Aufkommen muss auch deren Versorgung sichergestellt werden. Es sind jene Mittel, die für Zukunftsinvestitionen in Aufschwung und Beschäftigung fehlen.

Welche Chancen haben wir?

In einer solchen Lage kommt der Rat des Kirchenlehrers Thomas von Aquin aus dem 13. Jahrhundert wie gerufen: Gott gebe uns den Mut, die Dinge zu ändern, die wir ändern können. Er gebe uns die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können. Und er schenke uns die Weisheit, das eine von dem anderen zu unterscheiden.

Was wir nicht ändern können, sind die weltweit wirkenden Kräfte der Globalisierung, die auf Neuverteilung des Welteinkommens von den reichen Ländern des Westens zu den aufstrebenden Regionen Asiens gerichtet sind. Auch sind wir einem Rückgang unserer Bevölkerung bei zunehmender Alterung ausgeliefert, was zu einer Überbeanspruchung unserer Sozialsysteme führt. Die Sonderlasten der Wiedervereinigung sind uns schließlich von der Geschichte ebenso auferlegt, wie es der Mangel an Kapital ist, den andere Nationen, die keine Niederlagen in zwei aufeinanderfolgenden Weltkriegen zu verkraften hatten, nicht kennen.

Was wir aber tun und dadurch die uns auferlegten Lasten erträglicher gestalten können, ist, eine Reihe von machbaren Projekten in Angriff zu nehmen, die im Sinne von Horst Köhler den Vorzug haben, nicht wirklich teuer zu sein. Sie kosten allerdings den Mut, die Dinge, die es zu bewältigen gilt, mit jenem neuen Denken anzugehen, das in unserer Nachbarschaft vielfach dazu beigetragen hat, die Dinge tatsächlich zum Besseren zu wenden. Dazu gehört, worüber im Grunde weitgehendes Einvernehmen besteht, dass wir uns von den zu hohen Steuer- und Abgabenlasten befreien, zusätzlich die im Wettbewerb zu hohen Arbeitskosten durch zumindest Teilabbau der Lohnnebenkosten senken und schließlich das veraltete Arbeits- und Tarifrecht den grundlegend veränderten Verhältnissen anpassen, um auf diese Weise die Unterbeschäftigung von Millionen arbeitsbereiter Mitbürger auf ein erträgliches Maß zurückzuführen. Mit diesem überschaubaren Bündel an Maßnahmen könnte dem grassierenden Verlust an Vertrauen in die politische Führung und in Politik schlechthin unter einer alles entscheidenden Bedingung Einhalt geboten werden: dass dieses Reformwerk von einer ordnungspolitischen Idee getragen ist, die den Anforderungen der Zeit auch wirklich gerecht wird.

Rückbesinnung auf alte Stärken

Dabei geht es nicht, wie uns die Verfechter überholter Dogmen glauben machen wollen, um das Ausspielen neoliberaler Rezepte gegen das Postulat sozialer Gerechtigkeit. In dem im Frühjahr 2005 erneut entfachten Streit um die Rolle des Kapitals in der modernen Wirtschaftsgesellschaft war ablesbar, wie sehr im Denken selbst führender Repräsentanten der Politik die alten Ideologien des Klassenkampfes aus dem 19. Jahrhundert noch immer lebendig sind. Das Propagieren von Kapitalfeindlichkeit in einer Krisensituation, deren Verursachung nicht zuletzt auf strukturellem Kapitalmangel beruht, geht an den Nerv der Reformfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland.

Diese Rituale ideologischer Grabenkämpfe im Stil längst vergangener Zeiten sind eines Landes nicht würdig, das mit der Sozialen Marktwirtschaft noch immer ein beispielgebendes Modell moderner Sozialpartnerschaft vorzuweisen hat. Was hindert uns eigentlich daran, in Rückbesinnung auf alte Stärken die Kraft für einen Politikansatz zu gewinnen, der lagerübergreifend und undogmatisch den Problemen zu Leibe rückt, die uns bedrängen?

Wenn wir uns erinnern, beruhte das Erfolgsmodell des Wiederaufstiegs Deutschlands nach dem totalen Zusammenbruch zu einer der führenden Wirtschaftsmächte der Welt auf einer einzigartigen Gemeinschaftsleistung. Sie wurde unter kluger politischer Führung im Zusammenwirken aller sozialen Gruppen erbracht. Die politischen Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die Regierungen in Bund und Ländern, Handwerk und Mittelstand, Landwirtschaft und Industrie sowie Wissenschaft und Forschung, führende Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Finanzwelt, aus Bundesbehörden, gemeinnützigen Organisationen und Sozialversicherungsträgern, Repräsentanten der Kirchen, des kulturellen Lebens, der Justiz und der Bundeswehr, sie alle haben im Verein mit einer leistungsbewussten Arbeitnehmerschaft ihren Teil zum weltweit bewunderten deutschen Wiederaufbau beigetragen. Solidarisches Einvernehmen und gegenseitige Anerkennung der Beiträge der einzelnen Gruppen zum Ganzen spielten beim Gelingen dieses Gemeinschaftswerkes eine entscheidende Rolle. Die konstitutionellen Formen, die dem Zusammenspiel der Sozialpartner unterlegt wurden, sorgten für den dauerhaften Bestand dieses Erfolgsmodells über ein halbes Jahrhundert hinweg.

Nicht nur in Deutschland, in allen Industrieländern, die ihren Wohlstand dem beherrschenden Beitrag industrieller Wertschöpfung verdankten, ist dieser Anteil inzwischen auf ein Viertel des Sozialprodukts zurückgegangen. Längst sichern wissensbasierte Dienstleistungen als wachstumsträchtige Kernbereiche der mittelständischen Wirtschaft das Gros von Massenbeschäftigung und Volkseinkommen auch hierzulande.

Wenn wir uns auf dem Weg zur wissensbasierten Dienstleistungsökonomie in einem seit Jahrzehnten in allen Industrieländern ablaufenden sektoralen Strukturwandel befinden, heißt es dazu in einer zentralen Botschaft des Jahresgutachtens 2004/2005 des Sachverständigenrats, so ist die im Vergleich zu anderen Ländern hohe Arbeitslosigkeit auch als Indiz dafür zu werten, dass es Deutschland schlechter als anderen Ländern gelungen ist, die hierdurch hervorgerufenen Anpassungsnotwendigkeiten auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu bewältigen. Angesichts der grundlegend veränderten Wirtschaftswelt haben daher Arbeits- und Tarifrecht, die einst zur Regelung industriewirtschaftlicher Abläufe geschaffen wurden, in ihrer geltenden Fassung die Passfähigkeit für die Gestaltung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse weitgehend verloren. Das haben im Unterschied zur politischen Klasse in Deutschland die Reformländer um uns herum frühzeitig erkannt und daraus ihre Konsequenzen gezogen.

Grundbedingung für den Erfolg der Arbeitsmarktreform sollte daher auch bei uns sein, dass die großen politischen Lager und Tarifparteien im gegenseitigen Respekt vor dem Beitrag, den beide Seiten einst zum gedeihlichen Miteinander geleistet haben, auf den Weg einer konstruktiven Partnerschaft zurückzufinden, nachdem die Zusammenarbeit auf vielen Arbeitsebenen „vor Ort“ unverändert reibungslos verläuft. Worauf es heute ankommt ist, der nachwachsenden Generation, den Schülern, Studenten und Auszubildenden zur Überwindung der verfahrenen Situation ein Signal der Zuversicht zu geben. Denn es geht bei der Gestaltung unserer zukünftigen sozialen Verhältnisse nicht allein um die Modernisierung des Arbeitsrechts. Es geht weit mehr um die mentale Verfassung junger Leute beim Einschätzen ihrer Zukunftschancen. Ihre Vorstellungen von Werten, die über Job und Einkommen hinausreichen, wie Gemeinsinn und Familiengründung sind es, die sich für den Erfolg oder das Misslingen der aktuellen Reformbemühungen als maßgebend erweisen werden. Zur Brücke gemeinsamen Handelns könnte die Einsicht gereichen, dass der Umbau der Sozialsysteme und des Tarifrechts zur Sicherung erkämpfter gesellschaftlicher Standards und Arbeitnehmerrechte unumgänglich wird, wenn tatsächlicher Sozialabbau und Staatsbankrott vermieden und Massenarbeitslosigkeit überwunden werden sollen.

Ordnungspolitik „aus einem Guss“

Der entscheidende ordnungspolitische Schwenk der neuen Reformpolitik besteht darin, die einzelnen Reformfelder der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, des Bildungs- und Gesundheitswesens, der Alterssicherung und des Steuersystems statt wie bisher isoliert voneinander im konzeptionellen Verbund miteinander anzugehen. Mit diesem Reformansatz „aus einem Guss“ wird die Idee des Sozialen Marktes, die Deutschland einst für das Management der Wirtschaft erfunden hatte, zur Ordnungskraft auch der übrigen gesellschaftlichen Bereiche, in denen die staatswirtschaftlichen Regulierungssysteme mangels finanzieller Manövriermasse an die Grenze ihrer Wirksamkeit gestoßen sind. Jenseits staatsschuldtreibender Beanspruchung leerer Haushaltskassen erschließen sich der Politik auf diese Weise neue Lösungswege und erweiterte Gestaltungsspielräume.

Dies gilt nicht nur für die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Auch die Leistungsfähigkeit des Bildungssektors kann in einer ersten Phase ohne besondere Beanspruchung finanzieller Ressourcen durch Einführung wettbewerblicher Regulative überall dort, wo dies in Anpassung an internationale Standards sinnvoll erscheint, verbessert werden. Gerade in Bildung und Forschung bestehen gute Voraussetzungen, mit ordnungspolitischen Impulsen Verbesserungen der Lage herbeizuführen, zumal das deutsche Bildungssystem bei allem Reformbedarf im Ganzen in Kernbereichen besser ist als sein Ruf. Das gilt für die duale Berufsausbildung und für die engmaschige und vielfältig gegliederte Hochschullandschaft. Auch die naturwissenschaftliche Forschung mit entsprechendem Niederschlag in Patentanmeldungen, das Ingenieurwesen und die Facharbeiterausbildung befinden sich im internationalen Vergleich noch immer auf hohem Niveau. Empfindliche Defizite bestehen demgegenüber beim Ausbau des dritten Bildungssektors der Beruflichen Weiterbildung zu einem modernen Dienstleistungsbereich. Diese Dimensionserweiterung der bildungspolitischen Strategie birgt mehr Chancen für Wachstum und Beschäftigung, als es im politischen Raum, vor allem in beiden Volksparteien bisher wahrgenommen wird.

Gesundheit muss nicht teuer sein

Eine durchgreifende Reform der Sozialsysteme zu betreiben mag angesichts der bisherigen Erfolglosigkeit ähnlich aussichtslos erscheinen, wie die Quadratur des Kreises herbeiführen zu wollen. Geht es doch darum, die Versorgung mit sozialen Gütern zu verbessern und zugleich die dabei entstehenden Kosten zu senken. Über allem steht die Forderung, der auswuchernden Sozialbürokratie mit einer Schlankheitskur zu begegnen, um dem Reformstau auch auf diesem Wege beizukommen. Unter den die Lebensrisiken Krankheit, Alter, Pflege und Arbeitslosigkeit absichernden Sozialsystemen gehört die Krankenversicherung zu den kostenträchtigsten. Sie wird im Unterschied zu den übrigen Sozialversicherungen während der gesamten Dauer des menschlichen Lebenszyklus in Anspruch genommen.

Das traditionelle Verfahren, das Aufbringen der Krankenversicherungsbeiträge mit dem Beschäftigungsverhältnis zu verknüpfen und die Arbeitgeber zur Hälfte zu beteiligen, hat sich zusammen mit den Belastungen aus Renten- und Arbeitslosenversicherungsbeiträgen als Hauptursache der strukturellen Arbeitslosigkeit erwiesen. Der klassische Seufzer eines deutschen Handwerksmeisters am Beginn des 21. Jahrhunderts „Unser Problem ist, dass selbst ich mir mich nicht leisten kann“ erhellt die Absurdität der Lage, in die wir uns hineinmanövriert haben. Trotzdem bleiben die Versuche umkämpft, in diesem Kreuzungsbereich sozialer Sicherung und volkswirtschaftlicher Produktivität einen Entlastungsschnitt anzusetzen. Da aber das Ziel, mit einer Reform der Sozialsysteme zu mehr Wachstum und Beschäftigung zu kommen, ohne eine deutliche Absenkung der Lohnnebenkosten nicht erreichbar erscheint und die beiden anderen großen Sozialversicherungen wegen ihrer wirtschaftlichen Grundsicherungsfunktion hierfür keinen Spielraum bieten, bleibt kaum eine andere Wahl, als dies über eine Abkoppelung der Krankenversicherungsbeiträge von den Arbeitskosten zu erreichen.

Dieser Ansatz bietet sich schon darum an, weil eine Finanzierungsreform auch aus Gründen einer Neuordnung des gesamten Gesundheitswesens längst überfällig ist.

Die Kostenträchtigkeit des Gesundheitswesens ist zwar auch, aber nicht in erster Linie auf teure medizinische Behandlungen, Geräte und Medikamente zurückzuführen. Es ist vor allem die Unwirtschaftlichkeit der zentralverwalteten Gesundheitsbürokratie, die Milliardenbeträge des Beitragsaufkommens der Versicherten außerhalb des medizinischen Versorgungsbereichs versickern lässt. Da der Staatshaushalt als Lückenbüßer für die daraus folgenden Lasten nicht länger in Anspruch genommen werden kann, muss das Heil in einem Systemwechsel gesucht werden, der über Effizienzgewinne einer Neuorganisation den Kostenausgleich herbeiführt.

Es gibt keine andere Wahl: Der gordische Knoten ist nur durch Übergang auf eine sozial-marktorientierte Gesundheitsökonomie zu lösen. Wann wachen die Politiker auf und nehmen wahr, dass der medizinische Versorgungssektor als einziger der tragenden Leistungsbereiche unserer Gesellschaft bisher dazu verurteilt ist, in einem DDR-gleichen Plansystem dahinzuvegetieren, während alle übrigen Grundbedarfsbereiche für die Versorgung mit Nahrung, Kleidung, Wohnen, Mobilität und Kommunikation wie selbstverständlich marktwirtschaftlich organisiert sind? In allen übrigen Leistungsbereichen unserer modernen Wirtschaftsgesellschaft werden die hohen Kosten des technischen Fortschritts und die steigenden Qualitätsansprüche der Verbraucher mit Hilfe der Marktkräfte in auskömmliche Preise überführt. Und das soll ausgerechnet im von Hochtechnologie nur so strotzenden Gesundheitssektor nicht möglich sein?

Es ist möglich, wenn wir das Tabu beseitigen, das im Glauben an die Omnipotenz der gesetzlichen Kassen besteht. Erst mit Neuregelung der gesetzlichen Krankenversicherung, die aus ihrer ursprünglich dienenden Rolle für Ärzte und Patienten längst in die des diktatorischen Herrschers des Gesundheitsregimes gewechselt ist, wird der Weg zur Lösung des Problems freigemacht. Nur durch Einzug von Wettbewerb im Kassenwesen kann das Kartell aus gesetzlicher Krankenversicherung und parteiübergreifendem Gesundheitssozialismus aufgebrochen werden, dessen Herrschaftsanspruch im Verteilen der angeblichen Mangelware Gesundheit und im Kujonieren der Ärzte und ihrer Mitarbeiter besteht. Mit Marktkräften statt mit Planungsgewalt, mit Wahlmöglichkeiten, Leistungsanreizen und Einbau wettbewerblicher Regulative wo immer möglich sind die unbestritten steigenden Kosten im Zaum zu halten und der notwendige Sozialausgleich, wie überall, wo der soziale Markt regiert, zu schaffen.

Wenn dies in allen drei Teilsektoren des Gesundheitswesens, bei den Kassen, in der medizinischen Versorgung und im Arzneimittelhandel mit gleicher Zielrichtung geschieht, wird neben den Kostensenkungen für die Wirtschaft vor allem die wirtschaftliche Stellung der Ärzte und ihrer unterbezahlten und überbeanspruchten Helfer wieder auf Normalmaß gebracht und schließlich auch der Versicherte aus der Summe der Be- und Entlastungen aus Gesundheits- und Sozialreform Gewinn ziehen.

Steuerreform soll Eigenverantwortung stärken

Auch die bisher nur zaghaft in Stellung gebrachte Steuerreform sollte auf Systemöffnung und Erweiterung ordnungspolitischer Spielräume angelegt sein. Zumal Wachstumsschwäche, Unterbeschäftigung und steigende Soziallasten zum Treibriemen einer galoppierenden Staatsverschuldung geworden sind, die Gefahr läuft, den Generationenvertrag außer Kraft zu setzten. Daher geht es bei den Postulaten der Vereinfachung des Steuerrechts und der Senkung der Steuersätze neben genereller Entlastung vor allem um die Freisetzung jener eigenwirtschaftlichen Kräfte, die bei zu hoher Besteuerung nicht zur Entfaltung kommen können.

Bei der Vermittlung der Reformziele sind es sowohl die bisherigen Bundesregierungen als auch beide Volksparteien schuldig geblieben, die Politik der Steuerentlastung in einen kausalen Zusammenhang mit der existenziell notwendigen Verbesserung der Kapitalausstattung mittelständischer Unternehmen sowie der Privathaushalte zu stellen. Wo Einkommensteuern zu hoch sind, wird die private Kapitalbildung für eigenverantwortliche Lebensgestaltung behindert. Wo Unternehmensgewinne über Gebühr weggesteuert werden, wird die Investitionskraft geschwächt und es verschwinden auch die Arbeitsplätze.

Ein weiteres Ziel der Steuerreform sollte auf Neuverteilung der Lasten zwischen den Generationen gerichtet sein. Indem die aktive Erwerbsgeneration ausreichend entlastet wird, erhält sie die Chance, ihre Lebensrisiken soweit wie möglich aus eigener Kraft beherrschbar zu machen. Was bisher im Umlageverfahren über die Rentenkassen beziehungsweise im Rückgriff auf Vater Staat reguliert wurde und wegen der demographischen Verwerfungen nicht mehr funktionieren kann, soll zukünftig ergänzend aus den Erträgen frühzeitig angesparten Kapitals bewältigt werden. Auf diese Weise wird statt Staatsschuldvermehrung zur Finanzierung einer ausufernden staatlichen Bürokratie die tendenzielle Umschichtung der öffentlichen Haushalte von konsumtiven Ausgaben zu zukunftssichernden Investitionen ermöglicht. So fördert ein auf Kapitalbildung in Unternehmen wie in Privathaushalten orientiertes Steuersystem nicht nur die Steuerkraft von Wirtschaft und Bürgern, es kurbelt zugleich die Arbeitsplätze schaffenden Investitionen an und dient mittels privater Vermögensbildung der nachhaltigen Alterssicherung. Dabei stehen die Ziele der Steuerreform, über die Rückführung von Steuerlast und Staatsquote wieder zu mehr Wachstum und Beschäftigung zu kommen, wie zwei kommunizierende Röhren zueinander: je nachhaltiger dem Substanzverzehr Einhalt geboten wird, desto kräftiger kommt dies dem Substanzaufbau zugute.

Kein Mangel an Arbeit im Niedriglohnsektor

Die größten Chancen der Krisenbewältigung bieten sich der „Reformpolitik des sozialen Marktes“ im Kampf gegen die Unterbeschäftigung. Hier kann bereits die differenzierte Behandlung der von Arbeitslosigkeit betroffenen Gruppen ein entscheidender Lösungsansatz sein. Es gibt nicht die Arbeitslosigkeit schlechthin, sondern vier Arten von Unterbeschäftigung, die mit unterschiedlichen Reformansätzen anzugehen sind: Jugend-, Vorruhestands-, Facharbeiter- und Akademikerarbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung im Niedriglohnsektor.

So bildet für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse die Zulassung von Mehrfachbeschäftigung die arbeitsmarktpolitische Brücke zur Lösung eines Kernbereichs der Massenarbeitslosigkeit. Das Entlohnungs- und Beschäftigungsmodell des multiplen Dienstleistungsschecks generiert im Problembereich der Niedriglohnarbeit Vollzeittätigkeit bei Zulassung mehrfacher Beschäftigungsverhältnisse in Teilzeitjobs, die unter diesen Umständen in Privathaushalten, im Kleingewerbe, in Kommunen und in gemeinnützigen Einrichtungen in nahezu unbegrenztem Umfang verfügbar sind.

Indirekt setzt der Dienstleistungsscheck eine Mindestlohnregelung in Kraft, deren ordnungspolitische Unverfänglichkeit in der formlosen Übereinkunft von Arbeitgeber und Arbeitnehmer besteht, dass für die Zahlung eines 400-Euro-Monatsschecks in etwa eine 12-Stunden-Wochenleistung erwartet wird, wobei individuelle Abweichungen von dieser Norm in gegenseitigem Einvernehmen zu vereinbaren sind. Für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse kommt der Schecklohn „brutto gleich netto“ zur Auszahlung, da Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträge von Dritten gesponsert werden. Die pauschale Lohnsteuer von 15 Prozent übernimmt (als einzige Lohnnebenlast bei dieser Beschäftigungsart) der Arbeitgeber. Die Sozialversicherungsbeiträge werden von nichtbedürftigen Schecklohn-Beziehern bezuschusst, die bereits anspruchsberechtigt für Sozialversicherungsleistungen sind und die diese Einkommensart als Zuerwerbsquelle nutzen. Auf diese Weise werden den Staatshaushalt belastende und wettbewerbspolitisch fragwürdige Kombilohn–Modelle umgangen.

Die mit dem multiplen Dienstleistungsscheck ermöglichte Initialzündung für Massenbeschäftigung und Massenkaufkraft im Niedriglohnbereich, die mit erheblicher Entlastung von Sozialkassen und Staatshaushalt und nicht zuletzt mit Rückgewinnung von Selbstwertgefühl für Millionen betroffener Mitbürger verbunden ist, sollte es lohnend erscheinen lassen, bei einem bisher unlösbar erscheinenden Problem einen unkonventionellen Versuch zu wagen.

Dauerbeschäftigung durch Berufliche Weiterbildungsversicherung

Für arbeitslose Fachkräfte gilt es, das Ziel statt in sozialer Abfederung der Ausschließung aus dem Erwerbsleben in der Unterstützung der Betroffenen zu sehen, in dauerhafte Beschäftigung, wenn auch gegebenenfalls in wechselnden Arbeitsverhältnissen, eingebunden zu bleiben. Der neue Strategie-Ansatz besteht darin, die Nicht-Unterbrechbarkeit von Erwerbsarbeit mit Hilfe der Beruflichen Weiterbildung zu organisieren. Dabei geht es um eine Verwebung von Beschäftigung mit beruflicher Weiterbildung, die angesichts der Anforderungen an Fachberufe im Zuge zunehmender High-Tech-Ausstattung der Arbeitsplätze auf Dauer ohnehin unumgänglich wird. Die Idee beruht darauf, die Zwischenphase nach dem Ausscheiden aus einem Arbeitsverhältnis als bezahlte Berufstrainingsrunde zur Vorbereitung auf die nächste Beschäftigung zu nutzen und auf diese Weise durchgängige Beschäftigungsbiographien zu schaffen. Im Rahmen bestehender Beschäftigungsverhältnisse erfolgt die Bezahlung der Tätigkeit "Weiterbildung" über tarifvertragliche Vereinbarungen, in die Arbeitgeber bezahlte anteilige Arbeitszeit und Arbeitnehmer freiwillige Zusatzzeiten für Weiterbildungskurse (Berufsstudienzeiten) einbringen. Für jeden Arbeitnehmer sollen mit dieser Weiterbildungsinitiative beginnend mit dem Einstieg in das Erwerbsleben im Laufe der ersten Berufsjahre bis zu fünf Prozent arbeitszeitanteilige Berufsstudienzeiten aufgebaut werden. Sie sollen das gesamte Erwerbsleben des Arbeitnehmers den jeweiligen betrieblichen Erfordernissen angepasst begleiten.

Bei Unterbrechung von Beschäftigungsverhältnissen durch betriebsbedingte oder Eigenkündigung erfolgt ein nahtloser Übergang in außerbetriebliche berufliche Bildungsarbeit, die im wesentlichen über die Berufliche Weiterbildungsversicherung finanziert wird. Sie tritt an die Stelle der heutigen Arbeitslosenversicherung. Ergänzende Finanzierungsbeiträge können im Wege steuerlicher Bildungsförderung und/oder Berufsstudiendarlehen aufgebracht werden. Die Umwidmung der Arbeitslosenversicherung in eine Berufliche Weiterbildungsversicherung ist der wichtigste Baustein des integrativen Reformansatzes zur Bekämpfung von Facharbeitslosigkeit.

EU-Tarifvertrag für Facharbeiter

Die bildungsorientierte Beschäftigungsstrategie bedarf der Einbindung in eine Tarifrechtsreform, die auf Öffnung und Flexibilisierung bisher blockierter Arbeitsmärkte gerichtet ist. Ohne eine grundlegende Reform des Arbeits- und Tarifrechts werden alle Bemühungen, die Unterbeschäftigung auch im Bereich der Facharbeit auf ein erträgliches Maß zu reduzieren, wie bisher ins Leere laufen. Die hilfsweise Lockerung des flächengebundenen Tarifrechts macht wenig Sinn, wenn dieses industriewirtschaftlich begründete Ordnungsmodell am Regulierungsbedarf der Arbeitsverhältnisse in der heute überwiegend kleinteilig organisierten und wissensbasierten Dienstleistungsökonomie vorbeigeht. Den Tarifparteien öffnet sich angesichts dieser Lage die Chance, die Initiative für eine Europäisierung des Tarifvertragsrechts zu ergreifen. Dabei sollte das Konzept eines EU-Tarifvertrags von der Idee der Liberalisierung des Arbeitsrechts in Anlehnung an das Modell der deutschen Währungsreform nach dem Krieg getragen sein. Auch heute geht es auf den Arbeitsmarkt bezogen um Beendigung der Bewirtschaftung eines Angebots, das am Markt ausreichend verfügbar ist, sobald es von den Fesseln der Mangelwirtschaft befreit wird.

Das ordnungspolitische Konzept, wettbewerbliche Regulative für Löhne und Arbeitszeiten im makroökonomischen Rahmen festzulegen, machte in einer geschlossenen Volkswirtschaft Sinn. Unter den Bedingungen der Europäisierung und Globalisierung der Märkte greift es nicht mehr. Dieser überholte Ansatz wirkt unter den gegebenen Verhältnissen eher kontraproduktiv, weil die international durchschlagenden Wettbewerbskräfte eine starke Sogwirkung auf Verlagerung der Arbeitsplätze auslösen: ins Ausland und in die Schattenwirtschaft. Eine Aufhebung der Flächentarife für Entgelt und Arbeitszeit ist daher ebenso geboten, wie den Kündigungsschutz durch zeitgemäße Formen der Sicherung von Arbeitnehmerrechten zu ersetzen. Statt großräumiger, branchenweiter und auf Dauer angelegter Regulierungen sind dezentrale und marktlagenabhängige Lösungen anzustreben. Für die Lohnpolitik erfordert Beschäftigungssicherung auf die Bedingungen der Globalisierung zugeschnittene Entgeltregeln in Kombination mit Zulassung von Mehrfachbeschäftigung auch bei qualifizierten Berufen.

Neue Tarifziele: Berufliche Weiterbildung und kapitalgedeckte Alterssicherung

Im Gefolge einer Neuausrichtung der Arbeitsmärkte rücken anstelle des traditionellen Regelungsbedarfs für Stundenlohn und tägliche Arbeitszeit arbeitsmarktpolitische Kriterien anderer Art in den tarifvertraglichen Fokus. In den Anstellungsverträgen für qualifizierte Berufe werden zukünftig Regelungen für zwei bisher vernachlässigte Leistungsbereiche eine zentrale Rolle spielen müssen. Außer tariflichen Flankenschutz für berufliche Weiterbildung geht es um eine nachhaltige Alterssicherung durch Aufbau von Bürgerkampital. Der steuerlich geförderte Aufbau einer zweiten Säule kapitalgedeckter Ruhestandseinkünfte, wie er mit der „Riester-Rente“ bisher nur unzureichend eingeleitet wurde, soll im Wege der Einführung einer obligatorischen Investivlohnregelung zur vollen Wirksamkeit gebracht werden.

Es handelt sich um einen staatlich geförderten Einstieg in den Aufbau von Privatkapital in Arbeitnehmerhand. Bürgerkapital soll mit seinen Erträgen zukünftig der sozialen Absicherung sowohl in arbeitslosen Phasen w&auuml;hrend des Erwerbslebens als auch, egänzend zur Rente, in der Nacherwerbsphase dienen. Der Aufbau von Bürgerkapital soll aus drei Quellen gespeist werden: aus Lohnzuwachsanteilen im Rahmen tarifvertraglicher Investivlohnregelungen, aus einkommensabhängigen staatlichen Sparförderprämien sowie aus freiwilliger Aufstockung des Eigenbeitrags zur Vermögensbildung.

Mit dem Projekt der Einrichtung von Ausbildungswerkstätten für Praktische Berufe (AfP) soll im Rahmen einer ergänzenden Berufsvorbereitung für Hauptschüler ohne Schulabschluss die Jugendarbeitslosigkeit in einem besonders kritischen Bereich bekämpft werden. Mit dieser bisher fehlenden Ausbildungsbrücke sollen für jene Jugendlichen, die mit Ablauf herkömmlicher Berufsschulpflicht keine Ausbildungsverträge in Wirtschaft oder Handwerk erhalten, die Chancen auf Beschäftigung in der Einstiegsphase in das Berufsleben verbessert werden. Die Zeitansage des neuen Reformansatzes „Sozial ist, was Arbeit schafft“ findet in dieser Arbeitsmarkt-, Sozial- und Bildungspolitik verknüpfenden Initiative exemplarischen Ausdruck.